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Kein blaues Blut, aber ein »Blaues Wunder«

Was mir – trotz den Worten meines Vaters – lange fehlte, war der Mut loszulassen, um endlich meinen Weg zu gehen. Es ist nicht einfach, einen eigenen Weg zu gehen, wenn man in kleinen gesellschaftlichen Strukturen aufgewachsen ist. Das Unterengadin ist schön, aber auch schön eng. Die Menschen helfen sich gegenseitig und kontrollieren sich gegenseitig. Der Lebensfluss ist oft vorbestimmt. Vielleicht ist dies inzwischen anders geworden. Ich habe vor dreißig Jahren Ardez verlassen. Doch in meiner Erinnerung kommt auch ein Gefühl von Enge auf, wenn ich an die Zeit am Fluss Inn denke. Gerade meine romanische Muttersprache, deren Klang ich liebe, kennzeichnet die damalige Situation. Romanisch ist für mich auch ein Synonym für Bewahren oder Beschützen. Dieses für mich teils rückwärtsgerichtete Denken einer Minderheit, die sich immer wieder um das Verwalten der Kultur und Traditionen kümmert, lässt kaum Raum für neue Lebensentwürfe und deren Umsetzung. Es kam mir vor wie ein Leben im Einmachglas.

Symptomatisch war für mich eine Begegnung mit einem Unterengadiner Künstler. Weltbekannt, weltweit gereist, Immobilien auf verschiedenen Kontinenten, ein Kosmopolit. Im Gespräch fragte er mich vor ein paar Jahren: »Nu mancan a Tai ils larschs jelgs? Il tschêl blau da l’Engiadina Bassa?« Nein, antwortete ich, mir fehlen die gelben Engadiner Lärchen und ihr Kontrast mit dem blauen Himmel nicht. »Perche, am vess quai da mancar?« – »Warum sollte ich es vermissen?« Der Künstler konnte nicht verstehen, dass ich im Unterengadin aufgewachsen war und mir die Farben und Düfte nicht fehlen würden. Ich erwiderte, dass für mich die Lärchen in Davos oder der blaue Himmel in Lenzerheide die gleichen seien. Dieses Lokalkolorit, dieses Kategorisieren, dieses sich über andere Stellen gefällt mir nicht. Vielmehr liebe ich alle gelben Lärchen, den ganzen blauen Himmel und dies auch im Engadin, wie anderswo. Der Künstler verstand mich nicht.

Vielleicht bin ich kein »echter« Engadiner, denn durch meine Adern fließt nicht Blut mit dem »Gelb« und dem »Blau«, das man nur spürt, wenn man seit Jahrhunderten am Inn lebt. In mir fließt das Blut der Bromeis seitens meines Vaters und der Hateckes seitens meiner Mutter. Es waren deutsche Familien, die im Laufe ihrer Geschichte auswanderten, die unterwegs waren und sich niederlassen konnten, ohne immer wehmütig an das zu denken, was sie zurückgelassen hatten. Aus diesem patriotischen und selbstverliebten Universum wollte ich fliehen. Aus dieser Enge musste ich raus. Und dieses »Raus« zeigte sich mit großer Energie und mit Aggression. Die Aggressionen waren aber nie gegen außen, gegen die Einheimischen gerichtet. Ich respektiere das Dorfleben und die Gemeinschaften in Ardez, Bos-cha oder Guarda. Die Aggressionen waren gegen mich gerichtet, gegen innen. Die Gefühle waren nicht zu ertragen, und so versuchte und versuche ich die aufgestauten Aggressionen in positive Schaffensenergie umzuwandeln.

Vom »Blauen Wunder« war ich aber noch seemeilenweit entfernt. Nach dem Sportstudium und der Trainerausbildung und Trainertätigkeit konnte ich als Quereinsteiger im Tourismus beginnen. Mit der Arbeit als Sport- und Eventmanager der Destination Lenzerheide kehrte ich dem Rheinlauf folgend wieder nach Graubünden zurück. Die Zeit im Tourismus war geprägt von neuen Berufserfahrungen mit der Privatwirtschaft, und vor allem entdeckte ich die Welt der Kommunikation. Als Tourismusdestination gehört es zum Kerngeschäft, zu kommunizieren und sich im Markt zu positionieren. In dieser Zeit durfte ich bei der Kommunikation und Positionierung der Bike- und Langlaufdestination, aber auch bei der Führung von Sportveranstaltungen mitgestalten und vieles lernen und entdecken. Als Quintessenz dieser Jahre habe ich für mich notiert: »Die Welt dreht sich alleine, alles weitere ist Kommunikation!«

