Читать книгу Jade und Diamanten - Ernst-Günther Tietze - Страница 5
Siripong
ОглавлениеSiripong Woraphrasittikhul war stolz auf seinen ersten Erfolg: Die Feststellung und Abschiebung des japanischen Gangsterbosses war seinen Aktivitäten zu verdanken. Sowohl das FBI als auch das japanische Kriminalamt hatten es begrüßt, dass Thailand nach jahrelanger Zurückhaltung nun eine unmittelbare Verbindung mit ihnen aufnahm, und Siripong umgehend mit den neuesten Informationen versorgt. Das FBI lieferte ihm die internationale Verbrecher-Bilddatei und das Phantombildprogramm mit dem letzten update. Die Japaner informierten ihn eine Woche später, dass Sakiro Mashohito, der Chef einer bei ihnen ansässigen Gangsterorganisation, dem sie direkt noch nichts nachweisen konnten, von Tokio nach Bangkok geflogen sei und gaben ihm die Codenummer aus der Bilddatei.
Aus den Immigrationsdaten stellte Sulak fest, dass der Japaner vor kurzem angekommen war. Die Hotelmeldeliste zeigte ihn als Gast im Oriental. Siripong hatte kaum etwas anderes erwartet. Er beriet sich mit General Pongsakorn. Da hier gegen den Mann nichts vorlag, konnte man ihn nur beschatten. Wenn er aber den Gems and Jewelry Tower betreten würde, waren seine Absichten klar und er konnte sofort ausgewiesen werden. Das hatte planmäßig geklappt. Einer seiner Begleiter war ein schon länger gesuchter einheimischer Gauner, gegen den anderen Thai lag nichts vor, aber er wurde erkennungsdienstlich behandelt und war damit für die Organisation „verbrannt“. Stolz gab Siripong ihre Daten für die Bilddatei weiter.
Am nächsten Tag meldeten sich die Japaner noch einmal. Mit demselben Flugzeug sei ein Amerikaner namens Andrew McCoolen nach Bangkok geflogen, der bei ihnen unbekannt war, sich jedoch in Tokio mit einem Japaner getroffen habe, der im Verdacht stand, Mitglied einer amerikanischen Verbrecherorganisation zu sein. Der Versuch, den Amerikaner zu fotografieren, sei leider misslungen. Auch diesen Namen fand Sulak in den Immigrationsdaten, jedoch in keinem Hotel. Entweder wohnte er bei Freunden oder im Sheraton, wo der Computer beim Stromausfall den Geist aufgegeben hatte. Hier kamen sie zunächst nicht weiter, denn sie konnten schlecht alle Farangs (Ausländer) in dem großen Haus nach ihren Namen fragen.
Siripong hatte von dem Stromausfall erfahren, der durch einen Blitzschlag in eine Mittelspannungsleitung verursacht worden war. Zwar kamen solche Ausfälle in Bangkok täglich vor und alle großen Hotels und Geschäftshäuser hatten Notstromaggregate, aber wenn er an die Ausstellung dachte, bekam er ein flaues Gefühl. Was wäre die Folge, wenn die Gangster einen Blackout hervorrufen würden? Zumindest ein Verkehrschaos auf den schon jetzt chaotischen Straßen der Innenstadt. Kein Polizeifahrzeug würde mehr durchkommen und die Verbrecher wären in der Dunkelheit kaum zu finden. Er musste wissen, wie sicher die Stromversorgung war und ihre Schwachstellen herausfinden. Doch davon verstand er nichts. Er konnte die Versorgungsunternehmen fragen, doch würden sie ihm freiwillig die Schwachstellen nennen? Kannten sie sie überhaupt? Jumroen gab ehrlich zu, von Datennetzen eine ganze Menge, von Energienetzen aber überhaupt nichts zu verstehen.
