Читать книгу Vier von der Infanterie - Ernst Johannsen - Страница 6

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IN DEN TOD

Sie sind marschiert, die Vier, in Sonne,

Regen und Wind, im Dreck der Straßen,

in Eis und Schnee – durch blühendes

Land, durch erstorbene Wildnis – an

Tagen, in Nächten, nach Siegen und

furchtbaren Verlusten. –

Das französische Dorf ist noch bewohnt. Hauptsächlich von Frauen, Kindern und Greisen. Vom Schulgebäude flattert die Rote-Kreuz-Fahne. Frauen arbeiten in den Gärten hinter den aus Sandstein erbauten Häusern. Kinder sehen zu, wie Gefangene die Dorfstraße vom fußhohen Schmutz reinigen. Überall das lebhafte Treiben der Etappe: Wagenkolonnen, Lazarettautos und Infanterie, Pioniere, die Schmalspurgleise legen und Verpflegungsempfänger beim Proviantdepot.

Der Abschuss eines schweren französischen Geschützes tönt, trotz des entfernten, leise rumorenden Geschützdonners der Front, schräg vom trüben Himmel herab, als stände es dort in den schweren Regenwolken. Einige Sekunden lang ist es still. Mit feinem »Jiii«, welches zum heulenden »Juuu« übergeht und mit fürchterlich drohendem »Rommm« endet, saust die Granate heran, gleichsam in satanischer Freude aufschreiend. Da steigt schon drüben im Dorf majestätisch ein riesenhafter Springbrunnen aus Erde, Qualm, Steinen, Staub und Splittern. Ein betäubendes Krachen, die erste Granate ist eingeschlagen. Über die Dächer schwebt eine Qualmwolke. Flüchtende, auf die eigenen Geschütze schimpfende Bewohner, eilen in tiefe Keller. Eine schreiende Frau bricht vor der zerrissenen Leiche ihres Kindes zusammen. Vor Minuten noch spielte es dort, wo jetzt ein riesiges Loch gähnt. Im Lazarett horchen die Kranken und Verwundeten auf. »Wie – er schießt hierher? Man soll uns abtransportieren – in der Etappe fallen, das fehlt noch.«

Wahrscheinlich galt der Schuss dem Munitionsdepot an der Bahnlinie rechts vom Dorf, es ist aber möglich, dass der Franzose ohne Rücksicht auf die Bewohner das Dorf selber zerstören will.

Infanterie, fertig zum Abmarsch nach vorn, wartet auf den Befehl zum Antreten. Von den vier »Unzertrennlichen« liegen Job und Lornsen auf dem Fußboden einer Küche und spielen Schach. Die Figuren sind aus weichem Stein geschnitten, das Feld ist mit Kreidestrichen auf den Fußboden gezeichnet. Der Dritte im Bunde, der Student, dem sie den Beinamen »Philosoph« gegeben haben, sitzt auf einer Steinbank bei einem französischen Mädchen. Es hat rostig-rote Haare, fast weiße Augenwimpern und graublaue Augen. Auf der einen Wange keimt aus einem Muttermal ein Büschel farbloser Haare, dazu ist das blasse Gesicht mit Sommersprossen bedeckt. Es wäre sicherlich vor dreihundert Jahren eines Tages als Hexe verbrannt worden. Aber es ist immerhin ein Mädchen, das ist für die Front viel, unter Umständen außerordentlich viel. Müller, der Vierte im Bunde, Sohn eines Bauern, kritzelt einen Feldpostbrief.

»Was – das?«, fragt das Mädchen den Studenten.

»Bum-bum, Mademoiselle, Granaten Ihrer Landsleute. Unhöflich, Euch mit zu beschießen.«

»Oh, Monsieur, la guerre! Malheur la guerre, pour vous et pour nous! Verrückt der Krieg! Alle Menschen verrückt! Ich weglaufe!«

»Bleiben Sie lieber. Sie können unterwegs sterben. Auch hier ist ein Keller im Hause.«

»Stroh ist auch drin, nehmt nur gleich Kissen mit!«, grinst Müller, der das Wort Keller verstanden hat.

»Ich will zu meinen Leuten.«

Ein Infanterist tritt ein und behauptet, es sei eine 22-cm-Granate gewesen. Wer mitginge, sich was zu »verpassen«. Die Unteroffiziere machten zwar Krach, aber daran sei nichts gelegen. Er brauche zum Beispiel Fußlappenstoff und Taschentücher. Die Einwohner seien in die tiefen Keller gelaufen.

»Was sagt er?«, fragt das Mädchen.

»Er ärgert sich, dass ich bei Ihnen sitze«, antwortet der Student. »Der Herr ist neidisch«, und er versucht, in das ausgeschnittene Kleid zu sehen. Sie bemerkt es mit Wohlgefallen.

Wieder singt es spitz auf und geht in ein Heulen über. Wieder kracht es auseinander und wirft Erde, Steine, Qualm und Splitter hoch. Eine Telegraphenstange kippt in den Trichter.

Das Mädchen läuft schreiend in den Hauskeller, der Student hinterher. Job und Lornsen packen die Schachfiguren ein, nehmen ihre Gewehre, Stahlhelme, Gasmasken, Tornister, machen sich marschfertig und gehen die Straße entlang nach dem Trichter des letzten Schusses.

»Setzen wir uns hinein«, sagt Job.

Kameraden gesellen sich zu ihnen. Job, als alter Infanterist reich an Erfahrungen, weiß, dass selbst nach 20 Schuss mit größter Wahrscheinlichkeit eine Einschlagstelle nicht zum zweiten Male getroffen wird. Da niemand mehr Wert darauf legt, als Held zu erscheinen, schützen sie ihr Leben, wo immer es möglich ist.

»Ich habe Angst«, flüstert aufgeregt die Französin.

Nimmt der Student ihre Hände: »Hier im Keller sind Sie geschützt, außerdem bin ich doch bei Ihnen.«

Erbleichend lächelt sie schwach über sein Französisch.

»Abah, Maschin kaputt, Maschin kaputt!«

»So, so!«, meint er gedehnt, »Maschin kaputt!«, und wird merklich kühler. »Hoffentlich ist es nicht wahr.«

Leider sei es wahr. Nun habe der Herr wohl keine Lust mehr, im Keller zu bleiben.

Der Student betrachtet ihre rostroten Haare, die weißen Wimpern, die unzählbaren Sommersprossen und das Muttermal mit dem Büschel Haare. »Ein großes Unglück ist das.«

»Das mit der Schießerei?«, fragt sie.

»Nein, das andere.«

»Viele Kinder lasst ihr uns hier, was werden unsere Männer sagen, wenn sie heimkommen?«

»Wird die große Nation nicht schlechter durch«, sagt er ärgerlich.

»Wer bezahlt, mein Herr?«, macht sie die Gebärde des Bezahlens.

