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Abschreckung

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(engl.: deterrence)

~ bezeichnet in der Sicherheitspolitik den Versuch, auf den Willen eines möglichen Aggressors einzuwirken und ihn durch die Androhung von Vergeltung oder eines möglichst großen Schadens von dem (vermuteten) Angriff abzuhalten. Ist ein militärischer Konflikt einmal ausgebrochen, kann man mit ~sdrohungen dem Gegner signalisieren, dass sein Schaden größer sein wird als der zu erwartende Nutzen, um ihn damit zum Abbruch der Kampfhandlungen zu bewegen. Somit kann ~ sowohl auf die Kriegsverhinderung als auch auf die Kriegsbeendigung zielen. In dieser allgemeinen Form gibt es die ~ schon, solange es militärische Konflikte gibt.

Um durch ~ die Absichten eines Gegners beeinflussen zu können, müssen mindestens drei Voraussetzungen gegeben sein: Erstens muss der Abschreckende über ausreichende militärische Fähigkeiten verfügen, um seine Drohung wahrmachen zu können. Darüber hinaus muss sein Wille, diese auch einzusetzen, für den Gegner glaubhaft erkennbar sein. Drittens schließlich muss der Angreifer die Kosten und Nutzen einer Aktion ähnlich einschätzen wie der Verteidiger – es muss also auf beiden Seiten eine ähnliche Rationalität gegeben sein.

Allerdings war die Erfolgsbilanz der konventionellen ~ vor der Einführung von Nuklearwaffen sehr begrenzt, wie die Vielzahl der Kriege zeigt, die von militärisch unterlegenen Aggressoren begonnen wurden.

Nukleare ~ geht vom gleichen Grundgedanken aus, basiert aber auf der ungeheuren Zerstörungskraft von Kernwaffen, die sich in ihren ersten und einzigen Kriegseinsätzen in Hiroshima und Nagasaki 1945 gezeigt hat. Zumindest im Kalten Krieg scheint es die nukleare ~ gewesen zu sein, die einen offenen Gewaltausbruch zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion bzw. zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt verhindert hat. Anders ist das Ausbleiben eines bewaffneten Konflikts oder gar eines Kernwaffeneinsatzes zwischen den beiden antagonistischen und hoch gerüsteten Blöcken nur schwer zu erklären. Gleichzeitig zeigte der Kalte Krieg, auf dessen Höhepunkt etwa 70.000 Kernwaffen in Ost und West bereitgehalten wurden, auch die Ambivalenz der nuklearen ~. Wäre es zu einem nuklearen Schlagabtausch gekommen, wäre die völlige Vernichtung der Menschheit zumindest eine Möglichkeit gewesen. Es ist bis heute umstritten, ob eine Sicherheitsstrategie, welche die Auslöschung der eigenen Art zumindest als Option beinhaltet, ethisch vertretbar und politisch dauerhaft konsensfähig sein kann. Ein großer Teil des antinuklearen Protests der vergangenen Jahrzehnte entzündet sich im Kern an dieser Frage.

Ebenfalls im Kalten Krieg ist innerhalb der NATO das Konzept der erweiterten ~ entwickelt worden. Die USA gaben den übrigen NATO-Mitgliedern (und darüber hinaus einigen amerikanischen Verbündeten außerhalb der NATO) ein nukleares Sicherheitsversprechen. Dies signalisiert einem möglichen Aggressor, dass er auch bei einem Angriff auf die Länder, die nicht über eigene Atomwaffen verfügen, mit der nuklearen Vergeltung durch die USA rechnen müsse. Die NATO hat diese Drohung noch verstärkt, in dem sie explizit eine Strategie des nuklearen Ersteinsatzes verkündete, die eine mögliche nukleare Eskalation selbst bei einem rein konventionellen Angriff in Europa vorsah. Damit sollte die nukleare ~ nicht nur vom Einsatz von Kernwaffen abschrecken, sondern vom Gebrauch jeglicher militärischeren Macht.