Als er am Abend Su von seinen Sorgen erzählte, kam ihr die richtige Idee: „Frag doch Wolf Lehman, vielleicht kann der dir die Sache erklären“, sagte sie, ohne lange zu überlegen. Wolfgang Lehmann war ein deutscher Ingenieur, der mal mit seiner Frau neben Siripong im Flugzeug gesessen hatte. Er hatte viele Jahre die Lastverteilung eines großen deutschen Stromversorgers geleitet und dort moderne Leittechnik eingeführt. Nach seiner Pensionierung hatte er im Auftrag des deutschen Entwicklungshilfe-Ministeriums die thailändische Landesverteilungsgesellschaft für eine zuverlässigere Versorgung beraten. Zwei Jahre hatte das Ehepaar in Bangkok gelebt und dabei Thailand lieben gelernt, mit Ausnahme des „Molochs“ Bangkok, wie sie zu sagen pflegten. Danach hatten sie sich in Bang Pa In, 40 km nördlich von Bangkok, ein schönes altes Thai-Haus gemietet, wo sie während des Winters lebten.
Wenn man Wolfgang nach seiner Tätigkeit in Thailand fragte, antwortete er zurückhaltend: „Sicher konnten wir einiges bewegen, aber den großen Durchbruch haben wir nicht geschafft. Zu starr ist das hierarchische System mit den vielen Führungsebenen, das jede Veränderung blockiert. Da Delegation von Verantwortung unbekannt ist, müssen sich selbst die höchsten Führungskräfte um alle möglichen Kleinigkeiten kümmern, wodurch sie keine Zeit haben, die langfristige Entwicklung des Unternehmens im Auge zu behalten. Und die bis ins kleinste Detail gehende Gängelung aus dem Ministerium führt dazu, dass sie zu unternehmerischen Entscheidungen gar nicht fähig sind. Aus Angst, falsch zu entscheiden, wird jahrelang überhaupt nicht entschieden. Dazu kam, dass unsere Beratung kostenlos war, so dass sie in den oberen Ebenen überhaupt nicht ernst genommen wurde: Was nichts kostet, kann keinen Wert haben. Trotzdem sucht man eifrig nach weiteren internationalen Donatoren, nur um deren mit viel Aufwand ausgearbeitete Vorschläge für eine bessere Effizienz ebenfalls in den Aktenschränken verstauben zu lassen, sobald sie nicht die bisherige Arbeitsweise bestätigen. Meine einzige Hoffnung ist, dass die fähigen jungen Leute, mit denen wir hervorragend zusammen gearbeitet haben, eines Tages zum Zuge kommen. Die Privatisierung wird diese Entwicklung beschleunigen.“ Versöhnlich fügte er dann hinzu: „Trotzdem sehe ich die zwei Jahre als i-Punkt auf meiner Berufslaufbahn an.“
Die Lehmanns hatten Siripong und Su schon ein paar Mal nach Bang Pa In eingeladen. Einmal hatten sie alle gemeinsam den dortigen königlichen Schlosspark besucht, wo Su ihnen den schönen Palast zeigte, den die chinesischen Kaufleute, darunter auch ihre Vorfahren, vor hundert Jahren dem König geschenkt hatten. „Heute würde man so etwas Korruption nennen“, sagte sie etwas verlegen. Die jungen Leute hatten das rüstige und lebenslustige alte Ehepaar schätzen gelernt. Sie wussten, dass sie die beiden als nächstes zu sich einladen mussten, aber wie die meisten Thais scheuten sie sich, in ihrem Haus Gäste zu empfangen.
Wolf Lehmann war genau der richtige Tipp, und Siripong dankte seiner Frau für die gute Idee. Schon am nächsten Tag war der Deutsche bei ihm im Büro und erläuterte ihm die Schaltbilder auf dem Monitor mit den vier auf der ganzen Welt ähnlichen Netzebenen:
1 das vermaschte 230-kV-Transportnetz mit den Kraftwerken und den großen Umspannstationen,
2 die teils vermascht, teils strahlenförmig geschalteten 69-kV-Übertragungsnetze mit den vielen Umspannstationen zur Mittelspannung und einer Reihe von Großkunden,
3 die strahlenförmig betriebenen 11-kV-Mittelspannungsnetze auf den Straßen für die meisten größeren Kunden und zu den Netztransformatoren,
4 die von diesen gespeisten kleinen Niederspannungsnetze zur Versorgung von Kleingewerbe und Haushalten.
