Читать книгу Himmelsspione - Ernst-Günther Tietze - Страница 5
Оглавление1 Offenbarungen
„Ich habe zu viel getrunken, um gleich nach Hause zu fahren, haben Sie vielleicht Lust zu einem kleinen Spaziergang? Wir haben uns ja in unserem Vorbereitungsgespräch kaum richtig kennen gelernt“, fragte Ferdinand, als sie das Generalkonsulat verließen. „Gerne“, antwortete die Frau, „mir geht es eigentlich ebenso. Laufen wir also ein Stück. Ich möchte mich auch noch bei Ihnen bedanken, Sie müssen ja wahre Lobeshymnen über mich gesungen haben.“ „Nun ja, Sie haben mir doch durch Ihre Aktivität erst die Möglichkeit gegeben, meine Aufgabe in diesem Spiel auszuführen, das dann noch sehr gefährlich für mich wurde“, antwortete er. Auf Tanjas fragendes Gesicht berichtete er sein gefährliches Herauskommen aus dem Helios-Gebäude.
Gerne hätte er etwas mehr über diese interessante Frau erfahren, wollte sie aber nicht kränken. „Ich habe eine Frage, mit der ich Sie keineswegs beleidigen will und die sie mir nicht beantworten müssen“, brachte er schließlich heraus. „Ich weiß schon, was Sie fragen wollen“, lachte Betsy mit ihrer vollen warmen Stimme, die es ihm schon bei der ersten Begegnung angetan hatte, „nämlich, wie eine attraktive und einigermaßen intelligente junge Frau zu solch einem Job kommt. Vielleicht werde ich Ihnen die Frage irgendwann beantworten, wenn wir uns näher kennen und Sie mir im Gegenzug erklären, wie ein DV-Spezialist dazu kommt, für die Russen Industriespionage zu betreiben. Denn dass die Helios keine Kochtöpfe herstellt, ist doch allgemein bekannt.“ „Sie haben Recht“, lachte Ferdinand nun auch, „genau das wollte ich Sie fragen. Und ich verspreche Ihnen, mich zu öffnen, wenn Sie meine nicht gestellte Frage beantworten.“
„Zunächst nur so viel“, fuhr Betsy fort. „Ich habe in meiner weißrussischen Heimat Fürchterliches erlebt und diese Nebenbeschäftigung hilft mir, das Trauma zu bewältigen. Übrigens, Betsy ist nur mein Pseudonym bei diesen Aktivitäten, im normalen Leben bin ich Bankmanagerin und heiße Tatjana, aber meist werde ich nur Tanja genannt.“ Da die beiden gerade an einem kleinen Café vorbei kamen, sah Ferdinand die Gelegenheit, das Gespräch noch eine Weile fortzusetzen und lud die Frau zu einer Tasse Kaffee ein, was sie gerne annahm. Bewundernd blickte er auf ihre schlanken Hände, mit denen sie die Tasse hielt, aber immer wieder auch in ihr schönes Gesicht.
Tanja genoss seine Blicke, irgendwie faszinierte sie dieser Mann. Er war anders als die meisten Männer, die sie bisher kennen gelernt hatte, und seine Erzählung von den gefährlichen Folgen des stecken gebliebenen Fahrstuhls hatte sie angerührt. „Es ist seltsam“, begann sie, nachdem sie die Tasse abgesetzt und tief Luft geholt hatte, „ich hatte schon bei unserem ersten Treffen am Gründonnerstag großes Vertrauen zu Ihnen, was bei mir sonst ganz selten ist und deshalb will ich Ihnen jetzt doch etwas über meinen Grund für diese Tätigkeit erzählen. Dafür muss ich in meine Jugend zurückgreifen: Ich bin vor 30 Jahren in Minsk als Tochter eines Gymnasiallehrers und einer Sekretärin geboren worden, also gut bürgerlich. Das war noch in der Sowjetunion und mein Vater war begeisterter Kommunist. Meine Mutter hält dagegen mehr von der Kirche. Sie gehört zu den wenigen römisch katholischen Christen in unserem Land, die große Mehrzahl ist orthodox. Meine Eltern hatten eine Art Gentlemans Agreement abgeschlossen, dass jeder dem anderen seine Einstellung lässt. Ich übernahm den Glauben meiner Mutter und es war selbstverständlich, dass ich das Abitur machen und studieren würde.
1992 stellte die Firma, in der meine Mutter arbeitete, ihre Verwaltung auf Computer um und sie meldete sich zur Ausbildung als Systemadministratorin. Mein Vater, der seine kommunistische Vorliebe jetzt an die neue Regierung angepasst hatte, war dagegen, aber sie setzte sich zum ersten Mal durch und brachte später sogar einen kleinen PC mit nach Hause. Natürlich durfte ich auch daran üben und erste Erfahrungen sammeln. Als ich 15 war, hatte ich genug gelernt, um meine Schulaufgaben mit Hilfe des gerade aufkommenden Internet zu erledigen. Da meine Mutter sich immer für die deutsche Sprache interessiert hatte, ließ sie mich in der Schule ebenfalls Deutsch lernen, was mir große Freude machte. Heute bin ich ihr dankbar dafür. Sie haben vielleicht von den Verhältnissen in Weißrussland gehört. Ich war gerade 18 geworden, als ich mich mit einigen Mitschülern über die politischen Verhältnisse ereiferte. Über das Internet informierten wir uns über demokratische Werte, die im Unterricht tabu waren, und posteten Proteste gegen die Diktatur von Lukaschenko. Als wir in der Schule protestierten, wurde uns mit Relegation gedroht, darauf zogen wir in einer größeren Gruppe friedlich zum Präsidentenpalast und hielten Schilder hoch, auf denen wir Lukaschenko zum Rücktritt aufforderten. Ein paar hundert Meter vor dem Ziel prügelten plötzlich vermummte Milizionäre mit Schlagstöcken auf uns ein. Dann griffen zwei von ihnen mich, fuhren mich in einem Mannschaftswagen zum Vostrau-Park und vergewaltigten mich nacheinander am Ufer. Danach fuhren sie einfach weg und ließen mich liegen.
