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Das fünfte Kapitel

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Ein Schaufensterbummel und eine Schaufensterpuppe / Der Verkäufer fällt in Ohnmacht / Ein Herrengeschäft ist schließlich kein Krankenhaus / Der Unterschied zwischen Staatsmann und Milchmann.


An einem heißen Tag im Juli schlenderten die beiden gemächlich durch den Berliner Westen und betrachteten die Schaufenster. Eigentlich schlenderte ja der Professor ganz allein. Mäxchen schlenderte nicht, sondern stand in des Professors äußerster Brusttasche. Er hatte die Arme auf den Taschenrand gelehnt, als sei die Tasche ein Balkon, und interessierte sich besonders für die Spielzeugläden, Delikatessengeschäfte und Buchhandlungen. Aber es ging nicht immer nach seinem Kopf. Dem Professor gefielen auch Auslagen mit Schuhen, Hemden, Krawatten, Zigarren, Schirmen, Weinflaschen und allem Möglichen.

»Bleib doch nicht so lange vor der Drogerie stehen«, bat der Junge. »Wir wollen weitergehen!«

»Wir?«, fragte der Jokus. »Wieso wir? Meines Wissens geht nur einer von uns beiden, und das bin ich. Du gehst? Keine Spur, mein Goldkind. Du gehst nicht. Du wirst gegangen. Ich habe dich völlig in der Hand.«

»Nein«, sagte der Kleine. »Aber du hast mich in der Tasche!«

Darüber mussten sie lachen.

Und die Leute drehten sich um. Ein dicker Berliner stieß seine Frau an und murmelte: »Das ist ja komisch, Rieke! Der Mann lacht zweistimmig!«

»Nun lass ihm schon seinen Spaß!«, gab Rieke zur Antwort. »Vielleicht ist er Bauchredner.«

Vor einem Schaufenster mit Herrenbekleidung blieb der Professor wieder ziemlich lange stehen. Er betrachtete die Schaufensterpuppen mit den hübschen Anzügen, ging ein paar Schritte weiter, kehrte um, musterte die Dekoration von neuem, versank in Nachdenken, nickte dreimal sehr heftig und sagte laut zu sich selber: »Das ist gar keine dumme Idee!«

»Was ist gar keine dumme Idee?«, fragte Mäxchen neugierig.

Doch der Professor antwortete nicht, sondern betrat spornstreichs das Geschäft und erklärte dem geschniegelten Verkäufer, ehe der den Mund aufmachen konnte: »Ich möchte den marineblauen Anzug aus dem Fenster haben. Den Einreiher für 295 Mark.«

»Gern, mein Herr. Aber ich glaube nicht, dass er Ihnen passen wird.«

»Das verlange ich auch gar nicht von dem Anzug«, knurrte der Professor.

»Vielleicht sind einige Änderungen nötig«, meinte der Verkäufer höflich. »Ich werde den Schneider aus dem Atelier herunterkommen lassen.«

»Er soll ruhig oben bleiben.«

»Es geht ganz geschwind, mein Herr.«

»Wenn er nicht kommt, geht es noch geschwinder.«

»Aber unsere Firma legt größten Wert darauf, dass die Kunden zufriedengestellt werden«, bemerkte der Verkäufer leicht verstimmt.

»Das ist lobenswert«, sagte der Professor. »Doch ich will Ihren marineblauen Einreiher ja gar nicht anziehen! Ich will ihn doch nur kaufen!«

»In diesem Falle wäre zu empfehlen, dass sich der betreffende Herr zu uns bemühte, für den der Anzug gedacht ist«, schlug der Angestellte vor. »Oder Sie geben uns die Adresse an und wir schicken einen unsrer Schneider hin. Das kann noch heute Nachmittag geschehen.« Er zückte den Notizblock, um die Adresse aufzuschreiben.

Der Professor schüttelte energisch den Kopf. »Ihr blauer einreihiger Anzug draußen in der Auslage ist weder für mich noch für irgendeinen anderen lebendigen Menschen bestimmt.«

Der Verkäufer wurde blass und trat einen Schritt zurück. Dann stöhnte er: »Für keinen Lebendigen, mein Herr? Also für einen – Toten? Oh!« Er holte tief Luft und fuhr fort: »Welche Größe hat, bitte, der Verstorbene? Auch ihm müsste ja der Anzug einigermaßen passen! Sonst könnten wir einen unserer Schneider …«

»Unsinn!«, sagte der Professor grob. Dann besänftigte er sich wieder. »Sie wissen natürlich nicht, worum sich’s handelt.«

»Es scheint so«, gestand der völlig verängstigte Verkäufer. Er hielt sich am Ladentisch fest, weil ihm die Knie zitterten. Der arme Kerl wackelte wie Pudding.