Die Struktur des Bangkoker Netzes war ihm weniger geläufig. Er erkannte den 230-kV-Ring der Erzeugungs-und Transportgesellschaft Transco mit zwei Kraftwerken und zahlreichen Einspeisungen von außen und das davon gespeiste, kräftige Übertragungsnetz in der Stadt.
„Wo würden Sie ansetzen, um einen Blackout zu bewirken?“, fragte Siripong ganz direkt. „Lokal oder in der ganzen Stadt?“, war Wolfs Gegenfrage „Lassen Sie uns beides betrachten“, meinte Siripong. „Wenn man lokal etwas erreichen will, muss man das Mittelspannungsnetz in der betreffenden Umspannstation angreifen“, begann Wolf zu dozieren. „Das geht sehr lokal über den betreffenden Abzweig, also recht einfach mit einem Stück Draht über die Leitung auf der Straße. Für einen größeren Bezirk muss man den speisenden Transformator auslösen. Dazu muss man in die Umspannstation einbrechen und einen Draht über die Anschlussschienen werfen oder ihn direkt über den Schutz ausschalten. Doch die Landesgesellschaft hat Personal in allen Stationen.“ „Was heißt ,Schutz’?“, wollte Siripong wissen.
„Jede Netzkomponente, ob Leitung, Transformator oder Sammelschiene ist mit einem elektronischen Gerät ausgestattet, das sie bei einem Kurzschluss allseitig ausschaltet, genau so wie bei Ihnen zu Hause die Sicherung. Aber man kann auch ohne Fehler von hier aus eine Auslösung herbeiführen.“ Siripong hatte schon eine neue Frage: „Was ist eine Sammelschiene?“ „Schauen Sie, Khun Siripong“, antwortete Wolf geduldig und zeigte auf eine waagerechte Linie im Netzbild, von der viele senkrechte Linien abgingen, „überall wo viele Leitungen und Transformatorenseiten zusammen kommen, entstehen Knotenpunkte im Netz. Und weil dort die Energie sozusagen gesammelt wird, heißen diese Knoten, die immer in Stationen sind, ,Sammelschienen’. Ich habe bewusst Transformatoren-seiten gesagt, denn Transformatoren verbinden stets zwei Sammelschienen verschiedener Spannungen.
Aber nun zur ganzen Stadt. Wenn ich mir diesen kräftigen 230-kV-Ring ansehe, bezweifle ich, dass ein Blackout in ganz Bangkok machbar ist. Man müsste mindestens alle zehn Einspeisungen von außen auslösen oder in allen fünf Stationen mit Einspeisungen beide Sammelschienen totlegen. Die beiden Kraftwerke würden dann wohl wegen Überlastung ausfallen. Ich glaube, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“ „Ginge es über den Schutz?“ „Sicher, wenn Sie in allen Stationen Leute an den Schutz stellen, die zur selben Zeit ein Aus-Kommando geben.“ Er hatte noch die alten analogen Schutzrelais aus seiner aktiven Zeit im Kopf. „Etwas kommt noch hinzu: Das 230-kV-Netz kann vollständig von der Lastverteilung beim Kraftwerk Nord ferngesteuert werden, und alle Stationen sind mit Schaltpersonal besetzt. Man kann also im Fall eines Fehlers die Versorgung schnell wieder aufnehmen.“ Siripong wusste zunächst Bescheid und bedankte sich mit einer Einladung zum Mittagessen am nächsten Sonntag in ihrem Haus.
Abends erzählte er seiner Frau verlegen von der Einladung, weil er sie nicht vorher mit ihr abgesprochen hatte. Doch sie sagte nur: „Das war ohnehin längst fällig. Ich werde aber nicht kochen, sondern wir nehmen hier nur einen Aperitif und fahren dann ins Salathai. Danach können wir bis zum Abend bei uns sitzen, wenn sie so lange bleiben wollen.“.
