Читать книгу Wörterbuch zur Sicherheitspolitik - Ernst-Christoph Meier - Страница 262
Brüsseler Vertrag Westeuropäische Union Bündnispolitik Deutschlands
ОглавлениеDeutschlands Stellung in der Allianz
In der NATO ist Deutschland im Laufe der Jahrzehnte und besonders seit die USA unter Präsident Obama dazu übergingen, sich in der Führung der Allianz deutlich zurückzuhalten, zur zweitwichtigsten Nation geworden. Dies wurde erreicht, obwohl Deutschland – im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich – keine Nuklearmacht ist und auch nicht sein möchte und demzufolge auch nicht den Status einer der ständigen fünf Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (P5) und des damit verbundenen Vetorechts zu dessen Beschlüssen hat. Die Stellung Deutschlands in der NATO ergibt sich aus seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht, seiner Führungsrolle in der EU und in seiner zentralen geografischen Lage, nicht zuletzt aber auch aus dem Vertrauen der Verbündeten und europäischen Nachbarn in die Wertorientierung des heutigen Deutschland, welches alle Bundesregierungen über sieben Jahrzehnte durch eine kluge, stetige und verlässliche Bündnispolitik aufgebaut haben. Es ist allgemein bekannt, dass sich Deutschland wie keine andere Nation bemüht, seine Sicherheitspolitik weniger national als im Rahmen der beiden multilateralen Organisationen NATO und EU zu verfolgen, und dass Deutschland deshalb auch beide Institutionen nach besten Kräften fördert und unterstützt. Während bei den USA und Großbritannien der Fokus auf der NATO und bei Frankreich auf der EU liegt, nimmt Deutschland in beiden Organisationen eine Führungsrolle ein und hat damit in einer einzigartigen Scharnierfunktion die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen voranzubringen. Von ihm geht eine Grundstabilität für Europa aus.
Für die Stellung Deutschlands – und daraus resultierend seine Möglichkeiten, bei Entscheidungen im Konsens deutsche Interessen zu wahren und eigene Positionen durchzusetzen – sind seine Leistungen für das Bündnis sowie das Vertrauen entscheidend, das die Verbündeten in Deutschlands Zuverlässigkeit als unterstützender und notfalls mit allen militärischen Kräften zu Hilfe eilender Verbündeter setzen. Dazu zählen neben anteiligen Beiträgen zu den Haushalten der Allianz und der Anzahl eingebrachter Truppen in NATO-Einsätzen vor allem die Bereitschaft zu angemessener Lastenteilung (Burden Sharing: Verteidigungsaufwendungen im Verhältnis zur Wirtschaftskraft) und die Bereitschaft zum Tragen der politischen und militärischen Risiken gemeinsam beschlossener Einsätze (Risk Sharing). Diese Leistungen Deutschlands sind in den zurückliegenden Jahren zunehmend unterschiedlich wahrgenommen und bewertet worden.
Mit seinem politischen Gewicht hat Deutschland in der Geschichte der Allianz zweifellos immer wieder gestaltende Impulse gegeben, vom Harmel-Bericht der »Entspannungsbereitschaft bei glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit« über den »NATO-Doppelbeschluss« zur Begrenzung nuklearen Rüstens und den »Stabilitätstransfer nach Osteuropa« durch die »Partnerschaft für den Frieden« bis hin zum »Comprehensive Approach« als allgemein anerkanntem Grundkonzept vernetzter Sicherheit für komplexe zivil-militärische Missionen, an denen sich das Bündnis beteiligt. Seit 2014 hat Deutschland die Anpassung der Allianz an die von Grund auf veränderte sicherheitspolitische Lage in führender Rolle mitgestaltet und dabei als Rahmennation in hohem Maße Verantwortung für den Schutz bedrohter europäischer Verbündeter übernommen. Dies hat zu einer erneuten weitreichenden Umgestaltung des deutschen Verteidigungsdispositivs der Bundeswehr geführt.
Deutschland – ein bisher verlässlicher Bündnispartner
Die Gründe für den hohen Stellenwert Deutschlands und die damit verbundene besondere Verantwortung waren im Laufe der Epochen unterschiedlicher Art.
a. 1955–1989: Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung
Im Kalten Krieg ergab sich die herausragende Bedeutung Deutschlands aus seiner zentralen Lage im Schwerpunkt eines zu verhütenden Weltkriegs, seinem unzweifelhaften Willen zur Landes- und Bündnisverteidigung gemeinsam mit den Verbündeten, sollte Abschreckung versagen, dem Umfang und Gewicht seiner konventionellen Kräfte- und Fähigkeitenbeiträge, seiner Rolle als Gastgeberland ( Host Nation) für die zur Vorneverteidigung bereits im Frieden in Deutschland stationierten Streitkräfte der Verbündeten sowie durch nukleare Teilhabe. Auf dieser Grundlage wurden Deutschlands Anstrengungen und Initiativen zur Entspannungspolitik und seine führende Rolle beim Bemühen um Vertrauensbildung (KSZE, Wiener Dokument), Rüstungskontrolle (KSE-Vertrag) und Abrüstung (NATO-Doppelbeschluss 1979, INF-Vertrag) positiv gesehen. In dieser Epoche war Deutschland wie keine andere Nation existenziell auf den Beistand der Verbündeten angewiesen, der ihm auch in hohem Maße (Britische Rheinarmee, zwei US Korps, belgisches und niederländisches Korps, kanadische Brigade, dazu die amerikanische, britische und französische Präsenz als Schutzmacht in Berlin) über Jahrzehnte zuteilwurde. Die eigenen Verteidigungsbeiträge Deutschlands waren verglichen mit den heutigen gigantisch: Deutschland stellte mit 12 voll einsatzbereiten Heeresdivisionen (derzeit zwei, nicht einsatzbereit) und 36 Kampfbrigaden (derzeit: 6, nicht vollständig einsatzbereit) sowie entsprechenden Luft- und Seestreitkräften etwa die Hälfte der konventionellen Kampfkraft der NATO in Europa. Die Bundeswehr zählte zu den anerkannt bestausgebildeten, bestausgerüsteten und am besten geführten Streitkräften der Allianz. Dafür wandte die Bundesrepublik in den 60er-Jahren über 5 %, in den 70er-Jahren über 4 %, in den 80er-Jahren über 3 % ihres BIP auf. Erst in den 90er-Jahren sank der Verteidigungshaushalt zwecks »Friedensdividende« auf unter 2 % ab.