»Viele bezahlen mit ihrer Gesundheit, mein Fräulein, und liegen in den Lazaretten.«

Der dritte Schuss krepiert im Hof des Lazarettes. Fensterscheiben klirren, Dachziegel fliegen herum, Bäume brechen geknickt. Der lnfanterieleutnant sammelt seine Leute, ein Feldwebel schreit umher, Unteroffiziere hasten durch Häuser und Scheunen, endlich ist alles, bis auf den Studenten, zusammen. Job holt ihn. »He!«, schreit er in den Keller hinein, »he – antreten! Das passt Dir wohl so, was? Dein Gepäck liegt noch oben.«

Die Infanterie marschiert ab. Etliche tragen lange Knüppel, um Kameraden, die unterwegs verwundet werden, besser wegschleppen zu können. Wie die Spitze den Dorfausgang erreicht hat, heult wieder eine Granate heran und detoniert mit dumpfem Krachen links vom Dorf im Munitionsdepot. Eine Druckwelle erschüttert die Luft, Handgranaten und Minen krachen rudelweise auseinander, eine mächtige, schwarze Wolke steigt auf. Balken, zersplitterte Bäume, zerstückelte Leiber wirbeln umher. Dann explodiert ein Munitionszug. Bis ins Dorf hinein werden Steine und Holzteile geschleudert. Was noch lebt, flüchtet mit Entsetzen auf das Dorf zu.

»Solltest eigentlich gleich hierbleiben«, wendet sich Job plötzlich an den Studenten, »könntest gleich ins Lazarett gehen und ein paar Tage abwarten.«

»Vielleicht wollte Philosoph auch nichts weiter, als sich was wegholen, damit er so schnell wie möglich wieder aus dem Graben kommt«, meint Lornsen.

»Das ist der blanke Neid«, lacht der Student und tut, als hätten sie recht mit ihrer Vermutung.

»Na weißt Du«, spottet Müller, »da sind mir die in Sedan doch lieber.«

Sie machen ihre Witze über das Bordell in Sedan. Der Student behauptet, um Job, der verheiratet ist, zu ärgern, dass dort nur verheiratete Männer zu finden seien.

»Lasst uns eins singen«, meint endlich Müller.

Job hat es gedichtet, die Melodie stammt vom Studenten:

Im schmalen Hohlweg

Ein Riesentrichter,

Drei Pferde, zwei Mann –

begeistert trat ich heran.

singt Müller. Die anderen fallen ein:

Hier ein Kopf

und dort ein Arm,

kunterbunt und Brei

in des Straßenschlammes Einerlei.

Ein Unteroffizier schüttelt missbilligend den Kopf. Müller sieht es und brüllt mit ganzer Kraft der Lunge:

Kleine süße Maden,

dicker Brummer Schwaden,

Briefes Ende mir zu Füßen:

(Heben sie die Stimmen, um sie weiblich klingen zu lassen.)

,Unser Kindchen lässt dich grüßen.‘

Schön ist der Soldatentod, sonderlich am Abend

wenn die Sonne blutigrot

tut das Herz erlaben.

In den Gesichtern steht ein ironisches Grinsen. Einmal, als es hieß »Singen!«, sangen sie auch dies Stückchen. Der Feldwebel fuhr dazwischen und verbot »solch Mistzeug, solch rotes Etappenmistzeug«. Als es dann wieder hieß »Singen!«, sang niemand. Der damalige Leutnant ließ umkehren (es spielte sich weit zurück in der Etappe ab), eine halbe Stunde Marsch zurück, dann kehrt und wieder der Befehl »Singen!« Kein Mensch sang. Wer dazu neigte, wurde von dem Neben- oder Hintermann angezischt. Bei derselben Straßenecke wieder kehrt und wiederum zurück, diesmal nur zehn Minuten. Das gleiche Schauspiel von neuem. Endlich wurde es dem Leutnant langweilig. Er hielt eine drohende Ansprache. Da trat Job vor die Front.

»Kerl! Was wollen Sie?«

Ob er sprechen dürfe.

»Ja, mach die Brotluke auf.«

»Wenn sie nicht singen dürfen, was sie wollen, singen sie überhaupt nicht, die Kameraden, soweit ich es überblicken kann.«

Er habe befohlen, zu singen, weiter nichts, was sie sängen, daran sei ihm »ein Dreck« gelegen, zog sich der Leutnant aus der bedenklichen Situation. »Eintreten!«

Als es dann hieß: »Singen!«, ertönte aus Jobs Kehle prompt wieder das gleiche Lied. Die anderen fielen ein und von dem Tage an stieg sowohl das Ansehen Jobs als auch das Ansehen des Liedes.

Hoch bedeckt der graue Straßenbrei die Chaussee. Die Stahlhelme gespenstisch auf den Köpfen, die »Knarren« umgehängt, waten die Leute vornübergebeugt durch den Schlamm. Der Leutnant trägt einen Spazierstock; die Mode, »Krückmänner« zu benutzen, ist weit verbreitet. Manchmal sieht man Leute mit knorrigen Stöcken, unsoldatisch und doch wieder angesichts Stahlhelm, Gasmaske und Gewehr seltsam kriegerisch, sich dahinschleppen. Sind dann die Uniformen über und über grau bekrustet vom Dreck der Trichter und Gräben, so sehen sie mit ihren bleichen Gesichtern, ihren tiefliegenden Augen aus wie Wesen aus einer anderen Welt.

Als nächstes folgt das sogenannte »Schornsteinfegerlied«. Es ist weit an der Westfront bekannt und sehr beliebt.

Klosterschwestern freuet euch,

Morgen wird gefegt bei euch,

simserim, simsim.

heißt es in dem Liede und:

Schwester Klara war sehr eigen,

ließ sich jeden Besen zeigen,

simserim, simsim …

Von den Vieren, die eine kleine Kameradschaft bilden in der großen, die die Front umspannt, geht die Rede, dass der Tod sie nicht haben will. Diese »Parole« hat natürlich ihre Gründe: einmal verließen sie einen Unterstand, kurz darauf drückte ihn eine schwere Mine ein, ein anderes Mal fiel eine Fliegerbombe zwei Meter vor ihnen auf einen Weg und krepierte nicht, bei einem Sturm blieb alles im Sperrfeuer liegen, nur die Vier kamen heil zurück und ähnliche Fälle mehr. Sie teilen alles redlich miteinander. Müller, der Bauernsohn, sorgt für Zusatzportionen in Form von väterlicher Wurst. Der Student für Zeitungen und Bücher. Job, der drei Kinder hat und Vorarbeiter in einer Fabrik ist, spielt so eine Art Hausvater, er schützt ihr Leben, wo er kann, und da er der Älteste ist und viel Grabenerfahrungen besitzt, ordnen die anderen sich meistens unter. Der Techniker Lornsen ist von einer Pionierabteilung aus zu ihnen gekommen. Er hat Tabakbeziehungen und sorgt für einigermaßen anständige Zigarren.