Wie die nukleare ~ selbst ist auch die erweiterte ~ von unauflöslichen Dilemmas und Ambivalenzen gekennzeichnet. Sie hat sowohl ein Glaubwürdigkeits- als auch ein Vermittlungsproblem. Gegen die Glaubwürdigkeit eines Nuklearschirms für nichtnukleare Verbündete spricht, dass die nukleare Schutzmacht der nuklearen Vergeltung des Gegners ausgesetzt wäre, sollte sie ihre Kernwaffen zum Schutz der Verbündeten einsetzen. Das wurde im Kalten Krieg in die plakative Frage gekleidet, ob denn die USA wirklich bereit wären, San Francisco zu opfern, um etwa Berlin, München oder Amsterdam zu retten. Frankreich lehnte die Idee der Erweiterung der nuklearen ~ rundheraus ab und vertritt bis heute die Position, dass Kernwaffen nur im nationalen Rahmen abschreckend wirken könnten. Folglich trat Paris aus dem nuklearen Abschreckungsverbund der NATO aus und entwickelte seine eigene nationale Atomstreitmacht.

Um das Glaubwürdigkeitsproblem der erweiterten ~ zu minimieren, setze die NATO seit Ende der 1960er-Jahre auf eine lückenlose Eskalationskette von konventionellen und nuklearen Waffen unterschiedlicher Größe, Wirkung und Reichweite, um auf einen sowjetischen Angriff individuell reagieren und bei Bedarf schrittweise eskalieren zu können. Eine solch flexible Strategie verstärkte allerdings das Vermittlungsproblem der erweiterten ~ in der europäischen Öffentlichkeit. Dadurch, dass Kernwaffen kleiner, flexibler und einsetzbarer wurden, stieg die Furcht, dass sie auch eher eingesetzt und Europa großflächig zerstören würden. Dieses Dilemma ist letztlich nicht lösbar. Damit ~ funktioniert, muss die Abschreckungsdrohung, also im Extremfall der Kernwaffeneinsatz, glaubwürdig sein. Das führt zu dem Paradox, dass Kernwaffen einsetzbar sein müssen, um letztlich nicht eingesetzt zu werden.

War während des Kalten Krieges die nukleare ~ vor allem bilateral zwischen Ost und West ausgerichtet, so verkomplizierte sich die Lage mit der Auflösung der Blockstrukturen ganz erheblich. Neue Kernwaffenstaaten wie Pakistan und Indien kamen hinzu und entwickelten ihre eigenen Abschreckungsdynamiken. Derzeit gibt es neben den fünf klassischen Nuklearmächten USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China vier weitere erklärte und nichterklärte Kernwaffenstaaten: Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Der Iran verfolgt seit vielen Jahren ein eigenes Nuklearprogramm, konnte aber bislang durch einen Mix von Sanktionen und Abkommen (JCPoA) am Bau funktionsfähiger Kernwaffen gehindert werden. Weiteren Ländern wie Saudi-Arabien oder der Türkei werden ebenfalls nukleare Ambitionen nachgesagt. In einer solch multinuklearen Welt wird ~ nicht nur deutlich komplizierter, sondern auch anfälliger für Fehlentscheidungen, da es bei unberechenbaren Regimen wie Nordkorea unklar ist, ob die Entscheidungsträger über ein im westlichen Sinne rationales Kosten-Nutzen-Kalkül verfügen.

Noch komplizierter wird es, wenn man die Möglichkeit einbezieht, dass auch Terrorgruppen über Kernwaffen oder radiologische Sprengkörper (Dirty Bomb) verfügen könnten. In einem solchen Fall ist ~ aus zwei Gründen kaum wirksam. Zum einen haben Terrorgruppen oder religiös-extremistische Organisationen meist keinen Adressaten in Gestalt einer Regierung oder eines Staatsgebiets, gegen den die Abschreckungsdrohung gerichtet werden kann. Zum anderen nehmen gerade islamistische Gruppierungen bzw. deren Mitglieder den eigenen Tod billigend in Kauf oder betrachten ihn gar als lohnendes Opfer für das religiöse Seelenheil. Da gerade nukleare ~ zwingend auf der Androhung der physischen Vernichtung des Angreifers zielt, kann sie bei einem zum Tode bereiten Gegenüber per Definition nicht funktionieren.