b. 1990er-Jahre: Treibende Kraft bei Stabilitätstransfer nach Osten und Krisenmanagement auf dem Balkan
Nach dem Ende des Kalten Krieges verlagerte sich in den 1990er-Jahren der geostrategische Fokus auf sicherheitspolitische Herausforderungen für Europa in immer größeren Entfernungen in südöstlicher Richtung: auf den Balkan ( IFOR, SFOR), den Nahen und Mittleren Osten (UNIFIL), bis hin nach Zentralasien ( ISAF). Dabei wurde Deutschland, das nun ausschließlich von befreundeten, verbündeten, demokratischen Nachbarstaaten umgeben und selbst keiner territorialen Bedrohung mehr ausgesetzt war, von einer unterstützten zu einer unterstützenden Nation. Als nunmehr uneingeschränkt souveräne, mittelgroße europäische Nation musste es in der Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik eine neue Rolle ausfüllen. Statt der vormaligen Ausrichtung ausschließlich auf Landes- und Bündnisverteidigung im eigenen Land sah es sich veranlasst, im eigenen Interesse an Stabilität und Frieden in Europa nun – ähnlich wie Großbritannien und Frankreich – Kontingente von Expeditionsstreitkräften auf immer weiter entfernte Schauplätze zu entsenden. Während in der deutschen Öffentlichkeit das Wunschbild einer geläuterten »zivilen Friedensmacht«, einer »Kultur der militärischen Zurückhaltung« und eine auf »soft power« und Vermittlung fokussierte Rolle die deutsche Sicherheitspolitik prägten, sah sich Deutschland im Bündnis beständig mit steigenden Erwartungen an militärische »hard power« und an Bereitschaft konfrontiert, sich auch an »robusten« Einsätzen entsprechend Deutschlands politischem Gewicht und seiner hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als größte und reichste Wirtschaftsmacht Europas zu beteiligen. Fortan versuchten alle Bundesregierungen, im Spagat zwischen dem heimischen Selbstverständnis und den Erwartungen der Verbündeten, das unabdingbar Notwendige zu leisten, dabei aber mit möglichst begrenzten militärischen Beiträgen, möglichst niedrigen Verteidigungslasten und möglichst geringem Risiko bei Einsätzen auszukommen.
Das Hauptaugenmerk der deutschen Bündnispolitik lag in diesen ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges auf dem Vollzug der deutschen Einheit: Auflösung der Nationalen Volksarmee, Aufnahme von Personal und Material und Stationierung der Bundeswehr in den neuen Bundesländern (»Armee der Einheit«), der Einlösung der eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen (KSE-Vertrag), Flankierung des bis 1994 vollzogenen Abzugs der russischen Streitkräfte aus Deutschland mittels umfangreicher Finanzhilfen. Darüber hinaus war Deutschlands Bündnispolitik auf die Förderung des von NATO-Generalsekretär Manfred Wörner vorangetriebenen »Stabilitätstransfers nach Osten«, die maßvolle Handhabung der Politik der offenen Tür und eine für Russland verträgliche Partnerschaft als Begleitstrategie gerichtet. Zugleich begann auf dem Balkan schrittweise die operative Teilnahme Deutschlands an den erfolgreichen NATO-Missionen IFOR, SFOR und KFOR und die Transformation der Bundeswehr zur »Armee im Einsatz«.
Bei der politischen und militärischen Transformation der NATO von 1990 bis 2013 musste Deutschland unter allen Verbündeten politisch und gesellschaftlich den weitesten Weg gehen, von der ausschließlichen Konzentration auf Abschreckung und Landesverteidigung mit statischem Kräftedispositiv hin zur Teilnahme an militärischen Einsätzen zur Krisenbewältigung, und die nötigen gesellschaftlichen, verfassungsrechtlichen und politischen Veränderungen vornehmen. Die Bundeswehr stellte in einem zügigen Lernprozess in den Einsätzen am Rande des Ersten Golfkrieges 1990, auf dem Balkan seit 1995 und in Afghanistan seit 2003 ihre hohe Leistungsfähigkeit im Bereich Stabilisierung und Wiederaufbauunterstützung unter Beweis. Sie lernte seit den Luftkriegsoperationen der NATO gegen Milosevics Serbien 1999 und der Aufstandsbewältigung auch in ihrem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans seit 2008, sich auch in Gefechten und schweren Kämpfen mit gegnerischen Kräften und Aufständischen in gleicher Weise zu bewähren wie andere Nationen. Auch Politik und Gesellschaft in Deutschland haben gelernt, damit angemessen umzugehen. Zudem brachte Deutschland in der Regel die seiner Stellung als Hochtechnologie-Industrienation entsprechende hochwertigen militärischen Fähigkeiten und Kräfte ein, die als sog. Force Multiplier oder Critical Assets von besonderem Wert sind. Deutschland war zweitgrößter Beitragszahler zu den NATO-Haushalten (zwischen 16 und 20 Prozent beim NATO-Infrastrukturhaushalt und im Betriebshaushalt) und über Jahrzehnte zweit- oder drittgrößter Truppensteller bei den NATO-geführten Operationen zur Krisenbewältigung. Durch alle diese Leistungen gewann Deutschland vor allem in den 1990er-Jahren im Bündnis enorm an politischem Gewicht.
c. 2001–2013: Afghanistan und Terrorismusbekämpfung,»Kultur der militärischen Zurückhaltung«
Ab 2001 begann mit dem unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan vorbereiteten Terroranschlag Al Quaidas gegen die USA, dem dabei ausgelösten erstmaligen Bündnisfall der NATO, dem nachfolgenden Krieg der USA gegen den Irak – dem sich Frankreich und Deutschland widersetzten – und der NATO-Mission in Afghanistan für die deutsche Bündnispolitik eine weitere prägende Epoche. In ihr wurde dem positiven Bild deutscher Bündnispolitik von Kritikern unter den Verbündeten entgegengehalten, Deutschland betreibe mit seiner »Kultur der militärischen Zurückhaltung« sicherheitspolitische »Trittbrettfahrerei« auf Kosten anderer, es engagiere sich nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten mit eigenen politischen und militärischen Initiativen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Allianz. Verglichen mit den deutschen Aufwendungen für seinen Wohlfahrtstaat seien die Verteidigungsaufwendungen zu niedrig und zu stark sinkend. Trotz deutschen Drängens auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und erklärter Bereitschaft zur Übernahme größerer Verantwortung für globale Sicherheitsangelegenheiten beschränke sich diese Bereitschaft aber auf bloße Soft-Power-Aspekte. Beim Afghanistan-Einsatz (ISAF) wurde im Bündnis allgemein anerkannt, dass sich im deutschen Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans die Bundeswehr in ihren Kampfaufgaben bei der Aufstandsbewältigung (Counter Insurgency), mit amerikanischer Unterstützung, gut bewährt habe. Zugleich wurde aus dem Kreis der im Süden und Osten Afghanistans härter belasteten Nationen kritisiert, bei militärisch robusten Einsätzen habe Deutschland lange Zeit seine Beiträge allzu sehr mit Vorbehalten (Caveats) eingeschränkt.