»Wenn wir nicht so feige wären«, sagt Job, »gingen wir nicht mehr in Stellung.«

»Wir sind doch Helden, Mensch!«, lacht der Student auf. »In den Zeitungen steht es doch jeden Tag zu lesen.«

»Wir sind«, dreht sich ein Vordermann um, »die besten Soldaten der Welt, daran ist nicht zu rütteln.«

»Egal«, schreit Job. »Ich habe neunzehnvierzehn nicht ,Hurra‘ gebrüllt, was geht mich der Dreck an.«

»Hallo!«, antwortet Müller, »sollen wir jetzt plötzlich sagen: Bitte, meine Herrschaften, marschiert nur ein in Deutschland.«

»Was Vaterland und Heimat«, entgegnet Job, »wir Industriekerls haben das nicht, ich zum Beispiel habe in Köln, Berlin, Hamburg, Essen, Rom und Kopenhagen gearbeitet, was heißt bei mir Heimat? Heimat heißt bei mir Mietskasernen, Straßenkrach, Häusermeer, Prolet hier, Prolet da.«

»Nee, Philosoph, uns hängt der Dreck zum Halse heraus«, wendet sich Müller an den Studenten. »Warum gehen wir, Deiner Meinung nach, denn noch in Stellung?«

»Wir gehen nach vorn«, antwortet der Student, »weil wir zu feige sind, nach hinten zu gehen. Wir fürchten die Bestrafung wie kleine Kinder den Schornsteinfeger. Als ob es für uns überhaupt noch eine Bestrafung gibt. Festung – das muss ja fast eine Erholung sein. Außerdem sind wir Herde. Eine Herde sehnt sich immer nach Führung, vorläufig werden wir nach vorn geführt – also gehen wir nach vorn. Vielleicht kommen eines Tages Führer, die uns nach hinten stürmen lassen. Wir warten vielleicht schon darauf, aber es wollen sich keine zeigen. Sklaven sind wir im Grunde und keine geborenen Helden, das ist es. Wenn hier ein Held ist«, ruft er laut, »so trete er nach rechts heraus, haue dem Feldwebel ‚Grabengespenst‘ in die Fresse, setze sich auf einen Kilometerstein und sage: hier sitze ich, ich kann nicht anders, Amen.«

Alles lacht durcheinander.

»Hat sich kein Schwein gemeldet«, höhnt Job. »Alles Mistvieh. Alles nur reif und gut für Massengräber. Diesmal gehe ich zum letzten Mal in Stellung, das schwöre ich Euch.«

»Du hast geschworen, merkt Euch das. Er hat geschworen!«, ruft Müller.

»Alle Vier«, flüstert erregt der Student. »Oder nicht, Lornsen?« Lornsen will auch dabei sein. »Aus Kameradschaft«, sagt er.

»Ihr Affen, das werdet Ihr schon bereuen«, dreht sich ein Gefreiter um.

»Was willst Du denn!«, fährt der Student auf. »Es ist eine Auszeichnung für einen Menschen, wenn man ihn mit einem Tier vergleicht! Dies scheinst Du noch immer nicht zu wissen. Probiere es und sage zu einem Tier – Mensch. Es wird schwer beleidigt sein.«

»Wieder was«, bemerkt Job, »quassel nur weiter, Philosoph, das ist ganz hübsch.«

»Einen Vogel hat jeder von Euch Vier«, meint giftig der Gefreite.

»Das ist so mit den Tieren«, lacht der Student, »sie sind eine Erholung vom Menschen. Bewusste Grausamkeit kennt nur der Mensch und vielleicht schwach gewisse Affensorten. Bewusst raffiniert grausam kann nur der Mensch sein. Wildlebende hungrige Katzen spielen nicht mit Mäusen. Und das Schönste ist, dies Geschöpf Mensch erreichte die Spitze seiner Grausamkeit innerhalb der eigenen Gattung. Langsames Aufkochen in Wasser oder Wein, langsames Braten, langsames Zerstückeln und was dergleichen mehr ist. Und dann diese Verlogenheit, diese innere Stillosigkeit. Zum Beispiel: Schutzvereine für Tiere und Flammenwerfer für Menschen im Krieg, Dankgebete nach der Schlacht, Strafmandat, wenn du, nur mit der Hose bekleidet, durch die Straßen läufst oder ohne Badeanzug badest. Dabei einen ungeheuren Haufen geschlechtlicher Witze und jeder seine geschlechtliche Praxis nebst schlechtem Gewissen. Schweigen wir, es ist alles so sonnenklar. Der Mensch leidet außerdem an einem Größenwahn, der zum Heulen ist. Gottes Ebenbild nennt er sich, die Welt soll seinetwegen gemacht worden sein, wenigstens aber die Erde. Er allein hat eine Seele, er allein lebt nach dem Tode weiter, er allein kann denken. Und wie weit hat er es gebracht! Wundervoll weit, ganz furchtbar wundervoll.«

»Dazu ist noch mehr zu sagen«, spinnt Lornsen den Faden weiter. »Was tut so ein durchschnittlicher Bergmann, Fabrikarbeiter, Bauernknecht, Bürger?«

»Er isst, schläft, arbeitet, amüsiert sich, teils geschlechtlich, teils mit Hilfe des Magens«, antwortet der Student.

Fährt Lornsen fort: »Gut, sehr gut, nun passt einmal auf, was tut ein durchschnittliches Tier, sagen wir ein Affe, ein Hund, eine Maus? Na, los, Philosoph.«

»Das Gleiche.«

»Sehr gut, sehr gut«, lacht Job. »Meine Herren, meine Herren!«

»So, nun kann man die ganze Sache umdrehen und sagen: Hund, Affe, Ameise – überhaupt die Tiere sind den Menschen überlegen, denn sie machen dasselbe, – aber ohne Straßenbahn, Parlament, Gesetzbuch, Kirchen, Eisenbahnen, Granaten, Mietskasernen, Bordelle, Hochöfen, Brücken und Feldwebel. Da nun die Majorität auch nur schläft, frisst, Fraß beschafft und sich amüsiert, so ist der Mensch ein verunglücktes Wesen, eine Fratze, ein Versehen Gottes. Ernsthaft gesprochen: man kann den Menschen einmal als Spitze sehen, das andere Mal als ein Ende, als eine Entartung. Das steht jedem frei.«

»Kunst, Kultur, Geist, Seele«, ruft der Student, aber er lacht dabei ironisch.

»Dann bleiben«, meint Müller, »nur die wenigen als Rechtfertigung. Aber wozu dann die anderen, wozu da Menschen, warum überhaupt nicht nur Pflanzen, nichts als Pflanzen?«

»Hurra!«, ruft Job. »Auch unser Müller wird philosophisch.«

»Macht nicht so einen Krach«, dreht sich ein Vordermann um.

»Der Krach vorne gefällt Dir wohl besser, was?«, höhnt Job.

»Wahrscheinlich hat das meiste in der Welt keinen Sinn«, meint der Student nachdenklich.