Interessiert sahen sich die beiden Deutschen am nächsten Sonntag in dem liebevoll eingerichteten Wohnzimmer um, als Siripong ihnen einen Whisky Soda anbot. „Es ist gemütlich bei Ihnen“, sagte Wolf schließlich, „ein Ausdruck, den ich nicht übersetzen kann. Die europäischen Elemente passen gut zu dem Thai-Stil.“ Su nickte, sie hatte den größten Anteil an der Einrichtung. „Wir sind ja beide in ganz verschiedenen Wohnstilen aufgewachsen und haben deshalb aus beiden die am besten geeigneten Elemente übernommen. Dazu haben wir einiges aus Europa mitgebracht, was uns gefallen hat. Unsere Eltern haben dagegen ihre völlig unterschiedlichen strengen Stile beibehalten und nennen unsere Wohnung nur das ,Sammelsurium’. Aber wir fühlen uns hier wohl.“
Die Unterhaltung zwischen den beiden Paaren war immer eine Mischung aus Englisch, Thai und Deutsch. Die beiden Alten hatten ganz brauchbar die Landessprache gelernt, wenn sie auch noch oft ein Wort falsch betonten. Und die Jungen bemühten sich, schwierige oder seltene Wörter gleich englisch zu sprechen. „Ich habe Ihnen als oberstem Hüter der ,Diamond 2000’ ein Gedicht von Heinrich Heine mitgebracht, das sich ein wenig mit Diamanten beschäftigt“, sagte Wolf lächelnd und überreichte Siripong ein Blatt mit kunstvoll gedruckter Schrift:
Du hast Diamanten und Perlen,
Hast alles, was Menschenbegehr,
Und hast die schönsten Augen –
Mein Liebchen, was willst du mehr?
Auf deine schönen Augen
Hab ich ein ganzes Heer
Von ewigen Liedern gedichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?
Mit deinen schönen Augen
Hast du mich gequält so sehr,
Und hast mich zu Grunde gerichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?
„Das ist ja recht traurig“, meinte Siripong und gab das Blatt seiner Frau zu lesen. „Ich erinnere mich aber, dass das meiste von ihm so hintergründig ist. Sehr gut hat mir sein Satz gefallen: ,In Deutschland ist der Sommer ein grün angestrichener Winter.’ Den konnte ich voll unterschreiben.“ „Was meinen Sie, weshalb wir wenigstens den Winter in Ihrem schönen warmen Land verbringen?“, lachte Wolf und seine Frau stimmte ein.
Auf dem Wege zum Restaurant fuhren sie an einer Umspann-Station der Transco vorbei und Wolf zeigte Siripong und der ebenso interessierten Su durch den Zaun hindurch, was er ihm neulich auf dem Schaltbild erläutert hatte: Da waren die großen einspeisenden 230-kV-Leitungen, die auf den Sammelschienen zusammen liefen, die gewaltigen Transformatoren, die 69-kV Sammelschienen und die von ihnen abgehenden Leitungen in die Stadt. „Wozu braucht man so verschiedene Spannungen?“, fragte Su. „Leistung ist das Produkt aus Spannung und Strom“, erläuterte Wolf, „dadurch kann man bei höherer Spannung über den gleichen Leiterquerschnitt mehr Leistung übertragen. Man muss nur die Isolierung erhöhen, was sie an dem größeren Abstand der Leiterseile erkennen, denn Freileitungen werden durch Luft isoliert.“
Das Salathai ist ein schönes Gartenrestaurant im Thai-Stil am Khlong Phra Kanong, das sonntags viele Thai-Familien besuchen. Su bestellte viele sorgfältig und geschmackvoll zubereitete Thai-Spezialitäten, von denen jeder nehmen konnte. Dazu gab es Klebereis, eine wohlschmeckende Spezialität aus dem Norden, die man klumpenweise mit den Fingern isst. Wolf bot vorsichtig an, den Wein zu bestellen und Siripong stimmte erleichtert zu. Das wäre etwas über seine Verhältnisse gegangen. Als Nachtisch aßen sie gemischte frische Früchte, Ananas, Melone, Pomelo, Mango, Papaya und Farang mit dem üblichen Schälchen voll Zucker, Salz und Chilipulver.
