Читать книгу Da draußen im Wald - Ernest Zederbauer - Страница 6

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Als flache Sonnenstrahlen durch den Vorhang sickerten und fingergleich über die Bettdecke strichen, stand sie auf. Rasch zog sie sich an, nahm den Hund an die Leine und ging in den Wald hinaus. Sie liebte den Wald ebenso wie ihr Mann. Doch auch hier wurde ihr der Gegensatz zwischen ihnen schmerzlich bewusst. Für ihn war der Wald eine Arbeitsstätte, die er zu verwalten, zu hegen und zu pflegen hatte. In der es um die Holzwirtschaft ging, um Schlägerung und Aufforstung, um Windbruch und Käferbäume, um die Anlage von Fahrwegen und die Lagerung sowie den Abtransport der Stämme. Dafür war er verantwortlich, seinem Arbeitgeber, der Herrschaft, Rechenschaft schuldig. Die Hege des Wildbestandes gehörte natürlich ebenfalls zu seinen Aufgaben, er hatte dafür zu sorgen, dass sich dieser in Grenzen hielt, um den Bäumen so wenig wie möglich Schaden zuzufügen.

Für sie war der Wald Ausdruck ihrer Spiritualität, die auf der Verehrung der Natur und ihrem Verständnis dafür, in Einklang mit ihren Zyklen und Bedürfnissen zu leben, beruhte. Für sie war ein Baum ein lebendes Wesen, Teil einer allumfassenden Harmonie und nichts, das man in Festmetern, Gewinn oder Verlust berechnete. Sie sah in der Natur einen wesentlichen Bestandteil ihrer Seelenebene, die sie mit all ihren Sinnen wahrnahm. Schon als Kind verweilte sie viele Stunden mutterseelenallein im Wald, vernahm das Raunen der Äste im Wind, das leise Gluckern eines Wasserlaufes, erfreute sich an all den Licht- und Schattenspielen im Unterholz. Jede kleine Tannennadel, jeder dahinkrabbelnde Käfer war ein guter Freund. Die allumfassende Harmonie der Natur mit ihren ureigenen Regeln, Rhythmen und Gesetzen faszinierte sie ungemein. Ihr Vater, der im Dorf als Exzentriker galt, da er bei den ersten Sonnenstrahlen nach langen Wintermonaten bereits barfüßig im Wald herumlief und dabei mit den Bäumen sprach, hatte ihr die sinnliche Erlebbarkeit der Natur nahegebracht und sie geprägt. Er war ihr Mentor, der ihr die Freundschaft, aber auch die Verantwortung für die Natur und die Schöpfung tief ins Herz gepflanzt hatte. Was sie draußen in der freien Natur empfand, ging weit über das Physische hinaus. Eines Tages hatte sie dieses Gefühl, welches sie bei ihren Streifzügen durch den Wald wahrnahm, ihrem Mann erklären wollen, doch er hatte sie nur ausgelacht, sie eine Mystikerin, eine Esoterische genannt. In diesem Moment begriff sie, dass man das Unerklärliche nicht erklären kann.

Ihr Sepp war eben ein verstandesmäßiger Mensch, für den es in der Natur keine romantisch verklärten Wesen gab, weder Zwerge noch Elfen. Ihr aber hatte sich auf wundersame Art der Geist eröffnet, der ihr den Sinn der Natur, die Sprache der Natur offenbarte. Wenn sie auf einer Waldwiese stand, in der frühen Morgensonne auf blühende Wiesenblumen und schwärmende Insekten sah, glasklar den Gesang der Vögel und das Rauschen in Blättern vernahm, dann wurde ihr mit einem Mal die Weisheit der Natur in all ihren Metamorphosen und Eigentümlichkeiten durchsichtig, dem absolut Göttlichen nah.

Doch in diesem Augenblick hatte die Sorge um ihren Sepp all diese Gedanken weggefegt. Immer weitere Kreise zog sie durch den Wald, immer wieder schrie sie seinen Namen laut in den dampfenden Forst hinein. Ließ den Hund von der Leine, immer wieder das Kommando »Such’s Herrl!« gebend. Zwei Stunden Zeitlimit hatte sie sich gesetzt, dann erst wollte sie umkehren und die Polizei verständigen. So sehr sie auch suchte, so wenig fand sie. Keine Spuren, keine Blutspritzer, keine verräterischen Zeichen einer Kampfhandlung. Grässliche Bilder geisterten durch ihr Gehirn. Bilder von einem Wilderer mit schwarz gefärbtem Gesicht und tödlicher Schrotflinte, von Dieben, die Holz verluden, welches nicht ihnen gehörte, von einem stürzenden Baum, der ihren Sepp unter sich begrub. Hastig, von innerer Unruhe zerrissen, stolperte sie durch den Wald. Seltsam, so dachte sie, dass der Hund so ruhig war. Dass er ihre Unruhe, ihre Furcht nicht verstand und gleichmütig neben ihr hertrottete.

