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Mit Erich Ohser in Paris

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Vorwort für eine Mappe, 1963

In dieser Mappe hat es mir ein Blatt besonders angetan. Ein Blatt, worauf es vielerlei zu sehen gibt: ein Liebespaar aus dem Quartier Latin, eine Steinvase aus dem 18. Jahrhundert, eine Gouvernante, zwei gesattelte Esel, drei leere Klappstühle, die Wedel einer Fächerpalme, ein paar Vögel auf dem Kiesweg, ein Segelschiffchen im Wasserbecken, einen Jungen am Beckenrand und ein Mädchen, das eine Zeitung schützend über sich hält, weil die Sonne brennt. Man spürt, wie heiß es ist. Man sieht, wie träge sie sind, alle miteinander, die Menschen, die Luft, die Esel und sogar die drei Klappstühle. Sie begönnen zu schwitzen, wenn man sich draufsetzte.

Meine Vorliebe, mein Faible für dieses Blatt hat nichts mit Urteil und Kunstgeschmack zu tun, sondern einzig damit, dass ich, als die Zeichnung entstand, danebensaß. Erich Ohser zeichnete, und Erich Kästner schaute zu. Es war im Jardin du Luxembourg. Im Sommer 1928. Vor nunmehr vierunddreißig Jahren.

Sommer 1928 … Ein Jahr zuvor hatte es uns beide aus Leipzig nach Berlin verschlagen. Damit waren wir, ohne es zu wollen oder auch nur zu ahnen, in die schönste Zeit unseres Lebens hineingestolpert. Und nun trieben wir uns also, mit wenig Geld und großen Augen, für ein paar Wochen in Paris herum. Was kostete die Welt? Sie schien nicht billig zu sein. Aber wir wollten sie ja gar nicht kaufen, sondern nur betrachten! Das allerdings besorgten wir gründlich.

Wir wohnten in einem billigen, kleinen Hotel am Bahnhof St-Lazare, in der Rue d’Edinbourgh. Hier waren die harten Salami- und Cervelatwürste deponiert, die wir aus Berlin mitgeschleppt hatten und über die wir während der knappen Marschpausen hungrig herfielen. Wir lebten wie die Wanderburschen, und wir waren ja auch welche! Von morgens bis in die Nacht trabten wir kreuz und quer durch die wundervolle Stadt, über die Boulevards zum Bois, von der Place du Tertre zum Café du Dôme und zur Coupole, von der Madeleine zur Place de la Bastille, von den Markthallen zu den Bouquinisten, und kein Winkel konnte sich vor uns verstecken.

Wir fanden ja nicht nur die Sehenswürdigkeiten sehenswürdig, nicht nur die Isle und den Louvre, nicht nur Trianon und Fontainebleau! Es war keine Kavaliersreise, und Paris war nicht nur ein aus Museen bestehendes Museum! Ein pittoresker Schornstein, eine hinfällige Gaslaterne, ein Harfenspieler und ein Rummelplatz waren uns nicht weniger recht.

Unsere Neugier war ein Verlangen wie Hunger und Durst und kaum zu stillen. Sie wurde nicht müde. Schon gar nicht zur Schlafenszeit, wenn der Nachthimmel über Paris rot wurde. Nein, wir gingen nicht mit den Hühnern zu Bett. (Auch nicht mit den französischen, die man »poules« nennt.) Wir hielten auch nachts die Augen offen.

Wir saßen im »Moulin de la Galette« und schauten der kleinbürgerlichen Großstadtjugend zu, wie sie zur Blasmusik Walzer und Twostep tanzte, oft genug die Mauerblümchen miteinander und auch die jungen Burschen paarweise. Wir hockten im weltberühmten »Lido« an der Bar, zählten heimlich unser Geld und freuten uns über das freche und snobistische Durcheinander, hier der Swimmingpool mit Badenixen und Gummitieren, dort die Maharadschas und Fracks und Pariser Modellkleider beim nächtlichen Champagnerfrühstück.

Ein andermal gerieten wir, in irgendeiner dunklen Seitenstraße, unversehens in ein Lokal mit splitterfasernackter Damenbedienung. Es handelte sich um etwa zwei Dutzend ziemlich hübscher Mädchen in allen Haut- und Haarfarben […], und alle bemühten sich aufs Ungezwungenste um ihre Gäste. Es war eine weibliche Völkerschau auf vollen Touren. Wir kamen uns vor wie in einer Hafenkneipe von Hongkong oder Port Said, und in unserer Runde fehlte eigentlich nur noch ein dritter Sachse, der Vollmatrose Ringelnatz, mit einem Glase Wein und einem hanebüchenen Kuddeldaddeldu-Gesicht.

Die gleiche Nacht hatte ein weiteres »sündhaftes« Abenteuer in petto. Auf dem Rückmarsch ins Hotel überredete uns, an der Place de la Concorde, ein radebrechender Levantiner, eine Fotoserie zu erwerben. Er tat sehr verrucht und geheimnisvoll. Und er hatte wohl auch recht damit. Denn das Sammelwerk hieß »Les vingtquatre positions«! Das Geschäft kam zustande. Der Mann verschwand im Dunkeln. Ohser trat unter einen Kandelaber, um, bei dessen Schimmer, so schnell wie möglich unvermutete Bildungslücken zu beseitigen, betrachtete die Fotos und brach in schallendes Gelächter aus. Der Levantiner hatte uns vierundzwanzig Posen und Phasen eines Ringkampfes zweier dicker Männer vom Rummelplatz angedreht!

Das war, wie gesagt, im Jahre 1928. Seitdem ist, weiß der Himmel, viel geschehen. Aber Erich Ohsers jungenhaftes Lachen, das klingt mir noch heute im Ohr. Und nicht nur jenes Lachen unterm Kandelaber in Paris …

Freundschaft auf den ersten Blick

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