In Thailand trinkt man keinen Kaffee nach dem Essen. Da die beiden aber wussten, dass die Deutschen ihn mochten und sie sich in Europa auch daran gewöhnt hatten, fuhren sie zurück in ihr Haus und Su braute aus Nescafé ein ganz brauchbares Espresso-ähnliches Getränk. Dazu reichte sie schmackhafte Süßigkeiten aus Reisstärke. Als sie sich beim Servieren über den Tisch beugte, schlüpfte ihr die Kette mit dem Jade-Amulett aus der Bluse und Barbara Lehmann bat, es ansehen zu dürfen. „Das ist ja außergewöhnlich schön“, sagte sie bewundernd. „Schau, Wolf, diese feine Schnitzarbeit. Das Stück ist nur vier Zentimeter groß, und trotzdem ist noch jeder Fingernagel einzeln heraus gearbeitet.“ Wolfgang ließ sich das Amulett geben. „Das ist doch der Smaragdbuddha aus dem Wat Phra Kaeo“, sagte er überrascht. „Ich habe nie gedacht, dass es davon eine derart exakte Nachbildung gibt. Das Stück ist einzigartig, wo haben sie es her?“ Su war rot geworden und sagte, dass Siripong es ihr zur Verlobung geschenkt, sie ihn aber nie gefragt habe, wo es her sei. „Dann sollten wir das Geheimnis wahren, nicht wahr, Wolf?“, meinte Barbara begütigend.
„Wenn wir jetzt in Ihrem Büro wären, könnte ich Ihnen am Schaltbild die Station noch einmal erklären, die wir vorhin gesehen haben“, meinte Wolf. „Kein Problem“, antwortete Siripong stolz, „ich kann von hier aus auf alle Daten meines Systems zugreifen.“ „Sapperlot!“, entfuhr es Wolf, und dann lachten alle, denn dies Wort bedeutet in Thai „Ananas“. Die vier versammelten sich in dem kleinen Arbeitszimmer, wo Wolf mit Kennermiene die gediegene PC-Ausrüstung bewunderte. „Die hatten wir schon vorher“, sagte Siripong. „Jumroen hat sie nur an das System angeschlossen.“ Schnell hatte er sich eingewählt und das Schaltbild der nahen Station aufgeschaltet, das Wolf sachkundig dem jungen Ehepaar erläuterte.
Barbara sah sich derweil in dem kleinen Raum um. Dabei fiel ihr Blick auf die Statue zwischen den Postern der europäischen Gotteshäuser. „Sie lieben Kuan Jin offenbar auch“, sagte sie zu Su. „Wir beten oft zu ihr, einzeln und gemeinsam“, antwortete die junge Frau ganz natürlich. „Aber Ihr Amulett ist Buddha gewidmet?“ „Ach wissen Sie, Khun Barbara, in unserer Religion kommt es gar nicht so genau darauf an, zu wem man betet, sondern dass man betet. Ein Gebet ist ja nicht wirklich ein Gespräch mit oder eine Bitte an Gott, sondern in erster Linie eine besondere Stimmung in einer höheren seelischen Ebene, in der man selbst aktiver und eher in der Lage ist, seinen eigenen Anteil zum Gelingen des erbetenen Ergebnisses beizutragen. Es gibt sogar Leute, die vor den Standbildern verstorbener Könige beten. Das könnte ich nicht, aber auch hier denke ich, dass diese Leute nicht wirklich den König anbeten, sondern sich nur von ihm zum Gebet inspirieren lassen. Das Ganze ist so wie bei den katholischen Heiligen in Europa. Beten die Leute wirklich die Heiligen an, beten sie zu Maria vor ihrem Standbild? Einfache Gemüter vielleicht, aber von denkenden Menschen kann ich es nicht glauben.“ Inzwischen hatten die Männer das Schaltbild genug angesehen. Die Unterhaltung der Frauen war ja viel interessanter. So ging man ins Wohnzimmer zurück, wo Siripong einen Regency kredenzte.
„Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich sehe, wie ganz junge Paare Hand in Hand einen Tempel betreten, Kerzen und Räucherstäbchen anzünden und vor dem Buddha niederknien. Das gibt es bei uns nicht einmal in der katholischen Kirche“, sagte Wolf nachdenklich. „Wir sind so erzogen“, erläuterte Siripong. „Der Buddhismus, und besonders seine Thai-Ausprägung ist eine außerordentlich friedliche und tolerante Religion. Da erscheint es selbstverständlich, dem Buddha, der ja kein Gott ist, und den vielen Geistern Ehrerbietung entgegen zu bringen. Beachten Sie Leute, die an den ‚Geisterhäuschen‘ genannten Miniaturtempeln an ihrem Haus vorbeigehen. Die meisten grüßen mit dem Wai, um die Geister zu ehren.“ „Ja, das habe ich auch schon oft gesehen“, ergriff Barbara jetzt wieder das Wort. „Aber etwas anderes ist mir vorhin eingefallen, als Sie die katholische Kirche erwähnten. Wir beide denken schon lange darüber nach: Wenn man die wirkliche Lehre von Jesus Christus, nicht was die Kirche daraus gemacht hat, mit den Lehren Buddhas vergleicht, findet man verblüffende Ähnlichkeiten. Da Buddha aber lange vor Christus gelebt hat, muss er doch der Ursprung dieser Lehren sein. 543 Jahre sind eine lange Zeit, und der Weg von Indien nach Palästina ist nicht so weit. Ich bin davon überzeugt, dass der Buddhismus das Christentum ganz erheblich beeinflusst hat.“
Su hatte aufmerksam zugehört. Jetzt kam ihr ein Gedanke: „Nicht zufällig sind ja Ihre und unsere Religion durch begnadete Prediger aus sehr viel älteren Glaubenslehren mit stringenten, Menschen-verachtenden Gesetzeswerken abgeleitet worden. In meinen Augen ist der Unterschied nur gering, ob die Hindufrau jeden Tag die Lebensmittel zur Weihe in den Tempel schleppen muss – und ihn während ihrer Periode nicht einmal betreten darf, oder ob die jüdische Frau ihr Haus abbrennen lassen muss, weil es zufällig am Sabbat brennt. Bei beiden dienten die Gesetze seit Jahrtausenden hauptsächlich zur Wahrung der priesterlichen Vorherrschaft und Macht. Und dann sind diese begnadeten Prediger Buddha und Jesus gekommen und haben die Menschlichkeit, die Zuwendung, die Liebe vor die Gesetze gestellt. Sie haben die alten Götter nicht abgeschafft, nur eben die selbstherrliche Kaste der Priester zwischen Gott und den Menschen mit ihren blutigen Opfern für ungültig erklärt. Diese neue Lehre lag wohl in der Luft, und gemessen an der langen Geschichte der Ursprungsreligionen ist die Zeitdifferenz von 543 Jahren recht gering.“
„Alle Achtung“, fügte Wolf hinzu, „das ist ein interessanter Vergleich. Leider hat in der christlichen Kirche schon bald eine neue Priesterkaste die Macht übernommen und noch schlimmer gewütet, bis die Reformation den direkten Zugang der Menschen zu Gott noch einmal frei gelegt hat. Ich darf noch ergänzen, dass Christus sich wie Buddha nie selbst als Gott bezeichnet hat. Das ist erst später erfunden worden. Er hat auch nie behauptet, sich seine Lehren ausgedacht zu haben, sondern sie schlicht und einfach verkündet.“ „Wenn man Buddhas Worte großzügig auslegt, war er sogar der erste Prophet für Jesus Christus“, überlegte Siripong. „Zu einem Schüler sagte er: ,Fünfhundert Jahre wird die Lehre der Wahrheit bestehen. Dann schwindet der Glaube, bis ein neuer Buddha erscheint und abermals das Rad der Lehre in Bewegung setzt.’“
„Es gibt noch mehr Vergleichbares“, ergänzte Su. „Seit Jahrtausenden besteht unter vielen Menschen ein Konsens über das Gute, ganz gleich, zu welchem Gott sie beten. Und auf der anderen Seite gibt es die Machtgierigen, die Fanatiker, die Verbrecher, einfach die Bösen. Sowohl in Ihrer Kirche als auch in unseren frommen Bildern existiert eine Hölle, wo diese Bösen nach dem Tode leiden müssen. Anders als mit solcher Vorstellung können die Guten wohl nicht leben.“ „Ich denke schon lange darüber nach, was eigentlich den Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen von Menschen ausmacht“, nahm Barbara den Faden auf: „Ich denke, die Bösen, ganz gleich, ob sie machtgierige Politiker, Glaubensfanatiker oder Verbrecher sind, verfolgen rücksichtslos nur einen Weg, den sie für den einzig richtigen halten. Dagegen quälen die Guten ihr Gewissen mit dem Prüfen von Alternativen und ihren möglichen Folgen, wobei sie wissen, dass es oft keine Lösung gibt, ohne dass man jemandem Unrecht tut oder gegen ethische Normen verstößt. Deshalb hat man in unserer Religion die Begriffe der Sünde, Buße und Vergebung entwickelt.“ „Was durchaus ein großer Vorteil des Christentums ist, denn bei uns muss jeder mit seiner Schuld alleine fertig werden, wenn er keinen vertrauten Menschen hat, bei dem er sein Gewissen erleichtern kann“, ergänzte Siripong.