Nach einigen Jahren suchte ich eine neue Herausforderung, und fand sie in den Medien. Ich hätte auch auf Mandatsbasis für Swiss Olympic einen Job auf national tätiger Ebene annehmen können, doch entschied ich mich weiterhin für die Umgebung von Chur, weil Cornelia und ich geheiratet hatten und die Kinder unser Leben mitprägten.

Es folgte die kurze berufliche Zwischenetappe bei Radio e Televisiun Rumantscha RTR. Die Zeit als Radioredaktor sollte einschneidend sein. Einerseits bemerkte ich, dass ich lieber selbst aktiv das Geschehen mitpräge und agiere, anstatt als Journalist darüber zu berichten. Andererseits war ich an der Quelle verschiedenster Nachrichtengefäße: von der Romanischen Nachrichtenagentur ANR über die Schweizerische Depeschenagentur SDA bis zu den internationalen Nachrichtenagenturen. Und ich stellte in meiner Arbeit etwas Grundlegendes fest: Das Thema Wasser mit seinen globalen und lokalen Herausforderungen wird medial immer mehr zum virulenten Thema. Ich wollte mich aktiv in die Diskussionen um Gletscherschmelze, Wasserknappheit und Klimawandel einbringen. Nicht als Journalist, sondern als »Macher«.

All diese Jahre in der Sportwelt, im Tourismus und in den Medien waren meine Lehrjahre. Bis im Herbst 2005 war mir nicht klar, wohin mein Weg führen wird. Die Jahre waren geprägt von innerer Unruhe. Es brodelte in mir. Für mich war schon immer klar, dass ich etwas Eigenes kreieren wollte: ein Projekt, an dem ich vielleicht ein Leben lang arbeiten und Erfüllung finden konnte; eine Vision, für die es sich zu leben lohnt. Dieser Anspruch, eine eigene Handschrift und auch Identität zu finden, ist eine Besessenheit. Es ist die Besessenheit des Künstlers oder der Künstlerin, die Kreativität bis zur Schmerzgrenze auszuleben. Leute, die mich aus den Medien kennen, sehen wohl einen Schwimmer, der versucht, von A nach B zu schwimmen, und dazwischen den Wasserbotschafter »spielt«. Für mich sind die Projekte, ob zu Wasser oder zu Land, Kunstinstallationen oder Performances. Sie sind im Augenblick Fragmente, die sich erst mit dem Ende meiner Lebenszeit hoffentlich zu einem Ganzen ordnen. Sodass »Das blaue Wunder« als gesamtes Kunstwerk wahrgenommen werden kann.

Prägend auf meinem Weg war eine Buchsequenz der Abenteuerlegende Reinhold Messner. Messner erwähnt im Zusammenhang mit einer Arktis-Expedition, dass er nicht schwimmen kann.3 Diese kleine Randnotiz wurde für mich zum Schlüssel der Quelle meiner Projekte. »Eu noud intuorn il muond!« – »Ich schwimme um die Welt!«, war mein erster Gedanke. Das ist es! So trete ich aus dem immer gleichen Fahrwasser, bin nicht im Kielwasser anderer unterwegs und lege eine eigene Spur um die Welt. Der Gedanke war eine Befreiung, denn ich hatte einen wortwörtlichen Weg gefunden, das gegen mich Gewandte nach außen zu drehen.

Von da an betrachtete ich die Welt anders. Ich suchte nach Wegen, wie ich mein Vorhaben realisieren konnte. Ich schlief nachts vor Aufregung nicht, studierte den Atlas auf der Suche nach globalen Wasserwegen. Die intensivste Zeit war in den Familienferien auf dem Hasliberg im Herbst 2005. Es waren Ferien ohne Internet, Smartphone und Fernsehen. Es regnete ununterbrochen, und wenn alle schliefen, stieg ich aus dem Bett und studierte Weltkarten. Ich hörte leise den Regen vor dem Fenster, fahles Licht fiel auf meine Wasserwege. Niemand wusste davon. Es war mein Geheimnis, mein Traum, meine Spinnerei.