Nach einiger Zeit rappelte ich mich auf und ging nach Hause. Ich schämte mich, meinen Eltern von dem Erlebnis zu erzählen. Mein Vater als Anhänger Lukaschenkos hätte mich wahrscheinlich beschimpft und meine Mutter stand fast immer unter seiner Fuchtel. Aber ich hatte genug von diesem Land und wollte nur weg, möglichst nach Deutschland. Im Internet suchte ich mir eine Strategie zusammen, wie ich am besten hinkäme. Auf jeden Fall musste ich durch Polen und ich wusste, dass unsere Grenzer ziemlich scharf sind, da blieb nur ein illegaler Übergang, am besten bei Brest. Von dort könnte ich weiter direkt nach Deutschland, z. B. bei Görlitz. aber es hieß, dass die Deutschen ihre Grenzen auch sehr scharf bewachen und die Österreicher viel lockerer seien. Also entschied ich mich, über Brno in Tschechien nach Wien zu kommen und von dort nach München weiter zu fahren, denn ich hatte irgendwo gehört, dass hier die Anerkennung als politischer Flüchtling besonders leicht sein sollte. Auf die Idee, mich im Internet darüber zu informieren, kam ich nicht.
Am nächsten Morgen kleidete ich mich gepflegt, um unterwegs nicht unangenehm aufzufallen, und packte meinen Pass und eine Taschenlampe ein. Dann plünderte ich mein Sparkonto, tauschte DM ein, die überall akzeptiert wird, und fuhr nach Brest. Fünf Kilometer weiter bildet der Bug die Grenze nach Polen. Ich wartete am Ufer, bis es dunkel war, packte meine Sachen zu einem Bündel, das ich über dem Kopf tragen konnte, und schwamm über den Fluss, mein Zeug war kaum nass geworden. Morgens stieg ich in Terespol in den nächsten Zug nach Warschau und fuhr von dort weiter nach Brno. Die Tschechen gaben sich an der Grenze mit meinem Pass zufrieden. Obwohl ich zweimal umsteigen musste, hatte ich im Zug etwas essen und eine ganze Weile schlafen können. Eine halbe Stunde später stieg ich in einen Zug nach Znojmo, acht Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Beim nahen Nationalpark ging ich im Dunkeln über die Grenze und ein ganzes Stück weiter bis kurz vor dem nächsten Dorf. Bis zum Morgen schlief ich im Wald, fuhr mit dem nächsten Bus nach Wien und von dort weiter nach München. Da ich illegal eingereist war, traute ich mich nicht in ein Hotel, sondern suchte mir auf dem Stadtplan ein unbewohntes Gebiet zum Schlafen, das ich mit der S-Bahn erreichen konnte, es war in der Gegend von Schleißheim.
Am Morgen ging ich zur Ausländerbehörde, wo ich im Warteraum eine Druckschrift fand, dass politische Flüchtlinge nur aus Ländern anerkannt würden, die an die Bundesrepublik angrenzen. Wenn ich mich jetzt meldete, würde meine Herkunft der Behörde offenbar und ich könnte sofort ausgewiesen werden. Das war zu viel für mich, ich war an den letzten Tagen sechzehnhundert Kilometer durch Europa gefahren, hatte einen Fluss durchschwommen und drei Nächte im Wald geschlafen, jetzt war ich vollkommen fertig und verzweifelt. Fluchtartig verließ ich die Behörde und irrte durch die fremde Stadt, bis ich die Frauenkirche fand. Ich bin ja kein sehr gläubiger Mensch, aber irgendetwas zog mich hinein, weil sie mir als Katholikin vertraut war. Drinnen fand ich die Schutzmantelmadonna, sie wirkte auf mich wie eine Mutter, der ich meine Sorgen offenbaren konnte. Weinend warf ich mich vor ihr auf den Boden und flehte sie um Hilfe an. Dort fand mich eine ältere Dame, die meine Verzweiflung erkannte, sie fragte vorsichtig und ich erzählte ihr alles. Sie war die Ausländerbeauftragte der Stadt und kannte sich gut mit den Bestimmungen für politische Flüchtlinge aus. Noch am selben Tag brachte sie mich zu einer Ärztin, die die noch erkennbaren Spuren der Vergewaltigungen drastisch dokumentierte und mir empfahl, nach sechs Tagen wiederzukommen, um einen Bluttest auf Schwangerschaft machen zu lassen. Dann besorgte mir die Dame erst mal eine Unterkunft. Der Test war dann positiv, die Schwangerschaft konnte nur durch die Vergewaltigung entstanden sein. Das Attest der Ärztin und meine guten Deutschkenntnisse sprachen für mich, so dass diese Dame zunächst eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für mich und nach einem halben Jahr gegen alle Regeln meine Anerkennung als politischer Flüchtling erreichte. Sie vermittelte auch eine Abtreibung, denn natürlich wollte ich kein Kind von diesen Verbrechern zur Welt bringen. Mit zwei Jahren Zeitverlust konnte ich das Abitur machen und danach eine Banklehre absolvieren, weil mir für ein Studium das Geld fehlte. Seit sieben Jahren bin ich Bankbetriebswirtin, leite inzwischen das Investmentgeschäft eines mittelgroßen Instituts und besitze seit fünf Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Gelegentlich rufe ich meine Mutter an, wenn ich weiß, dass der Vater nicht zu Hause ist.