»Fliegerdeckung! – rechts und links in den Straßengraben!«, tönt es von vorn her durch die Reihen. Alles springt in den Straßengraben. Job schaut erstaunt auf, sieht die Flieger tief herankommen. »Meine Herren, da drüben hin.« Er läuft über das Ödland und legt sich in eine Bodensenkung. Müller, Lornsen und der Student folgen. Gespannt schauen sie auf die Flieger.

»Das gibt Verluste«, meint Job. »Fliegen die Hunde tief!« Flugabwehr spuckt Schrapnellwolken hoch. Die Schüsse sitzen zu weit. Maschinengewehre knattern. Die Flieger haben die Infanterie lange entdeckt. Zehn Bomben krepieren rechts und links der Straße und vier im Straßengraben.

»Meine Herren«, flüstert der Student und beißt die Zähne wütend zusammen.

»Gut, dass wir hier lagen«, steht Job auf.

Sie gehen wieder nach der Straße zurück. Ein Mann läuft schreiend querfeldein, beide Hände am Hals. Zehn Tote: Arme, Beine und Köpfe zerrissen. Zwei Mann sind überhaupt nicht wiederzufinden. Verwundete stöhnen und heulen. Der Leutnant wischt sich Gehirnteile aus dem Gesicht. Fünf Schwerverletzte verbluten. Ein junger Mensch, der zum ersten Mal auf dem Weg nach vorn ist, starrt entsetzt auf einen Brei aus Knochen, Erde, Grasbüschel, Blut und Fleisch.

Die Toten werden fortgeschafft und die Verwundeten von einem Wagen mitgenommen. Dann geht der Marsch weiter.

»Das ist ein böser Anfang«, sagt jemand, dem noch immer die Hände zittern. Die Gespräche flauen ab, viele marschieren wieder mit gesenktem Kopf.

»So fahren sie nacheinander dahin. Wann kommen wir? Die große Mühle erfasst noch alle«, bricht der Student das Schweigen. »Der Dreck, meine Herren, hängt einem zum Halse heraus.«

Er bekommt keine Antwort.

»Meine Herren« ist ein Ausdruck, der an der ganzen Front Mode geworden ist: »Meine Herren, ein Hundewetter.« »Meine Herren, wo habe ich meine Zigaretten.« »Meine Herren, der Franzmann wird bald wieder Dunst machen.« So schwirrt das »meine Herren« umher. Wahrscheinlich soll es die Redeweise der Offiziere, zum Beispiel: »Meine Herren, ich denke, wir frühstücken. Meine Herren, was halten Sie von meinem Vorschlag« ironisch nachahmen. Später ging der Sinn verloren, die meisten wissen nicht, warum sie eigentlich bei jedem fünften Satz »Meine Herren« sagen. Im Laufe der Zeit hat sich eine Art Frontsprache herausgebildet. Verwundet werden heißt: einen verpasst bekommen – Brot: Karro einfach – Unterstand: Bunker – Granatfeuer: Dunst, leichten oder schweren Dunst – flüchten: stiften gehen, türmen – beschossen werden: beaast werden, befunkt werden – Telegraphenleitung: Quasselstrippe – Etappenmann: Etappenschwein – Orden: Blechladen, Klempnerladen – leichte Verwundung: Heimatschuss – Gefahrfreie Beschäftigung: Druckposten – Geschützfeuer ohne Grund: Stänkerei – mitnehmen: verhaften, verpassen – schweres Feuer: Schlamassel …

Die Infanterie passiert eine Gruppe Gefangener, die den Straßendreck zu einzelnen Haufen schaufeln.

»Kamerad, Brot«, bettelt ein hohlwangiger Franzose, indem er neben Job herläuft. Der Posten bei den Gefangenen ruft den Bettelnden zurück.

Job bricht ein Stück Brot durch und wirft die Hälfte dem stehengebliebenen Gefangenen zu. Es fällt in den Straßenschmutz. Der Franzose springt darauf zu, wischt es notdürftig am Ärmel ab und schlingt darauf los.

»Es ist eine Schweinerei«, brummt Müller, »alles hungert, wie lange dieses hungernde Land wohl noch aushalten soll.«

Der Feldwebel »Grabengespenst« schnauzt Job an: »Fressen Sie Ihren Kram selber, verstanden? Geben Sie es Ihren Kameraden, verboten das.«

»Ich mache was ich will mit meinem Karro, Herr Feldwebel, der Kerl hatte Hunger.«

»Und ich«, geht der Feldwebel weiter, »sage Ihnen, das gibt‘s nicht, verstanden?«

»Nee«, antwortet Job trocken, aber der Feldwebel zieht vor, das »Nee« zu überhören.

Eine deutsche Jagdstaffel hat hoch oben einen französischen Flieger gefasst. Mit großem V drücken sie den Franzosen herab. Er lässt sich abtrudeln, fängt sich wieder und versucht, in Richtung Front zu entkommen. Da löst sich der erste Flieger von der Staffel, saust steil wie ein Raubvogel hinab und behämmert den Franzosen mit seinem Maschinengewehr. Er fährt steil eine Kurve und beide sausen aneinander vorbei. Wieder setzt sich der Deutsche hinter den Gegner, eine kleine Rauchfahne beim Franzosen, dann eine lange schwarze – er brennt. Man sieht deutlich die beiden Insassen. Das Flugzeug stürzt seltsamerweise nicht ab, es fliegt in großer, wenig geneigter Kurve mit laut singendem Motor abwärts und die Rauch- und Flammenfahne flattert gespenstisch mit. Man sieht, wie die Insassen in der Luft verbrennen.

»Abstürzen, abstürzen«, stottert der Student, »das da ist unerträglich.«

»Die haben die Hitze unterm Balg, die verkohlen in der Luft«, meint Lornsen, »aber vielleicht sind sie schon mit dem Maschinengewehr kaputt gemacht.«

Endlich neigt sich das Gerippe vornüber und knallt zu Boden; Maschinengewehrmunition knattert und der Trümmerhaufen qualmt weiter. Der deutsche Flieger kreist über dem toten Gegner und fliegt mit der Staffel heimwärts.

»Du wolltest mir noch was erzählen«, wendet sich Job an Lornsen.

»Ach, nichts weiter«, brummt Lornsen und gibt jedem eine Zigarre.