Knapp vor sieben Uhr kehrte sie in das Forsthaus zurück, griff mit zitternder Hand nach dem Telefon, wählte die Nummer der Polizei. Der Postenkommandant, ein Schulfreund aus der Volksschulzeit, war selbst am Telefon. »Hallo Roland, ich bin es, die Susi, du musst mir helfen, der Sepp ist nicht nach Hause gekommen. Ich fürchte, dass ihm etwas zugestoßen ist!«

Er spürte die Verzweiflung in ihren Worten und versicherte ihr, in fünfzehn Minuten beim Forsthaus zu sein. Er wollte unnötiges Aufsehen vermeiden, nicht allzu früh die Klatschmaschinerie des Ortes anwerfen. So rasch er konnte, fuhr er zu ihr und nahm die Vermisstenanzeige zu Protokoll.

»So, jetzt erzähl mir in aller Ruhe, was passiert ist. Wann ist er von zu Hause weggegangen?« Sie berichtete ihm stockend, mit Tränen in den Augen. »Er ist gestern nachmittags gegen fünf Uhr noch einmal rausgegangen in den Wald, wollte eine Holzverladung kontrollieren, seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt. Ich hab die ganze Nacht nicht schlafen können und bin dann im ersten Morgenlicht mit dem Hund hinausgegangen, um ihn zu suchen. Doch weder er noch ich haben irgendeinen Hinweis entdeckt!«

»Aber gestern war doch Sonntag, da kommt doch kein Holztransporter«, kam postwendend die Antwort des Polizisten. Sie heulte auf. »Das macht ja die ganze Sache so mysteriös, vor allen Dingen, dass er seinen Hund nicht mitgenommen hat, den hat er doch sonst immer dabei!«

»Hat er sein Gewehr mitgehabt?« »Nein«, entgegnete sie, »auch das ist noch hier!« Sie ging mit ihm zum ordnungsgemäß versperrten Waffenschrank, zeigte ihm, dass alle Waffen an ihrem Platz waren. Kopfschüttelnd und mit den Nerven am Ende ließ sie sich auf der Eckbank nieder und ihren Tränen freien Lauf. »Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, er war doch immer ein Muster an Verlässlichkeit, kannte den Wald und seine Tücken in- und auswendig. Vielleicht liegt er irgendwo da draußen und ich kann ihm nicht helfen!«

Abteilungsinspektor Raffl beruhigte sie. »Ich verspreche dir, alles zu tun, was in meiner Macht steht. Ich werde die Feuerwehr verständigen, um Verstärkung ansuchen und nach Mittag mit einem Suchtrupp den Wald durchkämmen. Vielleicht klärt sich die ganze Angelegenheit zum Guten.« In der Tür noch drehte er sich um. »Hat er denn sein Handy nicht mit?«

»Er muss es mithaben, denn ich habe es im Haus nirgendwo gefunden, vielleicht ist der Akku leer, vielleicht hat er es auch verloren. Ich hab ihn die ganze Nacht hindurch immer wieder angerufen und kein Signal empfangen!«

Kopfschüttelnd fuhr Raffl in das Dorf zurück. Gedankenversunken dachte er an den Oberförster, mit dem er im Winter ab und zu in die Herrensauna ging. Was konnte da nur passiert sein? Der Abgängige war unbescholten, ein gestandenes Mannsbild von vierundvierzig Jahren mit eiserner Konstitution, den nichts so leicht erschüttern konnte. Verirrt konnte er sich nicht haben, dazu kannte er den Wald zu gut. Die Gefahr eines Herzinfarkts schloss er im ersten Moment auch aus. Doch was heißt das schon, fragte er sich, man kann auch in jungen Jahren einen Herzinfarkt bekommen oder eine Lungenembolie, gänzlich unvorbereitet. Wenn das aber der Fall wäre, dann war es wahrscheinlich schon zu spät. Denn in solch einem Fall zählt jede Minute und nun waren schon über dreißig Stunden vergangen.

In der nächsten halben Stunde herrschte regsame Betriebsamkeit auf dem Polizeiposten. Raffl telefonierte mit der Herrschaft, dem Bezirkskommando und dem Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr. Binnen einer Stunde stellte er einen Suchtrupp auf die Beine. Um zwei Uhr nachmittags trafen sich an die dreißig Leute beim Forsthaus, auch einige Dorfbewohner waren zur Stelle. Gemeinsam mit dem Feuerwehrkommandanten bildete er drei Postenketten mit je zehn Personen. Bis zum Anbruch der Dunkelheit durchkämmten sie den Wald ohne jeglichen Erfolg. Raffl forderte die Hundestaffel für den nächsten Tag an, man wollte sich am Dienstag um acht Uhr zu einer neuerlichen Suchaktion treffen.