Doch nie hat mich die Szene in Minsk losgelassen, immer wieder wachte ich nachts schweißgebadet auf und fühlte, wie diese dreckigen Schweine ihre Knüppel in mich hinein stießen. Diese Erinnerung machte es mir unmöglich, eine auch nur lose Beziehung zu einem Mann einzugehen. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, dieses Ereignis zu verarbeiten, traf ich vor vier Jahren in der Venus-Bar eine elegante Dame, die auf jemanden zu warten schien. Da sie einen angenehmen Eindruck machte, kamen wir ins Gespräch und sie erzählte ganz offenherzig, dass sie nebenberuflich als freie Edelprostituierte arbeite. Ich fasste Vertrauen und berichtete von meinen seelischen Problemen mit Männern nach den Erlebnissen in Minsk. ‚Mach‘ es wie ich‘, sagte sie lachend, ‚da hast du die Herrschaft über die Männer, sie werden ganz klein, wenn du sie richtig behandelst.‘ Sie konnte mir gerade noch ihre Agentur nennen, dann kam ihr Freier.
Ich meldete mich dort, wurde eingehend begutachtet und in die Vermittlungsliste aufgenommen. Gegen eine Gebühr vermittelt mir die Agentur seriöse Kunden, entweder nur für einen Abend mit Nacht oder auch als Begleiterin für einen ganzen Tag oder ein Wochenende. Natürlich lasse ich mir vor einer Begegnung die Daten der Herren geben, damit ich nicht zufällig einen Kollegen oder einen Kunden der Bank bediene, und ich versteuere diese Einkünfte ganz normal. Dem Vizekonsul habe ich auch schon ein paar Mal Dienste geleistet, wenn er hohen Besuch hatte. Meine grundsätzliche Bedingung ist aber, dass ich nur seriöse Herren ganz normal und ohne Sonderwünsche an einem neutralen Ort bediene und weder mein Name noch meine Adresse jemals bekannt werden. Die Wohnung ist mein Heiligtum ganz alleine für mich. Auf diese Weise wurde ich auch Ihr Partner, als Sie eine attraktive Dame brauchten, um Dr. Luising ausnehmen zu können. So, das war’s und nun sind Sie dran.“
Mit zunehmender Erschütterung hatte Ferdinand den Bericht gehört, unvorstellbar welche Schicksale manche Menschen anderen bereiten, aber auch wie solche gedemütigten Menschen mit starkem Willen trotzdem etwas aus ihrem Leben machen. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stotterte er schließlich, „jedenfalls ist meine Achtung vor Ihnen in den letzten zehn Minuten erheblich gestiegen. Machen Sie das oft?“ „Nein, nicht sehr oft, höchstens ein- bis zweimal im Monat, und in der Regel spielt sich die Begegnung in einem guten Hotel ab mit einem gepflegten Diner vorweg und Champagner auf dem Zimmer oder wir fahren in die Umgebung. Dr. Luising war übrigens der erste Mann, den ich aktiv verführen musste, und ich war überrascht, wie gut mir das gelang, bisher hatten die Männer mich ja stets bestellt. Natürlich habe ich der alten Dame, die ich gelegentlich besuche, nie etwas von diesem Teil meines Lebens erzählt. Aber nun bin ich wirklich auf Ihre Geschichte gespannt, Sie haben sie mir versprochen.“ Ferdinand bestellte noch Cognac, dann musste er endlich mit seiner Geschichte beginnen: „Ich bin zehn Jahre älter als Sie und in dem kleinen Dorf Neureichenau im Bayerischen Wald aufgewachsen. Mein Vater war Vorarbeiter in der örtlichen Lederfabrik, meine Mutter kümmerte sich um den Einödhof mitten im Wald am Michelbach, auf dem Vater noch geboren worden war. Sie fütterte dort unsere halbwilden Kaninchen und zog Kartoffeln auf dem einzigen einigermaßen geraden Acker. In meiner Kindheit waren wir oft am Wochenende dort und grillten mit Freunden Hühner. Ich ging zunächst auf die Dorfschule, aber mit 10 Jahren überlegten die Eltern, ob das genüge. Eine befreundete Hamburger Familie verbrachte ein paar Mal ihre Ferien in dem Einödhof. Deren Vater hatte in Hamburg mit Computern zu tun und bezeichnete diese Technik als zukunftsweisend. Mein Onkel arbeitete in München bei Siemens in der Entwicklung von DV-Anlagen und auch er erzählte immer wieder begeistert von den künftigen Möglichkeiten dieser Technik. So schickten mich die Eltern zu ihm, damit ich dort das Gymnasium besuchen konnte.
Zum fünfzehnten Geburtstag schenkte mir der Onkel einen PC mit einem 386er Prozessor und dem Betriebssystem DOS und wies mich in die Kunst des Programmierens ein. Das war zuerst schwer zu lernen, weil eine ganz andere Denkweise nötig ist als für die normalen Schulfächer, aber allmählich fand ich Spaß daran und entwickelte kleine Programme, die der Onkel lobte.
1991 machte ich das Abitur und überlegte, ob ich den Wehrdienst verweigern oder zu einer Ersatzorganisation gehen sollte, denn Soldat wollte ich nicht werden. Schließlich entschied ich mich für die Polizeilaufbahn. Als ich mich um eine Anstellung bewarb, wurde gerade Nachwuchs für die GSG9 gesucht. Meine DV-Kenntnisse und körperliche Fitness verhalfen mir zur Aufnahme in diese Eliteeinheit, allerdings hatte ich nicht mit einem derart harten Training gerechnet. Es war eine elende körperliche Schinderei beim Überwinden aller Arten von Hindernissen, beim Aufbrechen verschlossener Türen im Dunkeln, bei Kampfsport und Selbstverteidigung, beim Schwimmen in voller Ausrüstung und Langstreckentauchen. Wir mussten mit allen möglichen Arten von Waffen schießen, alle Fahrzeuge bis zum Panzerwagen bewegen, Motorboote fahren und Kleinflugzeuge fliegen können. Später bei den Einsätzen merkten wir dann, wie wertvoll diese harte Ausbildung war. Meine Rechnerkenntnisse konnte ich gut anwenden, besonders als das Internet aufkam. Wir waren die erste Einheit mit direktem Zugriff, was uns die Vorbereitung von Einsätzen erleichterte, z. b. durch Abfangen von E-Mails.