»Kannst nicht wissen. Schieß mal los!«

Lornsen steckt seine Zigarre in Brand, besinnt sich, schüttelt den Kopf und erzählt dann doch: »Ihr wisst ja, als ich raus musste, habe ich vorher geheiratet. Der erste Urlaub kam, schließlich auch der zweite. Ganz plötzlich hieß es, ihr wisst es ja: ‚Heute Mittag können Sie fahren‘. Na – ich dachte, da willst du sie doch mal überraschen, wird die sich freuen. Ich schleife zwei Sandsäcke voll Äpfel mit und haue ab. Gegen Abend, es dämmerte, kam ich die Treppe rauf. Warum ich nicht läutete, weiß ich nicht. Ich fasste den Drücker an, die Tür war nicht verschlossen. Trete ein und denke: sieh, da hat ein Bettler Gelegenheit, zu klauen. Im Schlafzimmer brannte Licht. Ich machte leise die Tür auf, meine Herren – nee – platt ist gar nichts, die ganze Bude schaukelte. Ich dachte, ich wäre wahnsinnig geworden. Liegt sie in der Falle und dabei hockt so ein Junge, vielleicht zwanzig oder neunzehn Jahre alt. Sie schreit auf, zieht die Decke heran und über den Kopf. Und er – der Junge, starrt mich an, starrt mich an wie eine Puppe. Dann hebt sich langsam seine rechte Hand und legt sich auf den Mund. Ich stand und stand und – was weiß ich, vielleicht waren es nur Sekunden. Nachher dachte ich, es wären mindestens zehn Minuten gewesen. Langsam wandert mein Blick von ihrem nackten Knie nach der Ampel, von da nach dem Spiegel im Schrank und zurück nach dem Jungen. Endlich begreife ich richtig – fasse einen Stuhl und setz‘ mich hin. Ihr wisst ja, dass ich einen Revolver habe, nun – den machte ich langsam klar und legte ihn auf die breite Kante meines Bettes. Sie schluchzte unter der Decke. ‚Decke weg!‘ schrie ich, schön muss sich das angehört haben. Gehorsam nahm sie die Decke vom Gesicht. Ich stand auf und nahm den Revolver in die Hand, plötzlich musste ich grinsen. Ihre Augen öffneten sich weit, es sah aus, als würde sie sogleich irrsinnig. ‚Decke ganz weg!‘, schrie ich. Sie wollte nicht, ich hob den Revolver und hielt ihn auf den Jungen. Er riss sofort die Decke weg. Sie krümmte sich wie ein Wurm. Nicht einen Fetzen hatte sie am Leib. Schön sieht sie aus, dachte ich, sehr schön. ‚Gebt euch einen Kuss‘, kommandierte ich, – ich zähle bis drei. Bei zwei starrte sie abwechselnd auf mich und den Revolver, bei drei küsste sie der Junge. Das Seltsamste war, dass er sie nicht etwa nur anhauchte, sondern mit großer Innigkeit küsste.«

»War der Kerl auch nackt?«, fragt Job.

»Auch, ja. Sah aus wie ein Schulbube. Abgesehen von der Fresse. Ich musste auflachen. Sie grub ihren Kopf in das Kissen, er senkte den Blick. ‚Noch einmal!‘, schrie ich. Es geschah nichts. Der Junge schloss nur die Augen und stöhnte: ‚Nicht schießen, nicht.‘ Da schoss ich in die Mauer. Die Frau sprang auf und wollte nach der Tür. Ich schloss ab. ‚Noch einmal, wenn Ihr leben bleiben wollt‘, sagte ich langsam. Da hob sie den Kopf und sah auf den Jungen. Der beugte sich herab und wollte sie wieder küssen – aber sie fuhr ihm plötzlich mit den Nägeln ins Gesicht, dann lief sie zu mir und hing sich an mich. Ich wehrte sie ab, dass sie lang hinschlug. Und wie sie nun so fiel, dachte ich, schön braun ist ihre Haut. Ich schloss die Tür auf und befahl dem Jungen, sein Zeug zu nehmen. Mit einem Fußtritt des Infanteriestiefels flog er raus und als ich sah, dass mein Stiefel bei ihm einen Abdruck hinterlassen hatte, musste ich wieder lachen.«

Mit der herabsinkenden Dämmerung beginnt es zu regnen. Himmel, Straße, Land und Wald vereinigen sich zu einem trüben Grau.

»Rechts ran!« Ratternd wälzt sich eine Munitionskolonne vorbei. Die ausgehungerten Gäule liegen schwer im Zug. Begleitleute, in Zeltbahnen gehüllt, hocken wie Gespenster auf den Wagen. Sie haben es schwer, sie können im Feuer nicht vor den Pferden laufen, hören im Poltern der Wagen kaum das Heranheulen der Granaten und sind den Splittern besonders preisgegeben. Über gefährliche Striche jagen sie, was die Pferde hergeben, und wenn sie in stockdunkler Regennacht unter Granatfeuer vorüberpoltern, ist es, als geistere ein Zug der Hölle vorbei.

»Und da?«, fragt Müller.

»Ja, und da habe ich getan, als sei nichts weiter. Bin in die Küche gegangen, habe Tee gekocht, dann gebadet und gefuttert. Schließlich kam sie an, stellte sich in eine Ecke und winselte herum. ‚Lange Fahrt gehabt‘, sagte ich fröhlich. ‚Bin verdammt müde.‘ Sie starrte mich an wie ein Wunder. Wozu alles genau erzählen, jedenfalls tat ich so, als sei nichts, aber ich fasste sie auch nicht an. Als sie einmal meinen Arm berührte, sagte ich kurz: ‚Lass das!‘ Darauf sprach ich vom Wetter. Schließlich stieg ich in meine Falle, erzählte noch vieles von der Fahrt, immer im fröhlichen Ton und tat dann so, als wäre ich eingeschlafen. In Wahrheit lag ich noch zwei Stunden wach. Sie wusste nicht, was das alles bedeutete. Jeden Tag flehte sie um Verzeihung. Wenn sie wieder still war, sprach ich sofort von ganz gleichgültigen Dingen, als hätte sie nichts gesagt.«

»Böse Rache«, bemerkt Müller.

Lornsen nickt. »Am letzten Tag kroch sie auf den Knien zu mir heran. Beinahe hätte ich meine Rolle vergessen. Ich redete von der Abreise so, als läge sie nicht am Boden. Als ich ihr dann zum Abschied freundlich lächelnd die Hand gab, markierte sie Ohnmacht. Na, und dann schrieb ich und sie schrieb und in jedem Brief dasselbe: ‚Sag nur ein Wort darüber, verzeihe mir, höre mich an.‘ – Ich tu‘s nicht. Was nun, was?«

Er bekommt keine Antwort. Schließlich meint Job, vielleicht käme er doch nicht zurück, wenn aber, nun, er werde schon wissen, was zu tun sei, jedenfalls habe er sie sehr gern und seine Rache sei »saftig« gewesen.

»Wenn ich falle, gibst Du ihr einen Brief von mir, er ist in meiner Rocktasche.«

Job sagt zu.

»Dazu kann man nichts sagen, Lornsen. So etwas muss jeder nach seiner Art erledigen«, meint Müller.