Die ersten vier Stunden verliefen ereignislos. Alles, was man fand, war eine verrostete Kettensäge, die irgendwann ein Holzfäller vergessen hatte, sie war mittlerweile wohl unbrauchbar geworden. Mittags kam die Suchmannschaft beim Forsthaus zusammen. Susanne hatte Leberkäsesemmeln und Bier aus dem Supermarkt geholt. Sessel wurden aufgestellt, jede Möglichkeit zum Niedersetzen ausgenutzt. Als Raffl sich erleichtern musste und ein Stück in den Wald hineinging, wurde er Zeuge eines Dialoges zwischen zwei Feuerwehrmännern. Diese saßen abseits der großen Gruppe auf einem Granitfelsen. Den einen kannte er, einen Eisenbahner in Frühpension, der andere jedoch war ihm fremd.

»Wenn du mich fragst, dann war der Sepp ein richtiges Arschloch. Der hat mich angezeigt, weil ich mir einen kleinen Christbaum aus der Baumschule am Waldrand besorgt hab. Um die Strafe dafür hätte ich zwanzig Christbäume bekommen. Von mir aus kann der Mensch im Wald verrecken, mir tut es nicht leid um ihn!«

»Wenn du so blöd bist und einen Christbaum stiehlst, dann ist dir wirklich nicht zu helfen. Du hast doch selbst ein Stück Wald, warum bist du nicht dort hingegangen?«

»Tu doch nicht so unschuldig«, verteidigte sich der Christbaumdieb, »das ist doch eine jahrhundertealte Tradition, dass man sich den Baum aus einem anderen Wald holt, oder nicht? Hast du das noch nie gemacht?«

Raffl schlich leise zur Gruppe zurück und gab den Befehl zum Aufbruch. Nun sollte der westliche Teil des Hochwaldes durchsucht werden. Ohne viel Aufheben nahm er den Feuerwehrkommandanten zur Seite und wollte von ihm mehr über diesen Mann wissen. »Wie heißt der Kamerad da drüben, der mit der Stoppelglatze?«

»Das ist der Lehner Herbert, ein nicht gerade angenehmer Zeitgenosse. Der ist bekannt für seine Wirtshausraufereien und hat deshalb schon vor Jahren eine bedingte Haftstrafe bekommen. Warum fragst du, ist was los mit ihm?«

»Nein, nein«, entgegnete der Polizeichef, »es ist mir nur ein bisschen komisch vorgekommen, dass er und sein Freund sich so weit von der Gruppe hingesetzt haben!«

Da die Suche auch am zweiten Tag ergebnislos blieb, wurde die Kriminalpolizei eingeschaltet. Zwei Krimineser aus Krems würden am Mittwoch gemeinsam mit der Hundestaffel den Suchtrupp verstärken.

Susannes Eltern waren gekommen, sie wollten und konnten ihre Tochter in ihrem Kummer nicht allein lassen. Bis spät in die Nacht saßen sie in der Bauernstube beisammen und entwarfen immer neue Szenarien, was denn dem Sepp passiert sein könnte. Der Vater, Schuldirektor in Pension, griff zu Papier und Bleistift, fragte seiner Tochter ein Loch in den Bauch. Ob er Feinde hätte, jemals zuvor bedroht worden wäre, ob sich in den letzten Tagen verdächtige Leute rund um das Forsthaus herumgetrieben hätten, Holzdiebe, Wilderer oder am Ende gar illegale Flüchtlinge, die über die nicht allzu weit entfernte grüne Grenze immer wieder einsickerten. Susanne konnte sich an nichts Derartiges erinnern, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihrem Sepp Böses wollte. Freilich wusste sie, dass ab und zu Christbäume gestohlen wurden, auch hatte es vor Jahren einmal Anzeichen von Wilderei gegeben, aber dafür bringt man doch keinen Menschen um und schon gar nicht ihren Sepp, oder? Ihre Nerven waren blank gefegt, ließen sie am ganzen Körper erzittern und öffneten ihre Tränenschleusen. Ihre Mutter nahm sie in die Arme. »Wein doch nicht, es wird ihm schon nichts passiert sein, vielleicht finden ihn die Hunde morgen. Der Papa fährt jetzt wieder nach Hause, aber ich werde bei dir schlafen, damit du etwas Ruhe finden kannst! Vorher aber beten wir noch ein Vaterunser, damit der liebe Gott schützend seine Hand über den Sepp hält, was immer ihm da draußen auch passiert sein möge!« So reichten sich die drei die Hände und suchten Beistand bei dem, der alles wusste, der immer war. Der Vater fuhr ins Dorf zurück, wollte im Gasthaus noch Informationen über etwaige Tratschereien über seinen Schwiegersohn einholen und ließ die beiden Frauen in ihrem Kummer allein zurück.