Wegen guter Leistungen wurde ich schon nach vier Jahren zum Polizeimeister befördert und mir empfohlen, an der Verwaltungshochschule auf Polizeikommissar zu studieren, was ich gerne annahm, weil meine Besoldung weiter lief. 1998 war ich mit einem guten Examen fertig und leitete größere Einsätze. Leider wurde dann 2000 durch meine Fehleinschätzung einer meiner Männer bei einem Einsatz erschossen und ich knallte vor Wut den Schützen ab. Der war aber der lange gesuchte Chef einer internationalen Drogenmaffia und man hatte sich von seiner Festnahme wesentliche Erkenntnisse über diese Organisation erhofft. Ich bekam ein Disziplinarverfahren und hatte noch Glück, dass ich den Dienst ohne die übliche Abfindung quittieren konnte. Große Rücklagen hatte ich nicht und musste Geld verdienen. Meine Computerkenntnisse waren eine gute Grundlage für eine neue Tätigkeit. Damals boomten gerade die Internetfirmen und ich sah tolle Verdienstmöglichkeiten, als ich mich mit allen Ersparnissen und einem erheblichen Kredit an solch einem Unternehmen beteiligte. Doch nach zwei Jahren platzte die Blase, auch meine Beteiligung ging Pleite und ich stand mit einem Haufen Schulden da.
Mein Onkel, den ich um Rat bat, sagte etwas sehr Vernünftiges: ‚Verlass dich nicht auf andere, sondern nur auf das, was du kannst. Du bist ein großartiger Computerspezialist, mach’ dich als DV-Berater selbstständig und biete deine Dienste kleineren Betrieben an, die sich eine Datenverarbeitung einrichten wollen und einen neutralen Helfer brauchen. Das Geld für das Wenige an Hard- und Software, was du dafür brauchst und die einschlägigen Kurse schieße ich dir vor, du kannst dir mit der Rückzahlung Zeit lassen.‘ Das war seit langem der beste Rat. Natürlich war es anfangs schwer, Kunden zu gewinnen, doch die Mundpropaganda unter den Handwerksbetrieben und kleinen Läden funktionierte bald ganz ordentlich. Ich fing an, Geld zu verdienen, mit dem ich einen Teil der Kredite zurückzahlen konnte, die ich nach der Pleite erst mal strecken musste. Dann kam vor drei Jahren die Finanzkrise, von der Sie sicherlich auch etwas ab bekommen haben.“ „Ja, ich weiß, wovon Sie sprechen, wir hatten höllische Probleme damit, und auch die Internetblase habe ich während meiner Lehre noch mit bekommen“, warf Tanja ein, „wie sind Sie denn durch die Krise gekommen?“ „Nun ja, mehr schlecht als recht. Die Kunden waren ängstlich, die Aufträge brachen weg und ich hielt mich mit Schulungen über Wasser. Im vorigen Jahr lief dann das alte Geschäft wieder an, doch noch immer drückten mich die Kredite, die ich während der Krise nur durch erhebliche Einschränkungen der Lebensführung bedienen konnte.
Anfang des Jahres hatte ich beim Generalkonsulat einen kleinen Auftrag, den Internetzugang zu verbessern und vor drei Wochen sprach mich der Vizekonsul an, ob ich für sie die Helios AG ausspionieren würde. Ich nannte ihm einen hohen Betrag, der meine Schulden weitgehend tilgen konnte und er ging darauf ein. Meine Bedingung war, dass er mir offiziell einen großen Auftrag mit diesem Betrag über DV-Leistungen für das Generalkonsulat erteilt und außerdem die Schlüsselkarte des DV-Chefs und sein Passwort beschafft, wozu er dann Sie einsetzte und unser erstes Treffen organisierte. Das Weitere kennen Sie ja. Doch jetzt sollten wir dies gastliche Haus verlassen.“ Er winkte der Bedienung und zahlte. Vor der Tür wandte er sich zu Tanja und meinte: „Ich hoffe, Sie mit meiner Geschichte nicht zu sehr gelangweilt zu haben, die ja viel weniger dramatisch ist als Ihre.“
Tanja legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sagen Sie das nicht, Sie sind zwar nicht körperlich misshandelt worden, haben aber auch seelisch einige Brocken zu tragen gehabt. Haben Sie das alles eigentlich alleine durchgestanden?“ „Sie meinen, ob ich eine Partnerin hatte, die mir tragen half?“ Als Tanja nickte, fuhr er fort: „Nun ja, während meiner Zeit bei der Polizei hatte ich kaum freie Zeit dafür, aber eine Weile nach meiner Entlassung von der Polizei lernte ich Ingeborg kennen und war acht Jahre mit ihr zusammen, wir haben uns sehr geliebt. Als ich dann aber 2009 Tag und Nacht arbeiten musste, um mich über Wasser zu halten, meinte sie, ich solle doch Konkurs anmelden, ein solches Leben habe sie nicht nötig. Als ich dazu zu stolz war, verschwand sie spurlos.“ Inzwischen waren sie auf dem Parkplatz des Konsulats angekommen und Ferdinand fragte Tanja, ob er sie mitnehmen solle. „Nein, ich bin selber mit dem Wagen hier“, antwortete sie, „aber geben Sie mir doch Ihre Telefonnummer, vielleicht rufe ich Sie mal an.“ Als Ferdinand ihr seine Karte gab, sagte sie: „Es war angenehm, mit ihnen zu sprechen, vielen Dank“, und schwang sich in ihren Porsche, er konnte noch schnell die Nummer notieren.