Vor allem das Verhalten Deutschlands zum Vorgehen der Allianz in Libyen 2011 (Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Nichtteilnahme an den militärischen Operationen der NATO zur Durchsetzung einer Flugverbotszone) leistete den Zweifeln an Deutschlands politischer und militärischer Zuverlässigkeit weiteren Vorschub. Dies führte zu einer Diskussion in der sicherheitspolitischen Gemeinschaft (Strategic Community) Deutschlands. Während sich die Bundesregierung in ihrer »Kultur der militärischen Zurückhaltung« im Einklang mit dem mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung sah, Deutschland möge sich aus militärischen Auseinandersetzungen in Konfliktregionen heraushalten und sich auf die Mehrung seines Wohlstands durch Handel konzentrieren, mahnten die meisten führenden Persönlichkeiten und Experten der sicherheitspolitischen Gemeinschaft an, sich nicht von den engsten westlichen Verbündeten zu entfremden, keine Zweifel an der verlässlichen Bündnissolidarität Deutschlands aufkommen zu lassen und die Entwicklung europäischer Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden.
Diese in den USA, aber ebenso bei den wichtigsten europäischen Verbündeten (Großbritannien, Frankreich) kritische Perzeption Deutschlands erschwerten die in dieser Epoche nachdrücklich angestrebte Entwicklung einer eigenständigeren sicherheitspolitischen, auch militärischen Handlungsfähigkeit Europas. Die offenkundig großen Unterschiede zwischen den strategischen Kulturen in Paris, London und Berlin konterkarierten notwendige, gerade auch von Deutschland unterstützte oder selbst eingebrachte Initiativen, durch Zusammenlegung und gemeinschaftliche Nutzung von teuren und hochwertigen militärischen Kräften und Fähigkeiten (»Smart Defence«-Initiative der NATO; »Pooling and Sharing«-Initiative der EU/GSVP) Fortschritte in Richtung eines wirksameren und zugleich effizienteren europäischen Verteidigungsdispositivs zu machen. So blieb es einerseits bei der Tendenz, nationale Souveränität zu wahren und sich nicht in Abhängigkeit von politischen Entscheidungen von Partnern begeben zu wollen; interventionsbereite Verbündete wollten sich bei den operationsrelevanten Fähigkeiten nicht von deutscher Zurückhaltung abhängig machen. Andererseits erwiesen sich unter den europäischen Nationen nur noch Frankreich, Großbritannien und Deutschland wirtschaftlich und finanziell in der Lage, mit ihren jeweiligen Streitkräften ein breites Spektrum erforderlicher Fähigkeiten abzudecken; alle kleineren Nationen ließen ein Interesse erkennen, sich mit ihren begrenzten Kräften und Teilfähigkeiten an die größeren anzulehnen. Es zeigte sich im Kontext dieser praktischen Erfahrung im multinationalen Krisenmanagement im Rahmen von NATO-, EU- und VN-geführten Missionen, dass die von Deutschland favorisierte langfristige Vorstellung integrierter europäischer Streitkräfte, welche europäische Handlungsfähigkeit in der globalisierten Welt gewährleisten und zugleich den europäischen Pfeiler im transatlantischen Verbund stärken würden, auf absehbare Zeit nicht zu erwarten steht. Hierzu müssten zuerst die politischen Voraussetzungen geschaffen werden: sowohl eine Harmonisierung der sehr unterschiedlichen strategischen Denkrichtungen als auch die Bereitschaft zu Abstrichen bei den bisher nationalstaatlich souveränen Entscheidungsprozessen in der Außen- und Sicherheitspolitik.
d. 2014–2018: Konstruktive Mitgestaltung von verstärkter Abschreckung und Bündnisverteidigung
Im März 2014 löste die Aggression Russlands gegen die Ukraine einen bis heute anhaltenden Paradigmenwechsel in der NATO aus. Alle Verbündeten, und damit auch Deutschland, mussten sich in ihrer Bündnispolitik der von Grund auf veränderten neuen Lage einer potenziellen Bedrohung durch Russland durch Rückbesinnung auf Abschreckung und Bündnisverteidigung als wichtigste Kernfunktion anpassen, ebenso wie den eher diffusen neuen Herausforderungen an der südlichen Peripherie Europas.
Mit dem überraschenden Wiederaufleben einer territorialen Bedrohung in Europa durch Russland sah sich die NATO zurückversetzt in die überwunden geglaubte Konfrontation des Kalten Krieges, und hierbei richteten sich die Erwartungen aller davon besonders betroffenen Nationen zum einen auf die USA, zum anderen auf Deutschland. Denn jedem der alten und der seit den 1990er-Jahren beigetretenen neuen Verbündeten war bewusst, dass kein anderes Land so von der Allianz profitiert hat wie Deutschland: Von 1955 bis 1989 standen in Deutschland amerikanische, britische, kanadische, belgische, niederländische Großverbände schon im Frieden permanent bereit, im Rahmen der Vorneverteidigung jeden Angriff auf die territoriale Integrität der Bundesrepublik und West-Berlins bis zum Äußersten abzuwehren, und im Ergebnis dieser Bereitschaft aller westlichen Nationen zur kollektiven Bündnisverteidigung kam der Kalte Krieg 1990 zu einem für Deutschland äußerst glücklichen Ende. Jeder Verbündete hat dabei noch die Beiträge Deutschlands vor Augen, die es als konventionelles Rückgrat der kollektiven Bündnisverteidigung aufbrachte, als es um sein eigenes Überleben ging – 36 Kampfbrigaden des Feldheeres, eine moderne taktische Luftwaffe und eine die westliche Ostsee beherrschende Marine. In der Wahrnehmung der Verbündeten und auch der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes galt die Bundeswehr lange als eine ins Positive gewandelte Nachfolgerin der gefürchteten, in ihrer militärischen Leistungsfähigkeit und Kampfkraft aber hoch respektierten Wehrmacht.
Bereits im Februar 2014 hatten maßgebliche Vertreter Deutschlands (der damalige Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier, Verteidigungsministerin von der Leyen) auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, dass Deutschland zu mehr (auch militärischer) internationaler Verantwortung bereit sei. Diese Erklärung wurde bereits wenige Wochen später mit dem aggressiven Vorgehen Russlands gegen die Ukraine im März 2014 und der nachfolgenden völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zum Lackmustest. Es ist daher verständlich, wenn sämtliche (insbesondere die osteuropäischen) Verbündeten seither davon ausgehen, dass Deutschland bereit ist, in einer aus dem Kalten Krieg stammenden Rolle als Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung gemeinsam mit den USA und Großbritannien den gleichen Schutz vor militärischer Machtausübung Russlands bereitzustellen, den es selbst von 1955 bis 1995 über alle Maßen genossen hat. So wurde der »Münchner Konsens« der Deutschen von Februar 2014, mehr Verantwortung zu übernehmen, allgemein verstanden und auch bestätigt: »I agree, it’s now pay-back time for Germany« (so auch Bundesministerin von der Leyen bei ihrem ersten Ministertreffen 2014).