Nimmt der Student den Stahlhelm ab: »Wenn wir uns etwas gestatten, so ist damit noch nicht gesagt, dass wir den Frauen das Gleiche erlauben.«

»Der redet«, lacht Job, »als ob er vierzig wäre.«

»Die Ehefrau und Mutter gehört nur ins Haus und nicht ins Parlament, nicht auf den Lehrstuhl. Das Gebiet der Frau ist das weite Gebiet des Kindes, alles andere, was liegt daran.«

»Ja«, fällt Job begeistert ein, »was die Dichter und Schriftsteller sich alles zu diesem Punkte leisten, Philosoph hat Recht, da lassen sie in ihren Romanen und Geschichten die Männer sich vor den Weibern betragen wie Idioten, jede Gans, die den Dreck liest, muss ja glauben, sie sei ungeheuer viel wert.«

»Am verrücktesten«, behauptet Müller, »benehmen sich die Amerikaner. Na, das wollen ja auch erst Menschen werden, vorläufig sind es Kinder.«

»Viele Esel tun ja auch so, als seien sie im Paradies, wenn ihr Engel gnädig die horizontale Lage gestattet«, setzt der Student hinzu.

Schaut Lornsen ihn mit ernstem Gesicht an: »Hast wohl noch nie eine gern gehabt?«

»Aus solchen Worten so zu schließen, ist falsch«, antwortet er mit jugendlicher Überheblichkeit.

Die Straße geht steil an. Der Regen tropft von den Stahlhelmen, saugt sich in die Kleidung, macht den Straßendreck noch schlimmer. Die Gespräche verstummen. Nur erst im Graben sein! Dieser ewige verfluchte Marsch aus und in Stellung. Immer länger sitzt man vorn, immer schlechter wird der Leuteersatz. Schon kommen Neunzehnjährige an. Und drüben – da scheinen sie alles zu haben: Gummistiefel, Lederjacken, Wein, tadelloses Fußzeug, Menschen, Menschen und Granaten, fünf auf jede deutsche.

Nachdem sie die Höhe erreicht haben und es nun wieder abwärts geht, gibt‘s »Dunst«. Nicht nur die Straße liegt unter Feuer, auch weit nach rechts und links streut der Gegner. Zunächst wird haltgemacht, aber das Feuer liegt so unregelmäßig, dass nichts übrigbleibt, als so schnell wie möglich hindurch zu kommen.

»Ausgeschwärmt vorgehen bis ins Tal!«

»Nun geht der Mist hier schon wieder an«, flucht Job. »Lasst sie nur ausgeschwärmt vorgehen, wir gehen halbrechts quer über das Feld, wir machen einen großen Bogen. Kommt Kinder.«

»Machen wir«, nickt Müller, und die Vier ziehen ihren Weg allein.

Mitten auf der Straße wirbelt eine Granate zwischen drei Mann den Straßenkot hoch, sie werden umgerissen und bleiben still liegen. Weiter links knicken Bäume um, zwei Mann schreien mit verzerrten Gesichtern. Einer springt hoch, vor ihm steigt die Wolke eines Einschlags, er schreit grell auf, bricht zusammen, kommt wieder hoch, kriecht weiter, sinkt um und bleibt winselnd liegen. Immer wieder heult es heran, bellt nervenerschütternd auf, Granate auf Granate. Jedes Heransingen und Heulen dringt tief ins Gehirn, spannt die Muskeln, beugt den Nacken, öffnet die Lippen zu einem ohnmächtigen Fluch.

Die Splitter der Sprenggranaten sausen mit unheimlicher Gradheit Millimeter hoch nach allen Seiten über den Boden, und ihr Lauf ist von feinen Strichen viele Meter weit gezeichnet. Da hilft es wenig, dass man sich in den Straßenschlamm presst, dass man den Kopf flach auf die Erde legt. Ist der Boden nicht allzu weich, machen diese verhassten Granaten flache Mulden statt Trichter.

Im Tal gibt die Infanterie in einer Batteriestellung Tote und Verwundete ab. Das Pferd eines Offiziers wird von einem Splitter getroffen und bricht zusammen. Der lange, spitzzackige Splitter hat den Bauch aufgerissen. Das Tier hebt den Kopf und schaut mit seinen ruhigen, dunklen Augen auf seinen Herrn. Die Vier stehen in der Nähe. »Muss erschossen werden«, sagt Müller. »Das geht Sie einen Dreck an!«, schreit wütend über den Verlust seines Pferdes der Offizier. »Gehen Sie beiseite.« Er erschießt es. Sofort stürzen sich Infanteristen darauf. Ein Mann sitzt beim Hals, säbelt mit seinem Taschenmesser ein Stück der Mähne hoch und schneidet darunter Fleisch heraus. Ein Schlachter trennt mit geübter Hand die besten Stücke ab und verteilt sie. Die Unteroffiziere haben Mühe, die Leute von dem Pferde fortzutreiben.

»In der Heimat haben viele nicht einmal dies«, schimpft Job.

Ballt Müller eine Faust: »Und viele merken gar nichts, rein gar nichts. Und viele freuen sich sogar, dass Krieg ist, dies Geldgesindel.«

»Wenn Schluss ist, räumen wir auf«, setzt Lornsen hinzu.

»Ach, räumen wir auf«, spottet Müller. »Willst Du die Bestie Mensch ausrotten? Der übliche Mensch ist ein Haufen Dreck. Für Geld tut er alles, auch wenn er schon davon hat. Die Geschichte ist eine Dunggrube. Ein Glück, dass ich nicht in der Stadt leben muss, dort würde ich krepieren vor Wut. Sollte ich heil heimkommen, dann wird nur so viel geschafft wie nötig ist, nicht mehr, nicht ein Deut mehr. Unser Feld, die Weide, der Hof, der kleine Garten vorm Haus, da will ich leben und auf alles andere pfeifen.«

»Wer das könnte!«, sagt Job vor sich hin. »Mir wird morgens die Fabrikpfeife heulen, mittags und abends, tagein, tagaus. Tagein, tagaus Maschinen, Dreck, Lärm, keine Sonne, keine Wolken, nichts als Fortschritt, nichts als ein Automat. Ist das lebenswert?«

»Die Maschine«, meint der Student, »wird uns eines Tages noch auffressen. Aber da nützt alles Reden nichts, da lässt sich nicht mehr viel machen. Der Stein rollt.«

»Mensch, Philosoph«, stößt ihn Lornsen an. »Was machen wir eigentlich mit den Millionen Pferdekräften, die wir in unseren Dienst gestellt haben? Himmel, wir brauchen danach gerechnet, ja nur noch zuzusehen!«

»Wir haben Zeitungen, Telephon, Gas, Elektrizität, Wasserleitung, tausend anderes. Zu dir kommen per Dampfer und Eisenbahn alle Dinge der Erde. Da stecken die Millionen Pferdekräfte drin.«

»Schön, und wozu das alles, wie?«, fragt Müller.

»Zuviel Menschen nah beieinander«, antwortet der Student.