Auf dem Heimweg wunderte sich Tanja über ihre ungewohnte Offenheit einem Fremden gegenüber. „Er ist wohl kein schlechter Kerl“, dachte sie, „aber ich weiß überhaupt nicht, warum ich mich ihm so bedenkenlos geöffnet habe.“ Noch immer hatte sie eine unbestimmte Angst, irgendeinen Mann seelisch an sich heran zu lassen. Deshalb wollte sie sich, zumindest vorläufig, nicht näher mit ihm einlassen, sie liebte ihre Selbstständigkeit viel zu sehr. Immerhin kannte er ja bisher weder ihre Wohnung noch ihre Telefonnummer. Für den Fall, dass sie doch einmal Interesse an ihm haben sollte, hatte sie ihn um seine Karte gebeten.
Als Ferdinand am Dienstag über die Pfingsttage nachdachte, war er außerordentlich zufrieden. Er hatte gutes Geld verdient und beglich gleich morgens einen großen Teil seiner Schulden. Auch für die Steuer legte er einen Betrag zurück, denn er wollte diese Einnahme voll versteuern. Zwar war die „Datenverarbeitung“ bei der Helios AG eine sehr krumme Sache gewesen, doch er musste das ja nicht noch durch Steuerhinterziehung verschlimmern. In seiner Steuererklärung würde er den Ertrag als auftragsgemäßes Honorar für die „Planung und Einrichtung einer neuen umfangreichen DV-Anlage beim russischen Generalkonsulat“ verbuchen, wie auch seine Rechnung lautete. Dafür war der erzielte Betrag angemessen. Er löschte in den Datenträgern und dem Protokoll des abgekoppelten Rechners alles, was mit der Aktion am Sonntag zusammen hing, formatierte ihn neu und behandelte ihn zusätzlich mit dem Secure Eraser, bevor er ihn wieder mit der Anlage verband und aufdatete. Seine mobile Platte und die Kopie von Dr. Luisings Schlüsselkarte verbarg er im geheimen Tresor hinter einem Mauerstein im Keller, den er mit Pseudozement fachmännisch wieder einmauerte. Zuletzt stellte er in seiner Anlage eine umfangreiche Datenstruktur für das russische Generalkonsulat zusammen, mit dem er den Auftrag der Russen nachweisen konnte. Immer wieder dachte er dabei an die interessante Frau, die ihn schon beim ersten Treffen mit ihrer natürlichen Eleganz und ihrem Witz fasziniert hatte, und der er jetzt etwas näher gekommen war. Dass sie ab und zu mit anderen Männern schlief, störte ihn überhaupt nicht. Er hatte ihr sofort geglaubt, dass sie das zum Verarbeiten ihrer schlimmen Erlebnisse brauchte. Irgendwann würde er über das Autokennzeichen und ihre Adresse auf sie zugehen. Doch er wollte ihr viel Zeit lassen, vielleicht würde sie sich selber mal melden.
In der ganzen Woche hatte er stramm zu tun, die Aufträge flossen wieder reichlicher. Doch wenn er sich spät abends eine Ruhepause gönnte, war immer wieder die junge hübsche Tanja in seinen Gedanken, mit der er so erfolgreich den Helios-Coup gedreht hatte. Über die Zulassungsstelle bekam er ihren Namen und Adresse heraus: Tatjana Novikova, Trogerstr. 50, 81675 München. Wie erwartet, stand sie nicht im Telefonbuch. Er musste sich beherrschen, einfach zu ihr zu fahren, damit würde er alles kaputt machen.
In der nächsten Woche bereitete er ein DV-System für eine kleine Backwarenfabrik vor. Er hatte dem Kunden das verbesserte Linux als Betriebssystem empfohlen, weil es für diese Anwendung, wozu auch die Prozesssteuerung der Maschinen und Öfen gehörte, besser geeignet war, als die Windows-Programme. Doch er merkte, dass dies Betriebssystem ziemliches Neuland für ihn war, es unterschied sich erheblich vom alten UNIX. Deshalb suchte er am Donnerstag in der Buchhandlung im Stachus-Einkaufszentrum ein Handbuch dafür. Auf dem Weg zur Kasse sah er in einer Leseecke Tanja ein Buch durchblättern und dabei ihre Haarsträhne durch die Finger ziehen. Offenbar war sie direkt von der Arbeit gekommen, sie trug einen eleganten Hosenanzug. Das war eine gute Gelegenheit, sie anzusprechen.
„Haben Sie etwas Interessantes gefunden?“, fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken. Überrascht blickte sie auf. „Ich glaube ja, schauen Sie mal.“ Er nahm das Buch in die Hand. „Die Republik der Frauen“ von Gioconda Belli. „Es ist eine Fiktion in einem mittelamerikanischen Staat, wo Gase aus einem Vulkanausbruch die Testosteronproduktion der Männer stoppen. Darauf wird eine Frauenpartei mehrheitlich gewählt und bildet die Regierung nur aus Frauen. Da die Männer in den Ämtern den weiblichen Fortschritt behindern, werden sie mit vollem Gehalt nach Hause geschickt und müssen den Haushalt erledigen, während die Frauen endlich selber Geld verdienen können. Doch eine alte Männerriege lässt ein Attentat auf die Präsidentin verüben. In meiner augenblicklichen Stimmung ist dies Buch Balsam auf die Seele. Ich werde es kaufen.“ Sie stand auf, tauschte das Buch gegen ein eingeschweißtes Exemplar aus und ging zur Kasse. Ferdinand folgte ihr, um sein Fachbuch ebenfalls zu bezahlen. Als Tanja einen Blick darauf warf, sagte sie tadelnd: „nur Fachliteratur, sie sollten sich mal etwas Geistvolles leisten.“ „Wenn Sie mir die Zeit zum Lesen schenken, gerne“, antwortete Ferdinand lachend. Doch dann fiel ihm ihre Bemerkung über ihre Seelenlage ein und er fragte vorsichtig, ob er sie vielleicht wieder zu einem Kaffee einladen dürfe. „Herzlich gern“, war ihre Antwort, über die er sich sehr freute.