Auf dieser Basis des auch in den folgenden Jahren wiederholt bekräftigten »Münchner Konsenses« hat die von der »Großen Koalition« (CDU, CSU, SPD) getragene Bundesregierung den NATO-Paradigmenwechsel seit 2014 anerkannt konstruktiv mitgestaltet. Sie hat in führender Rolle an der Entwicklung der in Wales (2014), Warschau (2016) und Brüssel (2018) gebilligten Grundsatzkonzepte zur Wiederherstellung glaubwürdiger Abschreckung und gesicherter kollektiver Bündnisverteidigung (NATO Readiness Action Plan, NATO Defence Investment Pledge, NATO Political Guidance for Defence Planning 2015, Strengthened Deterrence and Defence Posture) maßgeblich mitgewirkt. Das Verteidigungsinvestitions-Versprechen (Zwei-Prozent-Ziel) hat Deutschland gemeinsam mit den USA als Kompromiss eingebracht und auf höchster Ebene mehrfach bekräftigt. Darüber hinaus hat Deutschland als eigene Initiative das NATO Framework Nations Concept durchgesetzt und sich damit als mehrfache Rahmennation und Anlehnungsmacht angeboten. Dies haben die meisten seiner Nachbarn dankbar aufgegriffen und sich damit im Vertrauen auf Deutschlands bündnispolitischer Zuverlässigkeit und Verantwortung auch von Deutschland abhängig gemacht. Diese Rahmennationrolle gilt in mehrfacher Hinsicht: für operative Krisenmanagement-Einsätze (z. B. in Afghanistan im Sektor Nord); für die Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten und Kräfte (NATO Framework Nations Concept), für den multinationalen Gefechtsverband der NATO Enhanced Forward Presence in Litauen, für den NRF-Speerspitzenverband der NATO Very High Readiness Joint Task Force für die NATO-Gesamtverteidigung im rückwärtigen Operationsraum (NATO Joint Support and Enabling Command). Parallel zu diesen maßgeblichen NATO-Grundsatzkonzepten entwickelte die Bundesregierung mit dem Weißbuch 2016, der Konzeption der Bundeswehr und dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr die entsprechenden nationalen Konzeptdokumente für die deutschen Bündnisbeiträge. So ist unbestreitbar festzustellen, dass Deutschland mit Blick auf die konzeptionellen Grundlagen für die NATO-Anpassung seiner herausragenden Position und Verantwortung als zweitwichtigster Verbündeter nach den USA gerecht geworden ist.
e. 2018–2021: Zögernde Umsetzung
Das galt anfänglich auch für die praktische Implementierung der seit dem Wales-Gipfel beschlossenen neuen Konzepte, zumindest für die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen des NATO Readiness Action Plan und des Strengthened Deterrence and Defence Posture. Sie wurden von Deutschland bis Frühjahr 2017 vorbildlich umgesetzt: Es hat die Führung und Bereitstellung des NRF-Speerspitzenverbandes (VJTF) für die Jahre 2015, 2019, 2023, 2027 akzeptiert, die Verantwortung für die Vornepräsenz in Litauen (Enhanced Forward Presence) dauerhaft übernommen, zum Schutz des Luftraums in den baltischen Staaten ( Air Policing) regelmäßig beigetragen, seine rotierende Übungspräsenz zu Lande und in der Ostsee sowie auch im Südosten des Bündnisgebietes als Beitrag zur dortigen NATO Taylored Forward Presence erhöht und nicht zuletzt auch die nukleare Teilhabe aufrechterhalten. Zugleich trägt Deutschland weiterhin zu zahlreichen zivilen und zivil-militärischen Krisenmanagement-Missionen (Afghanistan, Irak, Mali) und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus bei. Soweit hat sich Deutschland als Teil der Lösung für Europas Sicherheitsprobleme erwiesen.
Deutschlands Bündnispolitik gegenüber Russland: Teil der Lösung, aber auch des Problems
Aber der »Münchner Konsens« der Bundesregierung ist im Wahlkampf 2017 zerbrochen. Die aus der Bedrohung durch Russland entstandene Zwei-Prozent-Zielsetzung und die deutschen Zusagen zur NATO Verteidigungsplanung (drei Divisionen mit zehn Kampfbrigaden bis 2031) werden von SPD, Grünen und Linkspartei nicht mehr mitgetragen oder offen abgelehnt, von CSU, CDU, FDP und AfD befürwortet. Die Bundesregierung ist seither bündnispolitisch in einer schwierigen Lage. Eine Fortsetzung der eingeleiteten Trendwenden der Bundeswehr (Haushalt, Materialausstattung, Personal) ist in der mittelfristigen Finanzplanung nicht abgebildet.
Dies kulminierte beim NATO-Gipfel 2018 in Brüssel mit Präsident Trump, der über die Frage der Lastenteilung und der Implementierung des vereinbarten und wiederholt bekräftigten Zwei-Prozent-Zieles so weit ging, mit einem Austritt der USA aus der NATO zu drohen. Mit seinem Beharren auf Einlösung des Verteidigungsinvestitions-Versprechens von Wales besonders auch durch Deutschland stand Trump keineswegs allein. Aus Sicht der Mehrheit der Verbündeten hatte Deutschland seit 2014 mit dem »Münchener Konsens« wiederholt seine gestiegene Bereitschaft zu größerer Verantwortung und gewichtsgemäßen Beiträgen erklärt. Das Versprechen von Wales mehrfach zu bekräftigen, dann aber um ein Viertel unter einer der zentralen Zielmarken bleiben zu wollen, wurde von der Mehrheit der NATO-Regierungen als enttäuschend minimalistisches Verhalten gegenüber den europäischen Verbündeten gesehen. Denn bei der Erfüllung oder Nichterfüllung des Zwei-Prozent-Ziels durch Deutschland bis 2024 ging es zugleich auch um die – damit fraglich gewordenen – zukünftigen Beiträge, insbesondere das von Deutschland bei der Verteilung der NATO Fähigkeitenziele auf die Nationen im Frühjahr 2017 akzeptierte, sehr ambitionierte Fähigkeitenpaket, mit dem es zugleich ein beispielhaftes Zeichen für andere Verbündete gesetzt hatte.
Bei alledem ist von Bedeutung, dass Deutschland den Anpassungsprozess der NATO seit 2014 nicht nur mitgetragen, sondern in führender Rolle und enger Abstimmung im Quad-Kreis mit den USA, Großbritannien und Frankreich maßgeblich mitgestaltet hatte und dabei stets für »Maß und Mitte« eingetreten war, zum Teil gegen massive Widerstände derer, die zunächst weiterreichende Vorstellungen von wiederherzustellender Verteidigungsfähigkeit – im Sinne einer neuen Vorneverteidigung an den Ostgrenzen der Allianz – hatten. Insbesondere hat Deutschland die Grundlinie »Erhöhte Responsiveness« (statt Verteidigung mit bereits im Frieden vorne präsenter Großverbände, wie im Kalten Krieg) und den »Harmel 2.0«-Ansatz von Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und auch Dialogangebot als Kompromisslösungen durchgesetzt. Seither hat es nun auch eine besonders große Verantwortung dafür, dass dieser Ansatz funktioniert, und eine moralische Pflicht, dafür die mehrfache Hauptrolle als Rahmennation auszufüllen, die es übernommen hat: für VJTF und NRF, für die NATO Vornepräsenz in Litauen, für die Entwicklung von Verstärkungs-Großverbänden und Hochwertfähigkeiten, für das NATO Joint Support and Enabling Command und als Host Nation für die Verbündeten bei Aufmarsch und Verlegung von Streitkräften im Transitland Deutschland.