»Und wir können gar nicht genug Dinge um uns bekommen: Schreibmaschinen, Patentbetten, Spazierstöcke, Schmuck, mechanische Klaviere, Telephonanschluß, Dampfheizung und Parfüm. Wir sind anspruchsvoll, da steckt viel Arbeit, da stecken viele Millionen Pferdekräfte! Möchte mal wissen, wie viel Pferdekräfte und Arbeitszeit auf der Erde allein in Diamanten, Parfüm, Tabak, Kaffee, Bier und Moden stecken. Was allein der ewige Wechsel der Weiberkleidung verschlingt.«

»Na und nun, wozu«, drängt Müller, »he – vielleicht Glück, vielleicht Kultur?«

»Glück nee, Glück ist gar nichts, was heißt Glück? Für eine Zeit glücklich sein, glücklich machen, das ist alles.«

»Wir können alles Mögliche, nur jedem Arbeit und Auskommen geben, das können wir nicht. Der Affe steckt uns noch zu tief im Schädelkasten«, lacht Job. »Aber eins können wir noch, Krieg führen, Menschen kaputt machen, zwischen uns selbst hausen wie Irrsinnige. Die Mutter ist heilig, wird geflötet, über Schwangere gelacht, und wenn das Geborene älter geworden ist, werden Granaten dafür gedreht. Welch Irrenhaus ist die Menschenwelt.«

»Ja. Hat mal jemand gesagt: vielleicht sei die Erde das Narrenhaus der Welt«, nickt der Student.

»Wenn man in den Geschichtsbüchern blättert«, schimpft Job, »kommt es einem so vor. Als zum Beispiel Napoleon sich die Kaiserkrone aufsetzte, da hätte die Erde vor Lachen eigentlich platzen müssen. Sie platzte nicht, sie ist viel gewohnt. Kann sie sich, nachdem zehntausende Frauen unter Obhut der Kirche als Hexen verbrannt wurden, überhaupt noch über etwas wundern?«

»Die Erde«, lacht der Student, »denkt vielleicht: abwarten, abwarten und Tee trinken. Die Saurier bin ich losgeworden, warum soll ich nicht auch eines Tages dies Ungeziefer, das sich Mensch nennt, wieder loswerden. Die Saurier, das aufgeblähte Volk, dachten auch nicht, dass sie, die Herren der Erde, eines Tages ausgespielt haben würden.«

»Was sind das, ‚Saurier‘?«, fragt ein Hintermann.

Dreht sich der Student um: »Weißt doch, die prähistorischen Lümmel, die großen Fleischklumpen, die Drachen, die Walfische mit Beinen.«

»Ach so, die.«

»Ja die. Waren wohl auch so eingebildet wie wir Menschen heute.«

»Hör‘ mal«, stößt Lornsen Müller an, »wir hatten doch mal einen Hund, der jeden Belgier, Engländer, Franzosen und Russen anbellte. Auch die Einwohner mochte er nicht. Wie erklärst Du das?«

»Vielleicht«, höhnt Müller, »riecht er beim Deutschen sofort Steckrüben und Dörrgemüse.«

»Der Kerl konnte doch nicht wissen, dass Franzosen, Russen, Engländer und so weiter zu unseren Feinden gehören.«

Wirft Job die Frage auf, ob es je große Männer gegeben habe, die die Masse nicht verachtet hätten. Lornsen erinnert an Jesus, aber damit ist Job nicht einverstanden.

»Ach was, Jesus. Was wissen wir von Jesus. Dummheit oder Raffinement zu behaupten, wir wüssten viel von ihm. Wenn bei einem Unglück tausend Mann zugesehen haben, sagen nachher neunhundert verschieden darüber aus. Was will man da heute noch von Jesus feststellen. Lass eine Sache durch den Mund von nur zwei Generationen gehen, unglaublich, was dabei herauskommt.«

»Klar«, ruft der Student, »man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Überall wimmelt es von Entstellungen, Lügen, bewussten Fälschungen.«

Beugt Lornsen sich vor und sieht seine Kameraden nacheinander an: »Vielleicht liegen drüben die Granaten für uns schon klar. Wir reden so viel, als gelte es, bald zu fallen.«

Dreht sich ein Vordermann um: »Sag ruhig verrecken. Immer die Dinge beim richtigen Namen nennen. Hast ‘ne Zigarette, Philosoph?«

Reicht der Student ihm die Schachtel: »Die Tiere können die Dinge noch beim richtigen Namen nennen, sie tun alles in Unschuld. Bei uns ist die Mutter heilig, nicht aber die Ursache, der Koitus. Dieser erregt sogar Anstoß. Wenn ein Herr Schutzmann übelgelaunt ein Paar zum Beispiel in Anlagen dabei erwischt, geht‘s mit nach der Wache. Jener Vorgang, der dafür sorgt, dass der Mensch nicht ausstirbt, ausgerechnet der wird mittelalterlich verachtet, wenn er sich ein wenig zeigt. Das gibt zu denken, meine Herren!«

»Sonst hast Du keine Sorgen?«, fragt jemand.

Der Regen hat zugenommen. Es ist dunkel geworden. Manchmal zerreißt blendend plötzlich ein Abschuss die Finsternis, erschüttert die Luft, dass es in den Ohren gellt. Gestalten tauchen auf und verschwinden wieder: Fernsprecher, Pioniere, Verwundete. Dann und wann heult eine Granate heran und ihre Splitter singen und zirpen, als wären sie lebendige Wesen.

Sie kommen durch einen alten Laufgraben und versinken stellenweise, dass das Wasser in die Infanteriestiefel läuft. Manchmal bleibt ein Mann fluchend stehen und schleudert mit energischem Ruck des Beines Lehmklumpen vom Fußzeug.

1914 liegt in weiter, weiter Ferne. Des Nachts brüllte es damals noch nicht hinter der Linie in den Schluchten von Granateinschlägen. Man versank nicht in Kot, Leichen, Dreck und Wasser, dabei Bomben von oben und Dörrgemüse im Magen. Lag nicht tagelang im Pflügen der Granaten, ohne Verbindung, ohne Wasser, ja selbst ohne Waffen. Damals kroch noch kein Gas schleichend durch die Gräben. Lächerlich, was damals schweres Feuer genannt wurde. Damals war man noch Soldat im Kriege, heute ist man nur noch ein Automat, ein Grabentier, ein armes, stumpfes Wesen. Damals lebte man noch, heute vegetiert man nur noch, schleicht durch die Tage, wartet, wartet. Einmal muss doch der Schluss kommen, der Tod oder der Frieden. Eigentlich müsste man schon wahnsinnig sein – der Mensch ist zäh, zäher als Läuse und Ratten.

In der Nacht ist alles viel schlimmer als am Tage. Man verfehlt Wege, sieht nichts, weiß im Feuer nicht wohin, fällt in Trichter, gleitet aus, schlägt hin in dem weichen Morast der Gräben und Wege. Selbst die Einschläge bellen scheinbar lauter als am Tage. Unheimliche Nächte gibt es voll Feuer, Geschrei, Stöhnen der Sterbenden, Peitschenknall, Kommandoruf, Heulen des Sturmes. Oft bleiben Leute irgendwo sitzen und finden sich als Nachzügler wieder ein. Es kommt auch vor, dass ein Mann beim Marsch in die Stellung verschwindet und irgendwo in der Etappe oder in der Heimat wieder auftaucht.