Bei einem Kännchen Kaffee und einem Stück Quarkkuchen wagte Ferdinand zu fragen, was sie vorhin mit dem Balsam auf ihrer Seele gemeint habe. Er wisse genau, dass er ihr mit dieser Frage nahe trete und habe volles Verständnis, wenn sie nichts sage, aber vielleicht wolle sie mit jemandem reden. Tanja seufzte tief, dann antwortete sie: „Wenn es jemanden gibt, mit dem ich reden kann, können nur Sie das sein, das ist mir schon letzten Montag klar geworden, niemand anderem sonst hätte ich meine Geschichte erzählt. Deshalb sollen Sie jetzt auch hören, was mich bedrückt: Ich war immer der Meinung, mit meinem Handeln sei ich Herr über die Männer, die zu mir kommen. Gestern habe ich mein Waterloo erlebt. Ich war mit einem gut aussehenden und scheinbar seriösen Geschäftsmann in einer Suite des Bayerischen Hofs verabredet. Als wir nach einem guten Menü und Champagner ins Bett gehen wollten, holte er plötzlich ein paar Bänder heraus und wollte mich fesseln. Ich lehnte das ab, er lachte nur, das gehöre bei ihm dazu, sonst habe er nichts davon. Ich griff meine Sachen und wollte fliehen, doch die Tür war verschlossen. Lachend zeigte er mir den Schlüssel, er hatte heimlich abgeschlossen, gleich als wir herein kamen. Ich griff das Telefon, doch er riss mir den Hörer aus der Hand. ‚Ich habe dich bezahlt und du kommst hier nicht raus, bevor du tust, was ich will’, sagte er ziemlich laut. Was sollte ich tun? Schreien hätte nichts gebracht und er machte den Eindruck, dass er seinen Willen mit Gewalt durchsetzen würde. Eine letzte Waffe blieb mir noch, die ich noch nie benutzt hatte. ‚Ich brauche noch etwas’, sagte ich und ging zu meiner Handtasche, er folgte mir und stellte sich hinter mich. Ich konnte meinen Elektroschocker greifen, ohne dass er ihn sah, drehte mich blitzschnell um und stieß ihm das Ding auf den Bauch. Stöhnend sank er zusammen. Ich griff den Schlüssel und schloss die Tür auf, dann schmiss ich ihm mein Honorar auf das Bett, zog mich irgendwie an und lief aus dem Zimmer. Schnell war ich in der Garage, fuhr nach Hause und verriegelte die Tür hinter mir.
Ich warf mich aufs Bett und heulte wie ein Schlosshund, weil mir die Szene im Minsker Gefängnis mit Macht wieder in Erinnerung kam, die ich längst überwunden glaubte. Ich hatte mich ja sicher gefühlt, dachte, ich sei die Herrin über die Männer, und nun hatte mir dieses Schwein gezeigt, dass ich doch nur eine schwache Frau bin. Obwohl ich mit ihm fertig geworden war, fühlte ich mich abgrundtief gedemütigt, und schlagartig wurde mir klar, dass diese Tätigkeit auf Dauer kein Leben für mich wäre. Als ich mich beruhigt hatte, rief ich die Agentur an, ich sei an weiteren Vermittlungen nicht mehr interessiert und buchte über das Internet einen Selbstverteidigungskurs. Dann erinnerte ich mich an eine Buchbesprechung über ‚Die Republik der Frauen‘. Da wurde erzählt, dass die Frauenregierung Vergewaltiger eine Woche lang nackend in Käfigen auf dem Marktplatz ausstellt mit einem tätowierten V auf der Stirn. Ich wusste, dies Buch würde mich ein wenig aufbauen. Nach der Arbeit ging ich heute zu Thalia, um erst mal hinein zu schauen und war begeistert, es war genau das Richtige für mich. Dadurch haben Sie mich getroffen und ich bin froh darüber.“
Kaffee und Kuchen waren alle, Ferdinand bestellte noch einen Cognac, den sie schweigend tranken, dann zahlte er. Beim Herausgehen hängte Tanja sich plötzlich bei ihm ein und er legte den Arm um ihre Schulter. Nach ein paar Schritten fiel sie ihm um den Hals und drückte sich eng an ihn, er strich ihr sanft über die Haare. Da küsste sie ihn heftig, was er gerne erwiderte. „Ich glaube, du bist der erste feine Kerl, der mir in den letzten Jahren begegnet ist“, sagte sie, während ihr die Tränen aus den Augen strömten. Ferdinand war völlig perplex über diesen plötzlichen Ausbruch, doch er sah, dass sie einen Menschen brauchte, dem sie vertrauen konnte. Der wollte er gerne sein, sie war ihm ja schon ans Herz gewachsen. „Ich will für dich da sein und du kannst mir alles sagen, was dich bedrückt“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Danke“, antwortete Tanja und küsste ihn noch einmal herzlich.
