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Ernste Fragen am Anfang

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Am Anfang steht das Problem des Anfangs. Beim Schreiben einer Rede oder eines anderen Textes geht es zum Beispiel um den ersten Satz, mit dem der zu liefernde Beitrag eröffnet wird und der die Aufmerksamkeit zu wecken hat. Doch diesen Einstieg habe ich an dieser Stelle bereits geschafft und hinter mir.

Dieser Anfang war offenbar leicht. Das genannte Problem stellt sich aber und erst recht beim Erkennen und Verstehen – etwa von Licht und Farben und anderen Erscheinungen – in dem, was als Wirklichkeit bezeichnet wird und uns – nach Goethe – wie ein geheimnisvolles Gewebe umgibt, das wenig empfindsame Zeitgenossen als Vernetzung beschreiben, was unnötig hart klingt.

Das Problem des Anfangs beim Erkennen besteht darin, dass der Einstieg, der erste Schritt zum Wissen, nichts von dem enthalten darf, was am Ende der Erklärung herauskommen soll. Das klingt zwar banal, macht aber mehr Mühe, als viele meinen. Bereits im vierten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hat sich der Mönch Dionysius gefragt, wie man einen Anfang schaffen kann. „Die erste Ursache von allem ist weder Sein noch Leben. Denn sie ist es ja gewesen, die Sein und Leben erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht Begriff oder Vernunft. Denn sie ist es ja gewesen, die Begriffe und Vernunft erschaffen hat. […] Und dennoch ist diese erste Ursache auch keine Macht. Denn sie ist es ja, die die Macht erst erschaffen hat.“

Wer zum Beispiel als Physiker erklären will, was Materie ist und woraus sie besteht, darf nicht mit Atomen anfangen, die aus Einheiten bestehen, die selbst schon Materie sind, weil sie über eine Masse verfügen.

Natürlich kann die Physik die Eigenschaften eines Metallstücks dadurch verstehen, dass sie das Zusammenspiel von vielen Metallatomen berechnet, aber wann und wie aus den unsichtbaren Bausteinen der sichtbare Körper wird, den man in die Hand nehmen und vermessen kann, bleibt dabei offen – und solch ein Übergang liefert möglicherweise einen konkreten Fall für das ewige Geheimnis, von dem Faust spricht.

Wer als Philosoph erklären will, was Rationalität ist und wie das dazugehörige Erkennen funktioniert, darf nicht mit einer Sammlung aus abzählbaren Kategorien beginnen, die dann bloß noch kombiniert zu werden brauchen. Wer das Denken erklären will, muss mit einer anderen Fähigkeit des Gehirns beginnen, etwa dem konstruktiven Wahrnehmen oder einem malenden Schauen, wie es der Physiker Wolfgang Pauli einmal vorgeschlagen hat, von dem noch ausführlich die Rede sein wird.

Fragen nach dem Anfang

Nun gehört das Fragen nach dem Anfang sowohl zu den Grundthemen der Wissenschaft als auch zu den sicher uralten und prähistorischen Interessen von Menschen. Wie hat die Welt angefangen? Wie ist das Leben entstanden? Wie hat der erste Mensch ausgesehen? Wie hat die Sprache angefangen? Und in allen Fällen gilt es beim Antworten unter allen Umständen zu vermeiden, etwas von dem zu verwenden, was man erklären und seinen Beginn nehmen lassen will.

Es wird deshalb vorausgesetzt, dass Menschen sich schon sehr früh in ihrer Geschichte Gedanken über den Anfang und anderes gemacht haben, weil es zu den humanen Eigentümlichkeiten gehört, so etwas und mehr wissen zu wollen. Diese Feststellung ist bei Philosophen seit Jahrhunderten nachzulesen und bleibt unbestritten. Aristoteles etwa beginnt seine Metaphysik mit der Feststellung, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, und wenn Immanuel Kant drei Fragen formuliert, die es zusammen ermöglichen sollen zu sagen, was der Mensch ist, dann interessiert ihn vor allem: „Was können wir wissen?“

Natürlich zitieren Lehrer und andere Bildungsbürger an dieser Stelle gerne den sagenhaften Sokrates und sein Verdikt: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Aber zum einen weiß ich, von wem der berühmte und vielfach falsch zitierte Satz stammt, in dem nicht von „nichts“ die Rede ist, und zum Zweiten hindert selbst diese Einsicht den Philosophen ja nicht daran, etwas wissen zu wollen, und zwar unentwegt und immer wieder, wie die zahlreichen Dialoge verdeutlichen, die uns von ihm dank Platon überliefert sind.