So geriet trotz des seit 2014 positiven bündnispolitischen Leistungsbild Deutschlands – konzeptionell die Anpassung mitgestaltet, das Bündnis zusammengehalten und bei der Umsetzung der meisten Beschlüsse seit dem Wales-Gipfel 2014 vorbildlich geliefert, den Afghanistan-Einsatz als zuletzt zweitstärkster Truppensteller durchgehalten – das Vertrauen in Deutschlands Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit beim Brüssel-Gipfel 2018 ins Wanken.
Dies hat dazu geführt, dass Deutschlands bündnispolitische Verlässlichkeit gegenwärtig infrage steht. Beim transatlantischen Kernproblem »faire Lastenteilung« (wofür die Zwei-Prozent-Vereinbarung steht) ist Deutschland Anführer einer Minderheit und wird von der Mehrheit als wortbrüchig wahrgenommen; dies schadet seiner Gestaltungsmacht in der Allianz schwer. In der NATO wird die deutsche Zurückhaltung durch überproportional starke Streitkräftebeiträge der USA ausgeglichen. In der EU hingegen kann die Vision eines »Europas der Verteidigung« mit einer sich entwickelnden strategischen Autonomie ohne entsprechende militärische Beiträge Deutschlands nicht einmal ansatzweise entstehen. Damit ist Deutschland mit Blick auf die mangelnde Selbstbehauptungsfähigkeit Europas im neuen Zeitalter der geopolitischen Großmächterivalität zu einem Teil des Problems geworden; es muss nun dafür sorgen, Teil der Lösung zu werden.
Herausforderung China
Seit 2018 ist über die weitreichenden Anpassungen mit Blick auf die Bedrohung der territorialen Integrität von NATO-Mitgliedstaaten durch Russland und die Herausforderungen im Süden und an der südöstlichen Peripherie Europas hinaus eine weitere sicherheitspolitische Problematik hinzugekommen, mit der sich die Allianz zunehmend befassen muss und zu der sich auch Deutschland positionieren muss: die Machtentfaltung Chinas im indopazifischen Raum und entlang der See- und Handelswege nach Asien (Belt and Road), seine zunehmende Präsenz auf dem afrikanischen Nachbarkontinent und sein zunehmender Einfluss auch in Europa. Neben den USA und Russland ist auch China bereits zu einer europäischen Macht geworden. Die EU nimmt China als Handelspartner, Wirtschaftskonkurrenten und Systemrivalen wahr. Die USA sehen in China vor allem den Herausforderer ihrer führenden Rolle als Weltmacht und im indopazifischen Raum, der wirtschaftlich dynamischsten und wichtigsten Weltregion. Sie sind als Schutzmacht entschlossen, gemeinsam mit verbündeten demokratischen Nationen, ebenso wie in Europa gegenüber Russland, so auch im indopazifischen Raum für die Werte und Interessen des freien Westens einzutreten und die bestehende regelbasierte Ordnung gegen Chinas aggressive Machtentfaltung unter Missachtung internationalen Rechts (Südchinesische See, Hongkong, Taiwan) einzudämmen. Allerdings können die USA beides nicht mehr aus eigener Kraft gleichzeitig leisten; in beiden Regionen sind sie auf Bündnispartner angewiesen, die zu einer fairen strategischen Arbeitsteilung bereit sind.
Für Deutschland bedeutet dies, in seiner Bündnis- und China-Politik die richtige Balance finden zu müssen. Deutschland hat sich handels- und wirtschaftspolitisch bereits in eine erhebliche Abhängigkeit von China begeben, die allerdings von gegenseitiger Natur ist. Eine gänzliche Abkoppelung und auf Eindämmung Chinas zielende Politik wäre für Deutschland kaum vorstellbar. Ebenso wenig wäre bei der für die nähere Zukunft immer deutlicher sich abzeichnenden Konfrontation zwischen den USA und China eine äquidistante Haltung Deutschlands möglich; dies ließe sich nicht mit dem fortbestehenden Schutzbedarfs Europas gegenüber Russland vereinbaren. Denn fortbestehende amerikanische Sicherheitsgarantien (einschließlich des einzigartigen nuklearen Schutzschirms und substanzieller militärischer Präsenz auch weiterhin in Europa, die diese Garantien glaubwürdig nachweisen) sind künftig nur zu erwarten, wenn umgekehrt die europäischen Verbündeten sich in ihrer China-Politik mit der westlichen Führungsmacht USA und den indopazifischen Partnern solidarisch verhalten. Wie schon in ihrer Bündnispolitik mit Blick auf Russland wird sich Deutschland auch gegenüber China absehbar um eine Sicherheitspolitik der gemeinsamen Selbstbehauptung mit militärischer Stärke, aber zugleich auch des Interessensausgleichs mit Maß und Mitte bemühen, wie sie in der neuen Indopazifik-Strategie der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext entsendet, wie zuvor schon Großbritannien und Frankreich, 2021 auch Deutschland erstmals eine Marineeinheit (Fregatte) in die indopazifische Region zur Teilnahme an gemeinsamen Übungen und zur Demonstration seines Interesses an der Wahrung der geltenden internationalen regelbasierten Ordnung.
Bündnispolitische Implikationen für das deutsche Verteidigungsdispositiv und die Bundeswehr
Mit dem Wegfall der vormaligen existenziellen Bedrohung seiner territorialen Integrität hat sich Deutschland von einem massiv unterstützten Verbündeten in prekärer Frontlage zu einem wichtigen Unterstützer für andere und von einem security consumer zu einem security provider gewandelt. Dies gilt sowohl für Stabilisierungsmissionen als auch für die seit 2014 wieder in den Vordergrund getretene NATO Kollektive Bündnisverteidigung. Doch in dieser Unterstützungfunktion bestehen gravierende Unterschiede: Bei Stabilisierungsmissionen ist Deutschland eine Nation von vielen, und es kommt auf die deutschen militärischen Beiträge nicht zwingend an; hier hat Deutschland stets die Wahl, Art, Umfang, Zeitpunkt, Dauer und Intensität seines militärischen Einsatzes nach eigener Interessenlage zu bestimmen (»conflicts of choice«). Im Unterschied zu den westlichen Nationen mit ständigem Sitz und Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (USA, Frankreich, Großbritannien) hat es auch keine besonders herausgehobene Verantwortung für internationales Krisenmanagement. Es hat sich daher eine »Kultur der militärischen Zurückhaltung« leisten können. Bei Abschreckung und kollektiver Bündnisverteidigung zum Schutz Europas liegen die Dinge völlig anders: Hier ist Deutschland gefordert, sich so schnell wie möglich mit allem einzubringen, was es militärisch verfügbar machen kann, um der Eskalation einer Krise zu einem Krieg durch glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigungsfähigkeit vorzubeugen. Würde Abschreckung nicht greifen, käme es zu einem »war of necessity«, nicht zu einem »conflict of choice« wie bei Stabilisierungsmissionen. Gemäß Art. 3 des Nordatlantikvertrags ist Deutschland verpflichtet, ein dafür geeignetes Verteidigungsdispositiv vorzuhalten. Folgende Aspekte sind dabei maßgebend:
a. Zentrales Transitland und logistische Drehscheibe Europas
Im Falle eines regionalen militärischen Konflikts mit Russland – der einzigen Großmacht, die europäische Verbündete militärisch ernsthaft bedrohen könnte – läge Deutschland zwar »weit hinten«. Es wäre als zentrales Transitland im rückwärtigen Raum vor allem für den zeitgerechten Aufmarsch und umfangreiche Kräfteverlegungen in einer sich entwickelnden Krise von herausragender Bedeutung. Deutschland würde mit dieser Lage nicht mehr in Gänze zum Kriegsschauplatz wie im Kalten Krieg werden; allerdings wären Teile seiner kritischen Infrastrukturen (Häfen, Verkehrsinfrastruktur, Führungseinrichtungen etc.) gegnerischen Angriffen ausgesetzt, von hybriden und Cyber-Angriffen bis hin zu kinetischen militärischen Schlägen mit Fernwaffen (Luftangriffe, Flugkörper, Marschflugkörper, weitreichende Artillerie).