Rufe, Regen, das Bellen der Granaten, Wasser, Schlamm, keine Faser am Leibe ist bald mehr trocken.

»Kehrt, bis zum nächsten Quergraben zurück!«

»So ist das richtig!«, tobt Job.

Im Quergraben haben sie auf einen Schlag zehn Tote. Im Schein der Taschenlampen ein blutiges Durcheinander, Geschrei, Gewimmer. Sie lassen die Toten liegen und schaffen die Verwundeten in Zeltbahnen, an Knüppeln befestigt, weiter. Jede Erschütterung quält, und es gibt nichts als Erschütterungen!

»Ist dort die Ablösung? Hierher! – Mit den Verwundeten zum Regimentsstand, das ist jetzt das Beste.«

Unter Führung geht es weiter. Der zähe Grabenbrei klammert sich an das Fußzeug. Man gleitet, watet, tastet sich weiter. »Achtung Trichter« – »Vorsicht Stacheldraht«. Gasgranaten platzen in der Nähe, Gas zieht durch den Graben. »Gas! Gas!« Alles greift zu den Masken, den verhassten Masken. Man hat so schon seine Mühe, und nun auch noch in den Masken schwitzen, nach Luft schnappen und vor den Augen beschlagene Gläser haben. Kot, Steine, Erde regnen herab. Die Explosionen brüllen auf. Links und rechts auf der Deckung und voraus im Graben schlägt es ein. »Sanitäter! Sanitäter!« Erneutes Stocken, erneute Verluste.

Endlich ist der Feuerüberfall zu Ende. Nur noch vereinzelt krachen Minen in den ersten Graben. Etliche Mann haben Unterstände in Nachbargräben entdeckt und sind einfach zurückgeblieben. Voreilige nehmen die Maske ab und werden gaskrank. Nun das Durcheinander im Graben und die innere Unruhe, weil alles unbekannt ist, niemand sich ein wenig sicher fühlt. Wie sehen wieder die Gräben aus, halb »versoffen und zusammengefunkt«. Freigewordene Unterstände füllen sich, viele werfen Stahlhelm und Koppel ab, stoßen noch einen Fluch aus und kümmern sich um nichts mehr. Nachzügler finden sich ein, Gaskranke liegen herum, Leichtverwundete ohne starke Schmerzen mit frohen Gesichtern sammeln sich zum Rückmarsch.

Lornsen, Müller und der Student hocken am Eingang eines überfüllten Unterstandes. Job irrt umher und sucht sie. Ein Gaskranker kriecht in den Unterstand, erbricht sich und schnappt nach Luft, zwei Mann tragen ihn fort.

Job findet seine Freunde. Sie lächeln ob seiner mütterlichen Fürsorge und folgen ihm zum angewiesenen Unterstand. Ein Verwundeter kommt durch den Graben, ein Mann der alten Besatzung, das Zeug zerrissen und blutig, das Gesicht geschwärzt, nur die Augen leuchten seltsam hell. Die Vier machen ihm Platz.

»Schlamassel, böse Ecke«, und er wankt, auf seinen Stock gestützt, vorbei.

Der Regen lässt nach. Es klart auf. Ein Bombengeschwader brummt vorüber.

Die Gemeinschaft in Not und Tod hat eine herrliche Frontkameradschaft aufblühen lassen. Auch den Gegner erfasst der Deutsche, auch er ist »Kamerad«, auch er steht für ihn unter dem großen Ereignis, nur dass er eben der Gegenspieler ist. Beim Amerikaner, Engländer, Franzosen zeigen sich gleichfalls Ansätze zu diesem Gefühl. Die sich wirklich mit Waffen bekämpfen, fühlen sich als Kameraden, fühlen sich verbunden. Welche Komödie! Hier und da hatte sich ein Frontstück zeitweilig offensichtlich verbrüdert. Natürlich dauerte so eine kleine Verbrüderung nicht lange: Ablösung, Granaten, und die Division hatte ihre Front wieder »in Schuss«. Fern von aller Weiblichkeit taucht im Zusammenleben der Männer etwas aus Urweltstagen auf: der Nächste ist der Genosse, ist der andere Mann, der Kamerad. Das Fehlen der Frau macht den Mann männlicher, es fehlen spitzer Neid, erbärmliche Gefühlsseichtheit und alles, was der männliche und weibliche Geschlechtsegoismus mit sich bringt. Unmännliche Schriftsteller haben die Kameradschaft und Freundschaft der Männer degradiert, indem sie das Theater der Geschlechtsliebe unaufhörlich und mit einer leichtverständlichen Ausdauer in alle Himmel malten. Wie viel Zartheit ist in dieser Kameradschaft und Freundschaft. Lieber beißt sich ein Mann fast die Zunge ab, als dass er unter seinesgleichen zarte, feine Gefühle und Empfindungen äußert oder gar Tränen zeigt. Man schleppt Verwundete durch das schlimmste Feuer, wenn aber ein guter Bekannter oder der Freund gefallen ist, heißt es nur: »Nun ist der auch hin«, oder »Er sollte morgen in Urlaub fahren«. Sie helfen sich mit Selbstverständlichkeit, ein Aufleuchten des Gesichtes, ein Fluch, ein Nicken oder eine Zigarette als Symbole des Dankes. Zu den Jungen sind die Alten nachsichtig und väterlich. Sie ärgern sich oft, haben auch Krach miteinander, aber es fehlt dabei die weibliche Nadelspitze, die herzlose Brutalität, die im Streit unter Frauen so leicht zum Vorschein kommt. Das Schlimmste und Zarteste machen sie mit sich selber ab oder kleiden es in grobe Worte und machen Witze dabei. Verbunden durch Not und Tod, in steter Gemeinschaft miteinander, sorgt doch jene männliche Gleichgültigkeit gegen das Allerpersönlichste des anderen dafür, dass immer ein gewisser Abstand bestehen bleibt.

Sie sind marschiert, die Vier, in Sonne, Regen und Wind – im Dreck der Straßen, in Eis und Schnee – durch blühendes Land, durch erstorbene Wildnis – an Tagen, in Nächten – nach Siegen und furchtbaren Verlusten. Dies aber war ihr letzter Marsch.

Ungeheure Dinge geschehen. Der Schleier hebt sich, das deutsche Heer, das deutsche Volk ist am Ende. Sagenhaft kämpft es gegen eine ungeheuerliche Übermacht.

Der Student schreibt mit Kreide an die Wand des Unterstandes:

»Weltrad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel,

Not nennt‘s der Grollende,

Der Narr nennt‘s Spiel.«

Vier von der Infanterie

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