Zum Dritten kann das „Nichtwissen“ auch so verstanden werden, wie es Goethe ausdrückt, nämlich als das offene Geheimnis, das unsichtbar in den sichtbaren Dingen steckt und sowohl dem ersten Nachdenken kein Ende bietet als auch dem weiteren Wunsch nach Wissen jede Menge Platz lässt.

Menschen wollen und können also wissen, und sie wollen in vielen Fällen wissen, wie etwas von ihnen Vorgefundenes angefangen hat – besonders das Ganze, „das Etwas, diese plumpe Welt, das sich dem Nichts entgegen stellt“, wie es Goethe genannt hat.

Dies gefällt als Formulierung, ruft aber zugleich auch ein Dilemma hervor. Wenn Menschen nämlich den Anfang aller Dinge – der Welt, des Kosmos, des Universums – erklären wollen, müssen sie der poetischen Einsicht nach entweder mit (einem) Nichts oder mit einem Konzept anfangen, das nicht von dieser Welt sein kann.

Natürlich kommt für sterbliche Wesen ohne himmlische Schöpferqualitäten nur die zweite Möglichkeit in Frage, und die dazugehörige Grundidee funktioniert im Denken der Menschen unter der Bezeichnung „Gott“. Gott ist nicht die Welt, er ist nicht von dieser Welt, aber der Gedanke an ihn gibt dem menschlichen Denken die Gelegenheit, das Problem des Anfangs zu lösen. Wie es die Schrift ganz vorne lehrt: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und beide können danach – zum Beispiel auch jetzt – als „ewiges Geheimnis“ mein Haupt und Herz beschäftigen. Und wie es in der Schrift weiter heißt: Am Anfang war das Wort, mit dem sich Menschen zuletzt über ihr Wissen unterhalten können.

Die Achsenzeit

Kurzum – ein Gott löst das Problem des Anfangs und gibt den Menschen die Chance, unter seiner Vorgabe das Wissen zu erwerben, nach dem sie ihrer Natur zufolge verlangen. Das Glauben an einen Gott und das Wissen von Menschen gehören also eng zusammen, wobei das zuerst genannte Abenteuer des Denkens dem zweiten geistigen Zugreifen auf die Wirklichkeit in der Geschichte der Menschheit weit vorausgegangen ist, wie überzeugende historische Argumente zeigen, die mit dem Vorschlag eines Philosophen beginnen. Die Rede ist von Karl Jaspers, der 1949 sein berühmtes Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte vorgelegt und mit ihm und einer dort geäußerten Idee ein Forschungsprojekt begründet hat, das heute allmählich an Fahrt aufnimmt.

In seinen Überlegungen führte Jaspers viele ältere historische Untersuchungen zu der Beobachtung zusammen, dass der Ursprung der Weltreligionen – wie auch der der griechischen Philosophie – in den Jahren zwischen 800 und 200 vor Christi Geburt zu finden ist. Jaspers nennt diesen Abschnitt der menschlichen Geschichte die „Achsenzeit“ und schreibt dazu:

„In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.“

Während der Achsenzeit – durch die parallelen Prozesse, die zu ihr hinführen und deren Ursprung und Wesen noch zu erforschen bleibt – verlässt die Menschheit ihre mythische Phase, wie Jaspers meint, ohne dabei einen Mechanismus angeben zu können, der den Schritt ermöglicht hat. Die führenden intellektuellen Vertreter der jeweiligen Völker und Gesellschaften beginnen, über die Bedingungen des humanen Lebens (Existierens) nachzusinnen. Sie entdecken dabei die Möglichkeit, den zahlreichen angebeteten Göttern, die bislang im Irdischen verankert waren, einen eigenen Ort – einen Platz im Himmel – zuzuweisen, und diese Gedanken und Vorschläge werden im Volk verstanden. Mit dieser Aufteilung entsteht eine Spannung zwischen dem Diesseits (dem Weltlichen) und dem Jenseits (dem Transzendenten). Wer neben die irdischen Machthaber tritt und Gottes Ratschluss verkündet, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und erwirbt Anerkennung – also die Priester und Propheten.