»Die Hauptsache ist, dass der Anzug Ihrer Schaufensterpuppe passt. Das tut er doch?«

»Selbstverständlich, mein Herr.«

»Ich will nämlich den Anzug samt der Puppe kaufen«, erklärte der Professor. »Ohne die Puppe, die den Einreiher anhat, interessiert mich auch der Anzug nicht.«

Ehe sich der Angestellte ein wenig erholen konnte, fragte eine Stimme, die er vorher noch gar nicht gehört hatte: »Wozu brauchst du denn die große Puppe mit dem blonden Schnurrbart?«

Der Verkäufer starrte entgeistert auf die Brusttasche des seltsamen Kunden. Mäxchen nickte dem Manne freundlich zu und sagte: »Erschrecken Sie bitte nicht!«

»Doch!«, wimmerte der Verkäufer. »Erst ein Anzug für einen Toten samt der Puppe im Fenster und nun noch ein Heinzelmännchen im Jackett – das ist zu viel!« Er verdrehte die Augen und sank auf den Teppich.

»Ist er tot?«, fragte der Junge.

»Nein, er ist nur ohnmächtig«, antwortete der Jokus und winkte dem Geschäftsführer.

»Und wozu brauchen wir die Schaufensterpuppe wirklich?«, fragte der Kleine.

»Das erzähle ich dir später«, sagte der Jokus.

Nachdem der Geschäftsführer herbeigeeilt war und seinen Verkäufer auf einen Stuhl gehoben hatte, damit er dort wieder zu sich käme, trug der Professor erneut seine Wünsche vor. »Ich möchte den marineblauen Einreiher samt der Puppe kaufen, die ihn trägt. Außerdem auch das Hemd, das sie anhat, die Krawatte, die Hosenträger, die Schuhe und die Socken. Was kostet das, bitte?«

Der Geschäftsführer antwortete unsicher: »Das weiß ich nicht genau, mein Herr.«

Der Verkäufer bewegte die blassen Lippen und stammelte: »512 Mark. Bei Barzahlung ein Prozent Skonto. Verbleiben 506 Mark, 88 Pfennige.« Man sieht, es war ein tüchtiger Verkäufer. Dann rutschte er vom Stuhl.


»Er ist wieder in Ohnmacht gefallen«, stellte Mäxchen sachlich fest.

Als der Geschäftsführer die neue Stimme hörte und den kleinen Jungen in dem großen Jackett sah, kriegte er Stielaugen und klammerte sich verzweifelt an der Stuhllehne fest.

»Fällt dieser Herr jetzt auch in Ohnmacht?«, fragte Mäxchen erwartungsvoll.

»Hoffentlich nicht!«, meinte der Professor. »Ein Herrenbekleidungsgeschäft ist ja schließlich kein Krankenhaus!«

Nun, der Geschäftsführer und der Verkäufer erholten sich wieder. Der Kauf kam zustande. Man bestellte ein Taxi. Das Autodach wurde eingerollt, und die Schaufensterpuppe stand, vom Professor gehalten, aufrecht im Wagen.

»Der Bursche sieht aus wie ein ausländischer Staatsmann zu Besuch!«, rief ein Berliner, als das Taxi vorüberfuhr.

»Das kann kein Staatsmann sein«, meinte ein andrer.

»Wieso eigentlich nicht?«, fragte der Erste. »Wer steht denn sonst in Autos rum, als ob’s keine Sitzplätze gäbe?«

»Das ist bestimmt kein Staatsmann«, wiederholte der andere hartnäckig. »Er lächelt nicht und er winkt uns nicht einmal zu. Das müsste er aber tun, wenn er ein Staatsmann wäre. Man muss deutlich merken, wie kolossal er sich freut, dass er in Berlin ist und sich nicht setzen darf. Sonst ist es kein Staatsmann.«


Das Auto hielt an der Kreuzung und die zwei Berliner fielen in Trab. Aber bevor sie hinkamen, wurde die Ampel grün, und sie hatten das Nachsehen.

»Außerdem fährt kein Staatsmann in einem gewöhnlichen Taxi«, meinte der eine Mann. »Weder im Sitzen noch im Stehen.«

»Ich bin auch noch nie im Taxi gefahren«, sagte der andere.

»Nanu, Herr Nachbar! Sie sind doch nicht etwa ein Staatsmann?«

»Nein. Ich bin Milchmann.«


Der kleine Mann

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