Jetzt durfte er nichts überstürzen. „Soll ich dich irgendwo hin bringen?“, fragte er vorsichtig. „Ja bitte, zu meinem Wagen“, schluchzte sie immer noch, „er steht in der Tiefgarage vom Stachus Einkaufszentrum.“ „Da stehe ich auch, das ist ja bei Thalia.“ Tanja beruhigte sich und hängte sich wieder bei Ferdinand ein. Vor ihrem Porsche küsste sie ihn noch einmal und gab ihm einen Zettel. „Das ist meine Telefonnummer, ruf’ mich doch mal an, wenn du magst und entschuldige bitte mein unbeherrschtes Benehmen vorhin.“ „Kein Grund zur Entschuldigung, ich will dir gerne ein wenig helfen, wenn du mich brauchst und werde mich bald mal melden.“, tröstete er sie und schaute ihr nach. Glücklich fuhr er nach Hause. Er musste sich ja dringend mit dem neuen Linux beschäftigen, damit er die Anlage für den Kunden aufbereiten konnte.
Im Apartment zeigte ihm sein Telefon eine Nummer an, die er nicht kannte. Als er sie anrief, traf ihn beinahe der Schlag, Ingeborg Hacker, seine frühere Freundin und Geliebte meldete sich. „Ich wollte mal hören, wie es dir geht“, sagte sie etwas verlegen. „Die Wirtschaft hat sich ja ziemlich gebessert, vielleicht hast du ja auch wieder ordentlich Fuß gefasst.“ Ferdinand wusste überhaupt nicht, was er sagen sollte, und die Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Gerade war er Tanja etwas näher gekommen und setzte große Hoffnung auf eine Freundschaft mit ihr, da meldet sich Inge wieder, mit der er wunderschöne Zeiten erlebt hatte, bis sie ihn dann abrupt verließ. Offenbar wollte sie wieder Kontakt mit ihm aufnehmen. Ganz sicher wollte er jetzt nicht mit zwei Frauen zu tun haben, eine von ihnen musste er aufgeben. „Bist du noch dran?“, hörte er Inges Stimme aus dem Hörer. „Ja“, antwortete er langsam und musste sich jedes Wort überlegen, „dein Anruf überrascht mich etwas, immerhin haben wir drei Jahre nichts voneinander gehört.“ „Können wir uns nicht mal treffen und in Ruhe über alles reden?“, fragte die Frau und Ferdinand konnte nicht so hart sein, diese Bitte abzulehnen. „Ich arbeite zur Zeit bis in die Nächte an einem Auftrag“, antwortete er. „Sonntag Nachmittag habe ich Zeit. Wo wollen wir uns treffen?“ „Sei um 16 Uhr im Englischen Garten an der Brücke von der Osterwaldstraße, da können wir ein bisschen plaudern.“ Inge war ganz begeistert, als Ferdinand zustimmte. „Jetzt habe ich drei Tage Zeit für eine wohl überlegte Entscheidung zwischen diesen beiden Frauen“, dachte er erleichtert.
Tanja dachte in ihrer Wohnung über den Nachmittag nach. Es war wohl mehr als ein glücklicher Zufall, dass sie Ferdinand bei Thalia begegnet war und sich ihm gegenüber öffnen konnte. Das hatte sie bisher noch bei keinem Mann getan, warum fiel es ihr bei ihm so leicht? Irgendwie hatte sie schon bei der ersten Begegnung Vertrauen zu ihm gefasst und wie es schien, war das Vertrauen gerechtfertigt. Nur wenige andere Männer hätten so zurückhaltend reagiert wie er, als sie ihm um den Hals gefallen war. Sicherlich hatte er ihre Küsse erwidert, das war doch ganz natürlich, aber er hatte ihre Stimmung in keiner Weise ausgenutzt, sondern versucht, sie zu verstehen. War sie leichtsinnig gewesen, ihm ihre Telefonnummer zu geben und ihm damit ihr Refugium zu öffnen? Nein, instinktiv spürte sie, dass dieser Mann ihr einen neuen Weg in jenes Leben zeigen könnte, vor dem sie sich bisher so gefürchtet hatte, ein Leben in einer Gemeinschaft mit einem Mann. Nachdem sie zu Abend gegessen hatte, ging sie dankbar ins Bett und schlief bald ein. Insgeheim hoffte sie, dass Ferdinand sie irgendwann anrufen würde, doch wusste sie auch seine Zurückhaltung zu schätzen. Wenn er sich bis zum Ende der nächsten Woche nicht meldete, würde sie die Initiative ergreifen.
Ferdinand stellte an den nächsten Tagen bis spät abends das Linux-System zusammen und spielte die Anwenderprogramme ein. Samstag war er fertig. Natürlich hatte er immer wieder über Ingeborg nachgedacht und sich an die schönen Stunden mit ihr erinnert, aber diese Erinnerung mündete stets in die abgrundtiefe Verlassenheit, die er nach ihrem Verschwinden gefühlt hatte. Sonntag Vormittag nahm er Papier und Bleistift und stellte die positiven und negativen Aspekte der beiden Frauen einander gegenüber:
Ingeborg
- Plus: Liebevolle Frau, lange schöne Gemeinschaft, intime Kenntnis aller Eigenschaften.
- Minus: Abruptes Ende mangels Vertrauen ohne Rücksicht auf meine Lage. Fühle keine Liebe mehr zu Ihr.
Tanja
- Plus: Wohl liebevoll, scheint mich zu brauchen, Behutsamkeit notwendig, große Hoffnung und schon ein bisschen Liebe.
- Minus: Möglicherweise traumatisiert, unsicher, ob daraus eine Gemeinschaft werden kann.