„Nun ja“, meinte Wolf nachdenklich, „damit sprechen Sie wohl den größten der beiden entscheidenden Unterschiede zwischen unseren Religionen an, die trotz aller eben festgestellten Gemeinsamkeiten existieren: Im Christentum, und das hat es unverändert aus der mosaischen Lehre übernommen, ist der Lebensweg mit dem Tode unwiderruflich zu Ende, er ist eine Einbahnstraße. Es gibt dann bei den Christen die Verheißung des Himmelreichs, aber nur, weil Jesus mit seinem Tod die Sünden derjenigen auf sich genommen hat, die vorher Buße getan haben.“ „Aha“, fiel Su ein, „und der hinduistische und buddhistische Lebensweg ist dem gegenüber ein Kreis, oder besser, eine Spirale mit dem Höhepunkt des Nirwana. Die Wiedergeburt, die mir viel logischer erscheint als ein Himmelreich mit Milliarden von Toten, bietet die Möglichkeit, im nächsten Leben seine Schuld wieder gut zu machen, selbst wenn man zur Strafe als Hund wiedergeboren worden ist. Besser ist es natürlich, eine Schuld schon in diesem Leben zu bereinigen und damit das Karma zu verbessern. Denn nur Buße tun und bedauern genügt bei uns nicht, man muss schon aktiv Gutes tun.“ Wolf nickte und wollte fortfahren, doch Barbara kam ihm zuvor:
„Der zweite, weniger klare Unterschied zwischen den Religionen liegt in der Zahl der Götter. Die Juden kennen nur einen einzigen Gott, die Christen haben daraus mit Jesus und dem Heiligen Geist die Dreieinigkeit gemacht, worunter sich nur Theologen etwas vorstellen können. In Asien gibt es zwar viele Götter, aber die wesentlichen sind doch Brahma, Wischnu und Schiwa, die nach vielfacher Ansicht sogar ebenfalls eine Art Dreieinigkeit bilden. Und für die meisten Thais spielt nur Buddha eine Rolle, der ja kein Gott ist.“ „Zwei Jahre habe ich unter Christen gelebt und einiges über ihre Religion gelernt“, lachte Siripong, „aber erst heute sind mir die Unterschiede zu unserem Glauben so richtig klar geworden.“
Weil es schon recht spät geworden war, verabschiedeten sich die Lehmanns mit der Bitte, das nächste Treffen bald wieder bei ihnen in Bang Pa In zu haben. „Diese Su Chan ist eine ganz erstaunliche junge Frau“, überlegte Wolf laut, als sie nach Entrichten der Maut auf die Stadtautobahn einbogen, „attraktiv und intelligent, noch recht jung und trotzdem sicher im Urteil, und dabei von natürlicher weiblicher Anmut.“ „Ein bisschen verschossen in sie?“, spottete seine Frau. „Ach, du weißt ja, dass ich schon immer eine Schwäche für Frauen hatte, die schön und intelligent sind“, gab er lächelnd zurück. „Deshalb bin ich ja damals auch bei dir hängen geblieben ...“ „und heute bin ich nur noch intelligent, ich hoffe wenigstens“, fiel Barbara ihm ins Wort. „Aber das ist schon das zweite Kompliment in dieser Woche. Wird das nicht etwas viel?“ Ohne auf ihren Spott einzugehen fuhr er fort: „Verschossen, nein, sie könnte ja unsere Enkelin sein. Aber erstaunt und erfreut, dass es heutzutage in diesem Land solche selbstständigen Frauen gibt. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft, denn sie werden ihre Kinder ebenso erziehen. Thailand ist ja das einzige Land im Umkreis von 5.000 Kilometern, wo so etwas möglich ist.“ „Ja, du hast Recht“, stimmte Barbara zu, nun wieder ernst geworden. „Ich glaube, die Königin hat durch ihr Vorbild keinen geringen Anteil daran. Übrigens hätte ich nichts gegen eine Enkelin wie Su einzuwenden.“