b. Verstärkte Vornepräsenz und Verstärkungen für Nordosteuropa
Zugleich wären die im angegriffenen Frontstaat »vorne« eingesetzten deutschen Streitkräfte zu Lande, in der Luft und zur See schon unmittelbar bei Ausbruch von – möglicherweise hochintensiv geführten – Kampfhandlungen auf dem Kriegsschauplatz involviert. Dies trifft auf den in der Vornepräsenz in Litauen stationierten deutschen Kampfverband ebenso zu wie auf weitere, als erste Verstärkungskräfte (VJTF-Speerspitze, NATO Response Force) zugeführte deutsche Verbände, welche gemeinsam mit den nationalen Landesverteidigungsverbänden (national home defence forces) der angegriffenen Verbündeten für die Anfangsoperationen (Verzögerungsgefecht, Verteidigung) dringend benötigt würden. Im weiteren Verlauf des Konflikts käme es darauf an, dass Deutschland mit allen verfügbaren militärischen Kräften und Fähigkeiten, im Rahmen seiner Beistandspflicht in der NATO nach Art. 5 Washingtoner Vertrag sowie in der EU nach Art. 47 Abs. 3 des Lissabonner Vertrags seine Verpflichtungen erfüllt und seine gesamten Streitkräfte der NATO für Verteidigungs- und Gegenangriffsoperationen zur Wiederherstellung der territorialen Integrität angegriffener Verbündeter zur Verfügung stellt. In der NATO als konsensbasierter Organisation wäre dabei von größter Bedeutung, dass jeder Mitgliedstaat, einschließlich Deutschlands, sowohl auf politischer Ebene in den Gremien des NATO Hauptquartiers eine zügige Beschlussfassung zur Verlegung und zum Einsatz der NATO Streitkräfte mitträgt und den Entscheidungsprozess nicht etwa verzögert, als auch auf militärischer Ebene unverzüglich die zugesagten Streitkräfte und militärischen Fähigkeiten der NATO für die Führung der Operationen zur Verfügung stellt (Transfer of Authority) und darüber hinaus alle eigenen weiteren Bündnisverpflichtungen (Host Nation Support, Führung rückwärtiger Operationen) erfüllt.
Die im Falle eines regionalen Konflikts mit Russland von Deutschland benötigten Streitkräfte zur kollektiven Bündnisverteidigung sind ihrem Wesen nach daher einerseits als »Expeditionsstreitkräfte« zu bezeichnen. Sie müssen rasch über weiterhin große Entfernungen verlegt, schnell einsetzbar und kampfbereit und flexibel einsetzbar sein und können nicht wie im Kalten Krieg auf die grenznahe Vorneverteidigung im eigenen Land mit bereits im Frieden aufmarschierten Großverbänden optimiert sein. In diesem ecpeditionary character weiter Teile der deutschen Land-, Luft- und Seestreitkräfte ähneln die Anforderungen denen, die in dem deutschen Streitkräftedispositiv seit Beginn der 1990er-Jahre für ihre Einsätze im Rahmen von Krisenmanagement und Stabilisierungsoperationen »out of area« zugrund gelegt und auf welches sie hin transformiert wurden. Andererseits besteht ein ganz wesentlicher Unterschied im zugrunde liegenden Kriegsbild. Es sind nicht mehr die sog. »kleinen Kriege« oder (nach Münkler) die »neuen Kriege«, aus denen der militärische »Level of Ambition« abgeleitet und auf die das Anforderungsprofil der Streitkräfte ausgerichtet sein muss. Sondern »strukturbestimmend« sind wieder hochintensiv zu führende klassische militärische Land-, Luft- und Seekriegsoperationen in einem – zwar regional begrenzten und nicht mehr kontinentweit ausgetragenen – Krieg, der aber dennoch das gesamte Spektrum von subversiver über hybride und konventionelle Kriegführung bis hin zum Einsatz nuklearer und anderer Massenvernichtungswaffen umfassen kann. In dieser Hinsicht ähneln die neue Lage und die sich daraus ergebenden Anforderungen an das Fähigkeitsprofil der deutschen Streitkräfte und des deutschen Gesamtverteidigungsdispositivs mehr denen des endgültig überwunden geglaubten Kalten Krieges als den zivil-militärischen Stabilisierungsmissionen der letzten drei Jahrzehnte. Die konzeptionelle Problematik besteht somit für die deutsche Verteidigungsplanung darin, den seit nun zwei Jahrzehnten eingenommenen und gewohnten »expeditionary character« (leichte, gut verlegbare, flexibel einsetzbare, effiziente Einsatzkontingente, die über Jahre durch regelmäßige Rotationen im Einsatz durchgehalten werden können) mit den verlernten und nicht mehr vorhandenen Charakteristika von Streitkräften zu verbinden, die für einen hochintensiven Krieg mit klassischen Strukturen, Prozessen, Kräften und Fähigkeiten geeignet sind:
•schwere Bewaffnung (Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, bewegliche Heeresflugabwehr, bodengebundene Luftverteidigung etc.);
•zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigte Großverbände (Brigaden, Divisionen);
•entsprechende operative Führungsebene (Korps, Armee, Heeresgruppe);
•auf Wirksamkeit im Krieg statt auf Effizienz im Friedensbetrieb ausgelegte Logistik;
•Wiederaufnahme großangelegter regelmäßiger NATO-Verfahrensübungen aller Führungsebenen vom Hauptquartier in Brüssel über die Bundes- und Landesregierungen bis auf die kommunale Ebene (Landkreise);
•große Feldübungen und taktische Überprüfungen der Land- bzw. Luft- und Seestreitkräfte.