Lange saß er über diesen Daten ohne zu einer Entscheidung zu kommen, denn die positiven und negativen Aspekte der beiden Frauen waren eigentlich gar nicht vergleichbar. Schließlich fuhr er in die Stadt, ohne zu wissen, was er Inge sagen sollte. Sie wartete schon an der Brücke. Als sie ihn sah, lief sie auf ihn zu und rief „Schön, dass du gekommen bist, lass uns ein bisschen laufen.“ Sie hängte sich bei ihm ein und plauderte drauf los, wie es ihm gehe und was sein Geschäft mache. Ferdinand war froh über dieses harmlose Gespräch, er hatte sie viel emotioneller in Erinnerung. Doch das änderte sich sehr schnell, als sie ein Stück querwaldein gegangen waren und auf einer kleinen Wiese zwischen dichten Büschen standen. Da fiel ihm Ingeborg um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Die Erinnerung an ihr inniges Miteinander brachte ihn dazu, ohne nachzudenken auch ihren Körper eng zu umarmen und die Küsse ebenso leidenschaftlich zu erwidern.
Alles war wieder da, was er mit ihr an Schönem erlebt hatte, ihre bezaubernde Zärtlichkeit, ihre ständige Bereitschaft zur Liebe mit animalischer Wildheit und das herrliche Gefühl, wenn sie ihn mit dem Mund liebte. Das hatte er schon lange nicht mehr gefühlt und wünschte es im Innersten. Ingeborg wusste das und als sie seine Erregung fühlte, kniete sie vor ihm nieder und öffnete ihm den Reißverschluss. Doch als danach seine Spannung schlagartig verflog, kam er ebenso schnell zur Besinnung. Er schloss seine Hose und überlegte, wie er Ingeborg das Nötige sagen konnte, ohne sie zu kränken, immerhin hatte sie ihm etwas Schönes gegeben, was er sich auch gewünscht hatte. „Du hast es mir so schön gemacht wie früher“, sagte er langsam und musste über jedes Wort nachdenken, „und ich danke dir, denn ich glaube, du liebst mich wieder. Ich weiß jetzt aber genau, dass ich das nicht hätte zulassen dürfen, denn ich kann dich nicht mehr lieben. Ich habe nicht vergessen, wie du mich damals verlassen hast. Ich war in einer verzweifelten Lage, und anstatt mir zu helfen, nicht mit Geld, sondern seelisch, hast du mich Knall und Fall verlassen. So etwas hinterlässt Spuren, die sich nur schwer tilgen lassen“ Ingeborg sah ihn verständnislos an. „Was ist mit dir, hast du wieder eine Frau?“, fragte sie irritiert und erhob sich. „Bisher weiß ich es noch nicht genau“, antwortete Ferdinand langsam, „aber ich werbe um sie und habe große Hoffnung, dass etwas daraus wird. Auch wenn es diese Frau nicht gäbe, könnte ich mit dir nicht einfach weiter machen, als ob nichts gewesen wäre. Entschuldige bitte, dass ich dir das so hart sage, aber du weißt, dass ich dich nie belogen habe.“
Bei diesen Worten zog sich ein Schatten über Inges Gesicht, dann traten ihr Tränen in die Augen. Ferdinand drückte ihre Hand. „Ich habe dich wirklich sehr geliebt, solange wir zusammen waren, es war eine herrliche Zeit für mich. Ich fiel seelisch in ein tiefes Loch, als du mich Knall und Fall verlassen hast und müsste jetzt mit dir völlig neu anfangen. Trotzdem wüsste ich nicht, ob es mit uns noch mal etwas werden könnte. Lass mir Zeit, wenn es mit der anderen Frau nichts wird, können wir es vielleicht versuchen, aber auch das kann ich dir nicht versprechen. Und nun lass‘ uns zum Aumeister gehen und etwas trinken. Da kannst du mir ein bisschen von deinem Leben erzählen.“
Ingeborg trocknete die Tränen und sie machten sich auf den Weg. Im Biergarten gab sie stockend zu, damals schofelig gehandelt zu haben und jetzt habe sie gemeint, es wieder gut machen zu können. Dann berichtete sie, sie sei zwei Jahre mit einem gut verdienenden Banker zusammen gewesen, der jetzt seine Stellung verloren und sie deshalb fort geschickt habe, sie wisse also auch, was das abrupte Ende einer Liebe bedeute. Als Bier und Brezeln verzehrt waren, sagte Ingeborg langsam: „Entschuldige bitte meinen erotischen Überfall vorhin. Ich hoffe, dass ich dir ein bisschen Freude bereitet habe und danke dir, dass du dir Zeit für mich genommen hast, Jetzt wünsche ich dir, dass du diese Frau gewinnst und mit ihr dein Glück findest.“ Damit stand sie auf, küsste Ferdinand auf die Stirn und verschwand.
Ferdinand war noch immer vollkommen durcheinander. Ihr unbeherrschter Überfall hatte ihr in seinem Vergleich einen dicken Minuspunkt eingebracht, obwohl er ihn genossen hatte. Sie konnte nach ihrer abrupten Trennung doch nicht annehmen, dass sie beide nahtlos weiter machen könnten. Tanja war da viel zurückhaltender, wenn sie ihm auch neulich in ihrer Verzweiflung um den Hals gefallen war. Doch schlug ihm sein Gewissen, dass er Inge nicht zurück gewiesen und ihr damit eine unberechtigte Hoffnung gemacht hatte, um ihr schließlich doch mit seiner Zurückweisung weh zu tun. „Sie konnte doch nicht annehmen, dass ich drei Jahre gesessen und auf sie gewartet habe, nach dem, was sie mir angetan hat.“, tröstete er sich. „Hoffentlich wird es mit Tanja etwas, leider habe ich etwas getan, was sie nicht verstehen stehen wird, irgendwann muss ich ihr das sagen.“