Susannes Vater war auch jetzt noch, mit achtzig Jahren, eine bemerkenswerte Erscheinung. Groß und schlank ging er stets aufrecht, die Hände am Rücken verschränkt. Von ihm hatte sie ein positives Verständnis der Natur erlernt. Er war bereits als junger Lehrer vor fünfzig Jahren, als es zwar den Begriff »Freiluft« im Stundenplan gab, aber noch kein Mensch von Waldpädagogik sprach, mit seinen Schülern bei Wind und Wetter in den Wald marschiert. Hatte ihnen damals, als Hochkonjunktur und Technikgläubigkeit allerorts herrschten, begreiflich gemacht, dass der Mensch wie der Baum, der Stein, das Wasser ein gleichberechtigter Teil der Schöpfung ist. Er machte seine Schüler mit dem göttlichen Wesen der Natur vertraut, mit seiner ureigenen Art von Philosophie auf der steten Suche nach Harmonie zwischen Mensch und Natur. So oft sie konnte, war sie mit der Klasse zum Unterricht in der freien Natur mitgegangen. Gebannt hing sie dann an den Lippen des geliebten Vaters, wenn er von den Geschöpfen des Waldes sprach, von der Sprache der Bäume und dem Wandern des Wassers über bemooste Steine. Vom Wechsel der Jahreszeiten, dem Blühen, Werden und Vergehen, von den besinnlichen Stunden zwischen Tag und Traum und dem Erwachen der Natur in der heroischen Zeit der Morgenfrühe. Für ihn war die Natur berauschende Poesie, die all seinen Sinnen nahestand. Eine Poesie, in der es eben doch Platz für Fabelwesen, Zwerge, Riesen und Quellnymphen gab.

Noch jetzt im hohen Alter streifte er weiterhin durch die Landschaft. Nicht so schnell wie ehedem und auch nicht mehr ganz so weit, aber immerhin. Obwohl er sich nie besonders gut mit seinem Schwiegersohn verstanden hatte, war er jetzt in großer Sorge, denn das Wohl seiner Tochter lag ihm sehr am Herzen. Um sich abzulenken, aber mehr noch, um etwas über den Dorftratsch zu erfahren, ging er abends ins Gasthaus. Als er eintrat und sein Eintritt von der versammelten Schar der Suchmannschaft registriert wurde, verstummte plötzlich das Stimmengewirr. Die Köpfe fuhren hoch, wandten ihm den Blick zu. Eine lauernde Atmosphäre bemächtigte sich der Gaststube. Er begriff sofort, was von ihm erwartet wurde, und bestellte eine Runde Bier für alle, denn er war mit den ewig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten des Dorfes bestens vertraut.

»Was meint ihr«, wollte er wissen, »was dem Sepp passiert sein könnte?«

Die einen meinten, er sei unter einen Baum gekommen und konnte sich nicht mehr befreien. Andere wiederum widersprachen heftig, da es ja keinen Sturm oder sonst irgendwelche Unwetter gegeben hätte. Mancherlei Thesen wurden nur aufgestellt, um sogleich wieder verworfen zu werden. Ein breites Spektrum von Möglichkeiten tat sich in der Wirtshausrunde auf. Möglicherweise war er Holzdieben in die Quere gekommen, einem Wilderer begegnet, von Flüchtlingen, welche über die grüne Grenze kamen, attackiert worden.

»Welchen Teil des Waldes habt ihr schon abgesucht? Wart ihr schon im Finsteren Graben?«

»Nein«, entgegnete der Feuerwehrkommandant, »den haben wir morgen am Plan. Aber, Herr Oberschulrat, Sie wissen doch genau, dass man fast siebenhundert Hektar teils sehr unwegsamen Geländes nicht in zwei Tagen lückenlos absuchen kann!«

Selbstverständlich wusste er es, kannte er doch den Wald in- und auswendig. Allein schon aus diesem Grunde beschloss er, sich am nächsten Tage an der Suche zu beteiligen. Er wollte dabei sein, sichergehen, dass keine noch so geringe Möglichkeit übersehen wurde. Als ihm der Feuerwehrkommandant erklärte, dass er als Nicht-Feuerwehrmann nicht versichert wäre und er daher keine Verantwortung übernehmen könnte, reagierte der Schulrat sauer. Er verließ missmutig das Gasthaus und beschloss, sich frühmorgens eigenständig auf die Beine zu machen.

Da draußen im Wald

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