Die immanenten Gefahren und Dilemmas nuklearer ~ führen regelmäßig zu der Forderung, Kernwaffen international zu ächten oder gar zu verbieten und damit auf deren völlige Abschaffung hinzuarbeiten. Diese Versuche, die im Rahmen der Vereinten Nationen unlängst erst wieder durch den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) unternommen werden, sind zwar populär, aber aus zweierlei Gründen unwirksam. Zum einen werden sie von den Kernwaffenstaaten nicht unterstützt, weil diese ihre nuklearen Potenziale – ob zu Recht oder zu Unrecht – als essenziell für ihre Sicherheit betrachten. Einige Nuklearstaaten mögen zu zahlenmäßigen Reduzierungen bereit sein, zur völligen Denuklearisierung aber mit Sicherheit nicht. Zum anderen ist das Wissen um den Bau von Kernwaffen in der Welt und kann nicht »rückerfunden« werden. Da auch das nukleare Spaltmaterial durch die zivile Nutzung von Kernenergie verfügbar bleibt, könnten moderne Industrienationen selbst nach einer völligen nuklearen Abrüstung innerhalb weniger Wochen Kernwaffen erneut produzieren. Eine Welt, in der jede größere Krise in einem Wettlauf um die Beschaffung von Kernwaffen enden kann, wäre kaum stabiler als das heutige Sicherheitsumfeld, in dem nukleare ~ weiterhin eine Rolle spielt.

Neuland betritt der Abschreckungsgedanke in den Bereichen, in denen mit nichtmilitärischen Mitteln gewaltige Schäden verursacht werden können. Herausragendes Beispiel hierfür sind sogenannte Cyber-Angriffe auf Computernetzwerke, elektronische Steuerungssysteme oder die Kommunikationstechnologie moderner Gesellschaften. Elektronische Attacken auf Atomkraftwerke, Hospitäler oder Luftsicherheitssysteme von Großflughäfen können zu Opferzahlen führen, die denen eines bewaffneten Konflikts gleichkommen. Können diese verhindert werden, indem dem Aggressor im Sinne einer Cyber-~ ein digitaler Vergeltungsschlag angedroht wird? Könnten für die Vergeltungsdrohung auch militärische Maßnahmen bis hin zu Kernwaffeneinsätzen erwogen werden? Beides ist derzeit heftig umstritten.

Offensichtlich ist, dass die Lehren der ~ – ob konventionell oder nuklear – nicht einfach auf den digitalen Raum übertragen werden können. Wie bei Angriffen durch Terrorgruppen oder nichtstaatlichen Akteure besteht bei Cyber-Angriffen meist das Problem der Attribution: man weiß nicht, wer hinter dem Angriff steckt. Ist der Angreifer nicht klar zu bestimmen, so gibt es auch niemanden, gegen den sich die Abschreckungsdrohung konkret richten kann. Ebenso schwierig ist die Demonstration der eigenen Abschreckungsfähigkeiten. Während im militärischen Bereich die verfügbaren Waffen auf Paraden gezeigt oder in Tests demonstriert werden können, ist dies im Cyber-Bereich nur selten möglich. Der Angreifer weiß also oft nicht, mit welchen digitalen Vergeltungsmaßnahmen er rechnen muss. Geht man bei der Abwägung von Gegenschlägen über den digitalen Bereich hinaus und erwägt, sofern der Angreifer klar benannt werden kann, konkrete Waffeneinsätze bis hin zu Nuklearschlägen, so stellt sich die Frage der Proportionalität und damit der völkerrechtlichen und ethischen Vertretbarkeit solcher Aktionen. Wie groß müsste der digital verursachte Schaden sein, damit eine militärische Aktion oder gar ein Kernwaffeneinsatz gerechtfertigt wäre?

Trotz dieser Unwägbarkeiten haben die USA in ihrem nuklearstrategischen Grundlagendokument, dem »Nuclear Posture Review« von 2018 explizit auf die Möglichkeit einer nuklearen Antwort auf einen strategischen Cyber-Angriff etwa auf amerikanische nukleare Infrastruktur hingewiesen. Im gleichen Dokument wird aber ebenso klargestellt, dass ein Kernwaffeneinsatz nur unter extremen Umständen erwogen würde – etwa in denen der eigene Schaden gewaltig und der Angreifer klar identifizierbar wäre. Das korrespondiert mit den technischen Entwicklungen bei der Attribuierung von Cyber-Angriffen, da insbesondere im Bereich der Cyber-Forensik, also der Rückverfolgung nach einem erfolgten Angriff, erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Ein wenn auch begrenzter Abschreckungseffekt kann sich demnach daraus ergeben, dass Staaten, die oft hinter den Angriffen von vermeintlichen Einzeltätern oder nichtstaatlichen Gruppieren stehen, die Gefahr der nuklearen Vergeltung zumindest ins Kalkül ziehen müssen. Ihre Kosten-Nutzen-Abwägung verändert sich dadurch erheblich. Allerdings steht man bei der Strategieentwicklung im Bereich der Cyber-Abschreckung erst am Anfang eines langen und komplexen Prozesses.

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