Diese Ausrichtung auf einen hochintensiven, regionalen Konflikt mit einem nahezu gleichwertigen, hoch gerüsteten Gegner mit umfangreichen und gut eingeübten subversiven, hybriden, konventionellen und nuklearen Kräften und Fähigkeiten ist seit 2014 wieder zur maßgeblichen Grundlage für die NATO- und auch für die deutsche Verteidigungsplanung geworden. Dabei geht es vor allem um den Schutz des Ostseeraums. Die baltischen Staaten und Polen, aber auch Finnland und Schweden und Norwegen als direkt an Russland angrenzende Länder sind in einer besonders exponierten und verwundbaren Lage. Geografisch, historisch und politisch liegt dieser Teil des Bündnisgebiets Deutschland als Ostsee-Anrainer besonders nahe. Es liegt deshalb in Deutschlands eigenem Interesse, im Schutz Nordosteuropas die deutsche Hauptaufgabe zu sehen und den Schwerpunkt der deutschen Verteidigungsanstrengungen hierauf zu legen. Der Mehrwert kampfkräftiger deutscher Verbände und hochwertiger Fähigkeiten, in Verbindung mit der zentralen Funktion als Transitland und logistischer Drehscheibe für ganz Europa in jeder Richtung, ist bei dieser Schwerpunktsetzung Deutschlands besonders hoch und die nächstliegende Möglichkeit effizienter strategischer Arbeitsteilung unter Verbündeten. Sie entspricht zudem der traditionellen Rolle, in der sich die deutschen Streitkräfte in der NATO seit jeher am erfolgreichsten bewährt haben und die über Jahrzehnte auch den größten Rückhalt in der deutschen Bevölkerung hatte: Friedenssicherung durch Abschreckung auf der Basis glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Dialog und Entspannung mit Russland.
c. Militärische Unterstützung in Südosteuropa
Auch für die Taylored Forward Presence der NATO in Südosteuropa und im Schwarzmeerraum sind anteilige Beiträge aller verbündeten Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands, erforderlich, um auch dort eine glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigungsfähigkeit nachzuweisen. Deutschland kommt diesem Erfordernis durch Ausbildungsunterstützung und rotierende Übungsteilnahme deutscher Land-, Luft- und Seestreitkräfte nach.
d. Schutz der europäischen Peripherie und weltweiter Handelswege
Zugleich ist Deutschland nicht nur direkt oder indirekt von der russischen Bedrohung im Osten Europas betroffen und gefordert, sondern auch die in jüngster Zeit immer deutlicher werdende Machentfaltung Chinas im indopazifischen Raum und entlang der See- und Handelswege nach Europa erfordern von Deutschland eine angemessene Mitwirkung an Gegenmaßnahmen zur Bewahrung der internationalen regelbasierten Ordnung. Auch wenn China aus deutscher Sicht nicht wie Russland als Bedrohung gilt, so erscheint es dennoch erforderlich, seiner militärischen Machtentfaltung entgegenzuwirken. Neben politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen wird Deutschland im europäischen Verbund auch einen militärischen (vorwiegend maritimen) Beitrag leisten müssen, um die berechtigten Interessen gleichgesinnter demokratischer Partnernationen im indopazifischen Raum zu unterstützen und die eigenen europäischen Interessen gegenüber China zu schützen. Für die USA ist parteiübergreifend klar, dass ihr Fokus in zunehmendem Maße nicht mehr auf dem Schutz Europas, sondern auf der Systemrivalität mit China und dem indopazifischen Raum liegen muss. Die europäischen Verbündeten können sich zwar weiterhin auf einen substanziellen Beitrag der USA zum Schutz Europas verlassen, und die USA werden noch auf lange Zeit die weltweit führende Land-, Luft-, See-, Raum- und Nuklearmacht bleiben. Aber die Europäer können nicht mehr darauf zählen, dass die USA beim Schutz Europas unkonditioniert die Hauptlast tragen. Seit Trump, und wohl auch unter Biden, gilt, dass die Europäer zum einen sehr viel mehr selbst zu ihrer Verteidigung in Europa und für ihre militärische Handlungsfähigkeit in Krisen an der europäischen Peripherie aufbringen müssen. Zum anderen erwarten die USA verständlicherweise, dass – im Gegenzug zu fortgesetzter amerikanischer Bündnissolidarität und militärischer Präsenz in Europa – die europäischen Verbündeten an der Seite der USA stehen, wo diese auf europäische Solidarität angewiesen sind – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit China.
Deutsche Bündnispolitik im Zeichen geopolitischer Bedrohungen und Herausforderungen
Für die deutsche Bündnispolitik folgt aus dieser veränderten geopolitischen Weltlage, dass sich Deutschland in ganz ungewohnter Weise mit Geopolitik befassen und Sicherheits- und Verteidigungspolitik, anders als bisher, als Politikfeldern eine deutlich höhere Priorität einräumen muss.
Unbestreitbar klar ist, dass auf absehbare Zeit Europa weiterhin auf den Schutz der USA und damit auf den transatlantischen Verbund angewiesen bleibt. Aber es darf nicht in die alte Mentalität vor Trump zurückfallen, sondern muss das eigene Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen, d. h. gemeinsam eine europäische sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit und die dafür nötigen Strukturen, Prozesse, Kräfte und Fähigkeiten entwickeln – auch und besonders im verteidigungspolitischen und militärischen Bereich.
Für Deutschland bedeutet dies: Es muss einen seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Verteidigungsbeitrag für den Schutz NATO-Europas leisten; es muss seine Bündnisverpflichtungen erfüllen und seine Bündnis- und Verteidigungspolitik der neuen geopolitischen Realität anpassen. Im Kern kommt es auf drei Punkte an:
1.Der Schwerpunkt der deutschen Verteidigungspolitik und die Ausrichtung des deutschen Verteidigungsdispositivs muss in der Wiederherstellung glaubwürdiger Abschreckungs- und Bündnisverteidigungsfähigkeit der NATO gegenüber der seit 2014 wiederaufgekommenen Bedrohung durch Russland liegen. Hierbei werden die deutschen Streitkräfte in erster Linie zum Schutz Nordosteuropas, in zweiter Linie Südosteuropas benötigt.
2.Zugleich bleibt es weiterhin erforderlich, zur Wahrung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand an Europas Peripherie an komplexen zivil-militärischen Stabilisierungsmissionen, vorzugsweise unter Führung der EU mit der NATO in unterstützender Rolle, teilzunehmen.
3.Darüber hinaus wird Deutschland eine China-Politik entwickeln müssen, bei der es gegenüber China sichtbar für die internationale regelbasierte Ordnung eintritt und u. a. das deutsche Interesse an freien See- und Handelswegen im europäischen Verbund und an der Seite der USA und der pazifischen Partnernationen mit begrenzten militärischen Aktivitäten, vorwiegend maritimer Art, als Ausdruck politischer Solidarität sichtbar demonstriert.