Auch bei den Gastgebern war der Nachmittag noch Gesprächsthema: „Stand deine Bluse vorhin nicht etwas zu weit offen?“, fragte Siripong, als sie in ihrer leichten Hauskleidung beim Abendessen saßen. Doch damit hatte er in ein Wespennest gestochen. „Erstens ist das allein meine Sache“, gab Su ärgerlich zurück. „Zweitens war es nicht gewollt, ich hatte den Knopf wohl nicht richtig zugemacht. Es war mir selbst peinlich, aber nur ein kleines bisschen. Denn zum dritten ist Khun Wolf ein Gentleman, der keine Augen für meinen Ausschnitt, sondern nur für das Amulett hatte. Und zum vierten war ja noch der blöde BH darunter, ohne den ich mich hier nicht zeigen kann, obwohl ich davon sicher einen Hängebusen bekomme. In Europa hat sich niemand daran gestört, wenn meine Brustspitzen die Bluse ausbeulten.“ Siripong sah seine Frau erstaunt an. Solche Ausbrüche waren selten bei ihr. Aber sie hatte ja Recht. Was ging ihn ihr Blusenknopf an. An ihrem Gesicht sah er, dass sie sich wieder beruhigt hatte. „Verzeih“, sagte er und strich ihr über das Haar. „Ganz sicher“, antwortete sie mit weicher Stimme, „auch ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich hatte nicht das Recht, dich so anzublaffen, denn so ganz falsch war deine Mahnung ja gar nicht.“
Ihr Hinweis auf die größere Freizügigkeit in Europa rief in Siripong eine Erinnerung wach: In der Nähe von Villingen-Schwenningen gab es einen Baggersee, in dem die Menschen völlig nackt badeten, nicht nur topless, wie auch Su es gerne tat, wenn andere Frauen es vormachten. Für sie war es denn auch kein Problem gewesen, sich ganz auszuziehen, aber er hatte lange gezögert, bis er merkte, dass die befürchtete Erektion ausblieb. Der Anblick einer nackten Frau erregte ihn viel weniger, als wenn eine knappe Bekleidung die Phantasie beflügelte. Stolz hatte er gesehen, dass Su immer wieder bewundernd betrachtet wurde und überrascht festgestellt, wie viel schöner das Schwimmen ist, wenn das Wasser den ganzen Körper direkt umspielt. Nur etwas konnten sie mit ihrer Erziehung nicht vereinbaren, das manchen deutschen Paaren selbstverständlich schien: in diesem Zustand öffentlich miteinander zu schmusen.
Diese Erinnerung veranlasste Siripong zu der Bemerkung: „Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn andere deinen schönen Busen bewundern, solange ich der Einzige bin, der ihn anfassen darf.“ Und er streichelte ihre Brust unter dem leichten Kleid, bis die Spitzen fest wurden. Su sah ihm in die Augen. „Darauf kannst du dich verlassen, solange ich lebe“, sagte sie mit heiligem Ernst. „Bevor ich dich kennen lernte, nannte man mich ,die wilde Su’, aber jetzt gehöre ich mit Leib und Seele dir ganz allein.“ Siripong war erschüttert von ihrem Ernst. „Ich bete zu Kuan Jin, dass ich stets dasselbe sagen kann“, antwortete er langsam, denn er musste sich über jedes Wort klar werden, um ehrlich sprechen zu können, „aber eins weiß ich ganz sicher: Ich werde dich immer über alles lieben.“ Su wusste genug über das männliche Seelenleben, um mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Sie musste ihm dafür danken, auch erregte sie das Streicheln ihrer Brustspitzen. So ließ sie das Kleid von den Schultern gleiten, löste seine Kleidung und umarmte ihn zärtlich, bis auch seine Erregung fühlbar wurde. Auf dem weichen Teppich gaben sie einander ihre ganze Liebe.