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„Wenn du dir die Liebe Gottes in Erinnerung rufen willst, sagte Mom immer, schau dir einfach den Sonnenaufgang an. Und wenn du dir den Zorn Gottes in Erinnerung rufen willst, sagte Dad, schau dir einen Tornado an.“

Jeanette Walls, „Ein ungezähmtes Leben“

Ein Vorspiel im Theater

„Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion?“ So lautet die berühmte Frage, die das Fräulein Margarete im ersten Teil von Goethes Faust dem gelehrten Mann der Wissenschaft mit diesem Namen stellt, während sie mit ihm einen Gartenspaziergang unternimmt, wie Verliebte es tun. Zwar versucht Faust diese ihm eher lästige, inzwischen als „Gretchenfrage“ sprichwörtlich gewordene Bitte um ein Bekenntnis abzuweisen, in dem er ein ganz anderes Thema anzuschlagen versucht und abwiegelt: „Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut.“ Doch das fromme Fräulein lässt nicht locker, und Margarete formuliert ihre kleine Frage an den großen Mann punktgenau um: Heinrich, „Glaubst du an Gott?“

Die Gretchenfrage und die Wissenschaft

„Glaubst du an Gott?“ – die Antwort, die jemand auf diese Gretchenfrage gibt, hängt von vielen Faktoren ab, zu denen sicher auch das Wissen gehört, über das der oder die jeweils Angesprochenen verfügen und das sich vor allem in den letzten vier Jahrhunderten ungemein verändert hat. In dieser Zeit haben sich, von Europa ausgehend, Menschen in aller Welt im Rahmen einer methodisch fortgeschrittenen und systematisch vorgehenden Naturwissenschaft bemüht, ihr Wissen zum Nutzen der Allgemeinheit zu vermehren und dabei immer mehr Gesetze der Natur finden und erfinden können.

Die Gretchenfrage benötigt ihre jeweils besondere und eigenständige Antwort, wenn sie Personen gestellt wird, die sich anders als Faust und sein Dichter Goethe etwa mit den Quantensprüngen von Atomen und Molekülen auskennen, die vielleicht sogar das expandierende Universum in seiner wachsenden Unermesslichkeit erfassen und darüber hinaus seinen Anfang als Urknall denken können, die zusätzlich noch mit dem dynamischen Gedanken der Evolution und den dazugehörigen genetischen Varianten vertraut sind, um nur ein paar Beispiele für die Themen zu nennen, denen sich in den jeweiligen naturwissenschaftlichen Disziplinen große und kleine Forscher mit steigendem Erfolg zugewandt haben und zuwenden.

Die Physiker, Chemiker und Biologen sind dabei spätestens seit dem 19. Jahrhundert so gut vorangekommen, dass einige von ihnen in den ersten Jahrzehnten nach 1900 meinten, die Gretchenfrage bald ganz vergessen und Gott in ihrem Denken vernachlässigen und vielleicht sogar ganz beiseiteschieben zu können.

Doch in der Geschichte und in der Gegenwart zeigt sich den Menschen ein möglicherweise für viele unerwartetes anderes Bild. Denn trotz all ihrer fachlichen Triumphe im Einzelnen fühlten und fühlen sich nachdenkliche und empfindsame Wissenschaftler, die zu Beginn ihrer Karriere voller Optimismus davon geträumt haben, mit ihrem eigenständig gewonnenen Wissen der Wahrheit gegenüberstehen zu können, unentwegt herausgefordert, ihre persönliche Position zu Gott zu klären und sich im Ganzen entweder auf ihn zu beziehen oder sich von ihm abzusetzen.

In diesem Buch sollen einige der dazugehörigen religiösen oder gottlosen Bekenntnisse großer Forscher vorgestellt werden, um jedem, der heute lebt und sich den weit reichenden Erkenntnissen der Wissenschaft nicht verschließt, die Vielfalt der möglichen Antworten aufzuzeigen, die auf die unter Menschen unvermeidbare Gretchenfrage erlaubt sind. Dies geschieht in Zeiten, die zwar gerne als „säkular“ bezeichnet werden, die aber bei aller Hinwendung zum allein Weltlichen von dem Heiligen nicht lassen können.

In ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar

Es geht also in einem historischen Durchgang vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart um das Wechselspiel von erfahrenem Wissen und gelebtem Glauben, wie es sich bei großen Naturforschern europäischer Provenienz zeigt, wobei an dieser Stelle sogleich eine hartnäckige Asymmetrie auffällt und angemerkt wird. Sie besteht darin, dass die weltliche Gegenfrage zur Gretchenfrage nirgendwo gestellt wird, jedenfalls nicht in einer expliziten und dadurch verbindlichen Form.

Goethe hätte dem in Gretchen verliebten und neugierigen Faust als Antwort doch auch die Worte in den Mund legen können: „Und du, was hältst du von der Wissenschaft?“ Solch eine Wendung hätte durchaus in das Zeitalter der Aufklärung gepasst, dem der Dichter im ausgehenden 18. Jahrhundert angehörte und in dem das Hohe Lied der Rationalität nicht nur vorsichtig angestimmt, sondern auch gerne und laut gesungen wurde.

Der Schöpfer von Faust unternimmt in dem dazugehörigen Drama dafür etwas anderes. Er lässt seinen Helden dem umschwärmten Gretchen nahe bringen und klarmachen, dass es neben Gott etwas anderes von Bedeutung gibt, nämlich all das, was sich in dieser Welt zeigt und eine besondere Qualität aufweist, wie er erläutert. Denn was es – im Himmel und auf der Erde – gibt, drängt von sich aus massiv zu dem geliebten Fräulein hin, und zwar so, dass es „Haupt und Herz“ von Gretchen zugleich erfasst und ihre Person wie ein Gewebe umfängt, das dabei eine Eigentümlichkeit an den Tag legt, nämlich „in ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar“ neben ihr zu sein, wo es dann sogar weiter „webt“.

Mit anderen und eher trockenen Worten: Faust empfiehlt Gretchen, sich erst von ihrem sinnlichen Wahrnehmen des rätselhaft bleibenden Gewebes namens Wirklichkeit seelisch erfüllen zu lassen und dabei auf die Beeinflussung ihrer Gefühle zu achten, um sich schließlich danach voller Neugierde zu fragen, wie sie das nennt, was sie bei diesem Vorgang des Erkennens erfährt und erlebt:

„Glück! Herz! Liebe! Gott!“ – so lauten die vier zum Teil sicher unkonventionellen Vorschläge von Goethes Helden, der anschließend – hoffentlich zu seiner Überraschung – von Gretchen zu hören bekommt:

„Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen anderen Worten.“

An dieser Stelle lacht das Publikum gewöhnlich, vor allem mit dem Blick auf den Teufel Mephisto, der sich in der Nähe herumtreibt und nun grollt. Doch es lohnt sich, Goethes Witz ernst zu nehmen, weshalb hier versucht wird, in den einfachen Worten eines Sachbuchautors zwei zentrale Punkte des eben skizzierten poetischen Dialogs darzustellen, die im Verlauf des Buches verfolgt werden sollen. Da ist zum einen die An- und Einsicht von Faust, dass das sich uns aufdrängende Gewebe der Dinge um uns ein „ewiges Geheimnis“ bleiben wird, und zwar trotz aller Fortschritte, die wir nicht zuletzt den Großen der Wissenschaft verdanken, die folgend im Text vorgestellt werden. Und wenn es um diese offenen Geheimnisse und ihre Vorstellung geht, dann – dies zum Zweiten – klingt selbst der Faust wie ein Pfarrer, auch wenn sich der Gelehrte längst der Magie ergeben und mit dem Teufel verbündet hat.

Kurzum: Der Frage nach Gott entkommt man im deutschen oder europäischen Sprachraum nicht, auch wenn sich bei vielen Großen des Wissens in ihrem Inneren nicht unbedingt ein besonderes Gefühl regt, wenn der Name des Größten fällt. Auch sie glauben, bevor sie wissen.

Die Frage lautet, was sie glauben, nachdem sie etwas wissen. Mal sehen.

Gott und die anderen Großen

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