Nach und nach wurde mir bewusst, dass in meiner Lebenssituation die Idee, die Welt zu umschwimmen, nicht umsetzbar war. Es würde jahrelange Abwesenheit von der Familie bedeuten. Wie sollte ich ein Einkommen generieren? Und wer sollte mich überhaupt bei diesem Wagnis unterstützen? Was würden Außenstehende darüber denken? Ich hörte bereits die Kritik. Doch die Idee eines solchen Schwimmprojekts hatte mich so eingenommen, dass ich nicht mehr loslassen konnte. Ausgehend von der Utopie wollte ich eine Vision finden, die ich realistisch umsetzen konnte.

Ich suchte nach Variationen und fand sie in Form der größten Süßwasserseen der Welt. Die höchsten Gipfel der Welt waren alle schon bestiegen. Doch die größten Seen der Welt sind für schwimmende Menschen noch zu entdecken: Baikalsee in Asien, Lake Victoria in Afrika, Titicacasee in Südamerika, die großen Seen in Nordamerika, kleinere Seen in Ozeanien und der Ladogasee nördlich von St. Petersburg als größter Süßwassersee Europas. Je mehr ich den Atlas studierte, umso mehr sah ich das Blau und nicht mehr das Land auf der Erde. Das ist mir bis heute geblieben. Wenn ich Geografiekarten anschaue, entdecke ich zuerst die Wasserlinien und Wasserflächen. Ich sehe die Welt wie auf einer Negativfotografie. Meine Orientierung hat sich seitdem um 180 Grad gewendet.

Die großen Seen, die »süßen Meere«, wie ich sie nenne, beschäftigten mich den ganzen Winter 2006/2007, bis mir im Frühling in Chur die zündende Idee kam. Ich trank meinen Kaffee wie immer ohne Zucker und betrachtete das Zuckersäckchen. Darauf war die Schweiz mit ihren Kantonen abgebildet – und ihre Seen. In diesem kleinen Maßstab war mein Kanton Graubünden ein weißer Fleck auf der Landkarte: kein Blau, kein See, kein Fluss. Eine Karte wie zu Zeiten der großen Eroberer, als die Welt noch aus weißen Flecken bestand. »Eu stögl cumanzar davant mia porta!« – »Ich muss vor meiner eigenen Haustüre beginnen!« Und so entstand während einer Tasse Kaffee in meinem Kopf die erste Reise. Die erste große Expedition – in meinen einheimischen Quellen.

Vielleicht ist es nicht logisch zu glauben, dass mein Weg vorbestimmt war. Logisch tönt zu mathematisch, zu rational. Vielleicht war mein Weg natürlich – selbstverständlich, so wie ein Rinnsal zum Bach, zum Fluss, zum Strom, zum See, zum Meer wird. Wer das Gleiche wie ich fühlt oder fühlte, weiß, wovon ich schreibe. Man hat die Wahl: Entweder man beerdigt seine Träume mit den Lebensjahren oder man entscheidet, »es zu tun«. Ich habe immer wieder die Stelleninserate in den Zeitungen durchforstet, doch nichts Passendes für mich gefunden. Eines Tages kam mir die Einsicht, dass es das auf mich passende Profil nicht gab. In der Konsequenz musste ich mein eigenes Profil aufsetzen und mich nur noch bewerben – auf meine eigene Stellenanzeige. Ich war die einzige Bewerbung und habe den Job erhalten. Mein Abenteuer »Das blaue Wunder« konnte beginnen.

Zwischen dem Gespräch mit meinem Vater am Bach bei Ardez, der Begegnung mit Gunther Frank in Basel am Rhein und den beruflichen Zwischenstationen lagen zwei Jahrzehnte. Intensive Jahre, in denen ich meinen Weg suchte. Die einzige Konstante in dieser Zeit war meine Freundin und spätere Frau Cornelia. Seit ich zwanzig bin, definieren wir immer wieder gemeinsame Ziele. Als ich ihr vom »Blauen Wunder« erzählte, war für sie klar, dass ich diesen Weg wählen würde. Für Cornelia war es konsequent, dass ich zu neuen Ufern aufbrechen würde.

rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt

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