Bei der Anpassung des deutschen Verteidigungsdispositivs an die neuen Realitäten kann es in der Gesamtschau daher weder um eine bloße Rückkehr zum erfolgreichen Verteidigungsdispositivs des Kalten Krieges gehen, noch um ein bloßes Weiter-so auf Basis des auf zivil-militärische Stabilisierungsmissionen gerichteten »Vernetzten Ansatzes« (comprehensive approach) in »out of area«-Einsätzen der letzten Jahrzehnte, mit lediglich robusteren, in Richtung hochintensive Konfliktaustragung nachgebesserten Mitteln. Vielmehr bedarf es einer vollständigen Neugestaltung des deutschen Verteidigungsdispositivs. Dieses muss:
a.die eingetretenen geopolitischen und strategischen Veränderungen vollumfänglich berücksichtigen;
b.sich am anspruchsvollsten Kriegsbild orientieren (glaubwürdige Abschreckung und kollektive Bündnisverteidigung gegen einen nahezu gleichwertigen Gegner, hochintensive militärische Land-, Luft- und Seekriegsoperationen);
c.zugleich ermöglichen, in Friedenszeiten weiterhin angemessene Beiträge zu Stabilisierungsmissionen zu leisten;
d.die sicherheitspolitischen Implikationen der Machtentfaltung Chinas angemessen einbeziehen (Resilienz in Europa, Beiträge zur maritimen Präsenz zum Schutz der europäischen Peripherie und von Seewegen in den indopazifischen Raum, solidarische Unterstützung von westlich-demokratischen Partnernationen in der indopazifischen Region).
Mit einer solchen ausgewogenen Positionierung – in der NATO Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung in Europa mit Schwerpunkt Nordosteuropa, mit der EU weiterhin Beiträge zu zivil-militärischer Stabilisierung von Europas südlicher Peripherie, gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien und an der Seite der USA eine begrenzte maritime Präsenz auch im indopazifischen Raum – kann Deutschland einen seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Verteidigungsbeitrag leisten. Im Gegenzug für die damit einhergehende Entlastung der USA in Europa würde Deutschland erwarten können, dass die USA und ihre pazifischen Verbündeten der Herausforderung Chinas erfolgreich begegnen und damit indirekt auch deutsche Interessen schützen, ohne dass es dazu in dieser Region massiver deutscher Präsenz und Mitwirkung bedarf.
Ohne derartigen gewichtsgemäßen Beitrag Deutschlands ist weder eine erfolgreiche Verteidigungsfähigkeit Europas gegenüber der Bedrohung durch Russland gegeben, noch wäre eine europäische Selbstbehauptungsfähigkeit gegenüber der zunehmenden Herausforderung durch Chinas machtpolitisches Ausgreifen vorstellbar.
Fazit und Ausblick
Deutschland muss lernen, mit einer ungewohnten, unerwünschten und sehr zum Negativen veränderten geopolitischen Gesamtlage zurechtzukommen: Russland hat sich seit März 2014 als revisionistische Großmacht und potenzielle militärische Bedrohung NATO-/EU-Europas erwiesen. China wird mit seinem strategischen Ausgreifen (doppelte Seidenstraße, maritime Aufrüstung) zur Großmacht mit Weltmachtambitionen. Die europäische Schutzmacht USA fokussiert sich zunehmend auf eine mögliche Auseinandersetzung mit China um die führende Weltmachtrolle; ihre Priorität liegt auf dem indopazifischen Raum, nicht mehr auf Europa. Es gibt deutliche Anzeichen für eine zunehmende strategische Zusammenarbeit Russlands und Chinas, darüber hinaus mit Nordkorea, Syrien, Iran. Anfänge einer antiwestlichen Gegenallianz? Zugleich erleben wir eine Krise des Westens: in den USA »America first«, in Deutschland »Kultur der militärischen Zurückhaltung«, in Großbritannien »Brexit«, in Osteuropa illiberale Demokratien – ist dies der Anfang vom Ende des euro-atlantischen Zusammenhalts?
In diesem neuen geopolitischen Umfeld gilt es unverändert, wie bereits im Weißbuch 2006 betont, am engen, in der NATO institutionalisierten transatlantischen Verbund mit den USA festzuhalten und den hohen Stellenwert der NATO für Deutschland und Europa zu bewahren: »Die Nordatlantische Allianz bleibt Kernstück unserer Verteidigungsanstrengungen. Bündnissolidarität und ein verlässlicher, glaubwürdiger Beitrag zur Allianz sind Teil deutscher Staatsräson. Die militärische Integration und die wechselseitige politische Solidarität mit unseren Partnern garantieren die Wirksamkeit des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Deutschland steht zu seiner internationalen Verantwortung in der Allianz und zu seinen Verpflichtungen, die wir in unserem sicherheitspolitischen Interesse eingegangen sind. Die Entwicklungen in der Allianz bestimmen die deutsche Verteidigungspolitik maßgeblich.«
Das Problem Deutschlands besteht gegenwärtig im Kern darin, dass es in Brüssel die Bereitschaft zeigt, seine angestammte Hauptrolle in der konventionellen Bündnisverteidigung wieder einzunehmen, und sie mit entsprechenden Zusagen für die NATO Verteidigungsplanung verbunden hat, jedoch in der heimischen Diskussion diese Positionierung – über sicherheitspolitische Expertenzirkel hinaus – nicht in die breite Öffentlichkeit und Gesellschaft kommuniziert worden ist. Die Erwartungen der Verbündeten (»Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung«) und das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft (»zivile Friedensmacht«) fallen seither immer weiter auseinander. Hierbei kommt es für Deutschland jetzt mehr denn je darauf an, Wort zu halten und die von ihm seit 2014 aktiv mitgestalteten Grundsatzbeschlüsse der NATO-Gipfel von Wales, Warschau und Brüssel vollumfänglich umzusetzen, trotz Corona. Tut es dies beim Verteidigungsinvestitions-Versprechen nicht, wie es sich für die derzeitige Regierungskoalition abzeichnet, und bleibt insbesondere bei der Rekonstituierung der zugesagten drei Heeresdivisionen mit acht bis zehn Kampfbrigaden bis 2030, die als NATO Verstärkungskräfte für die osteuropäischen Verbündeten im Falle eines regionalen Konfliktes in Nordosteuropa von entscheidender Bedeutung wären, hinter seinen Versprechen zurück, so ruiniert Deutschland seine Glaubwürdigkeit und damit zugleich die Gestaltungsmacht, die es sich in der Allianz bis 2017 erworben hatte. Die osteuropäischen Verbündeten wären dann auf die USA als einzige zuverlässige Schutzmacht angewiesen; Deutschland würde dann nur eine nachgeordnete Nebenrolle spielen und bündnispolitisch als unsicherer Kantonist gelten.
Bei der sicherheitspolitischen Positionierung mit Blick auf die Machtentfaltung Chinas und die damit verbundenen verteidigungspolitischen Implikationen steht die NATO am Beginn eines weiteren Anpassungsprozesses, der zuletzt mit dem »Reviewprozess« aufgezeigt worden ist und beim kommenden NATO-Gipfel im Juni zu richtungsweisenden Entscheidungen führen wird. Wie schon beim Anpassungsprozess der Allianz gegenüber Russland steht die heimische Diskussion in Deutschland über den sicherheitspolitischen Umgang mit China gegenwärtig noch ganz am Anfang.