Tatsächlich entstehen jetzt Achsenkulturen, wie die historische Wissenschaft ermitteln konnte, ohne dass sie in der Lage wäre, das Aufkommen des dazugehörigen Denkens tiefer zu begründen. Erkennbar wird nur, dass in Gesellschaften mit der Erfahrung der Achsenzeit federführend Träger von Visionen agieren, wie sie bei Buddha und Jesus zu finden sind. Mit ihrem Zutun kommen kulturelle und soziale Ordnungen zustande, die dem Volk – den Menschen – zusagen und deshalb von ihm (von ihnen) getragen werden. Die Gründerfiguren stärken das Selbstbewusstsein der kleinen Leute, sie geben ihnen Anleitungen zum wohltätigen Handeln und statten ihr Leben mit Sinn aus. Ihre Nachfolger setzen dieses Wirken mit Hilfe von Institutionen fort, die sie einrichten, um die utopischen Vorstellungen der Religionsgründer in die Wirklichkeit umzusetzen und um Geschichten wie die der Evangelien erzählen und sammeln zu können.

Nach der Achsenzeit

Die von Jaspers identifizierte Achsenzeit stellt eine große Herausforderung an alle Wissenschaftler dar, die das Entstehen moderner Gesellschaften und die dazugehörigen geistigen Kräfte und Strömungen erfassen wollen. Doch so wichtig und spannend dieser Aspekt des menschlichen Lebens und seiner Entwicklung ist, in dem hier verhandelten Zusammenhang kommt der Achsenzeit nur eine einzelne Bedeutung zu.

Sie hängt mit der Tatsache zusammen, dass es in diesem Buch um Kulturen geht, die von Menschen hervorgebracht worden sind, die ihrerseits von Personen abstammen, die in der Achsenzeit die Erfahrung der Transzendenz gemacht haben. Anders ausgedrückt, der Autor und seine Leser sind Nachfahren von Menschen, die mit der eigenständigen Existenz einer zweiten (unsichtbaren) Wirklichkeit vertraut sind, in der sie einen Gott ansiedeln, der Einfluss auf die Geschicke in der irdischen Welt nehmen kann und zumindest anfänglich vieles in ihr bedingt hat. Und da diese himmlische Sphäre sich seit mehr als zweitausend Jahren bewährt und viele Menschen sich für ihr Seelenheil auf sie verlassen, kann Goethe seinem Magister Faust die Gretchenfrage nicht ersparen. Sie stellt sich ihm und uns mehr oder weniger natürlich und ganz selbstverständlich.

Denn was kann der Gelehrte dem Vertrauen in Gott entgegensetzen? Sein aktuelles Wissen auf keinen Fall, das den armen Tor bekanntlich nicht sehr weise gemacht hat und eher frustriert, wie Faust in einem Monolog zu Beginn des Dramas ausführt. Die Tradition der Wissenschaft, die er fortsetzt, verfügt nicht über das ehrwürdige Alter der Religion, die weit über tausend Jahre mehr auf dem Buckel hat.

Als Goethe lebte, lag die Geburt der modernen Wissenschaft gerade einmal knappe zweihundert Jahre zurück, wenn die Auskunft der Geschichtsbücher zuverlässig ist. Sie datieren ihre Startphase auf das frühe 17. Jahrhundert, als in verschiedenen europäischen Ländern unter anderem Francis Bacon, Johannes Kepler und Galileo Galilei tätig waren und nutzbares Wissen zu erwerben versuchten. Die sich für die Menschen spürbar auswirkenden Erfolge der neuen Wissenschaft konnte man um 1800 noch an den Fingern einer Hand abzählen.

Nach dem Aufkommen der Wissenschaft

Unabhängig davon – heute leben wir mehr als 400 Jahre nach der Entscheidung der Menschen um 1600, ihre Lebensbedingungen durch den Einsatz wissenschaftlicher Methoden zu verbessern (und nicht nur passiv und brav das irdische Jammertal zu durchwandern). Wie oben gilt, dass die heute bestehenden Gesellschaften von Personen gebildet werden, die Nachfahren von Menschen sind, denen der Gedanke der Wissenschaft gekommen ist und die ihn erfolgreich umgesetzt haben.

Kurzum – wir Heutigen stammen anders als die frühen Heiligen von Menschen ab, die sowohl unmittelbare Transzendenzfähigkeit als auch vermittelbare Forschungswilligkeit erworben und weitergegeben haben, was uns allen die doppelte Fähigkeit sowohl zum vertrauenden Glauben als auch zum prüfbaren Wissen verleiht und jeden Versuch überflüssig machen sollte, mit einer der beiden genannten spirituellen Qualitäten allein in der Welt zurechtzukommen, die man erkennen und verstehen und in der man sich einrichten möchte.

In den Worten von Albert Einstein: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ Beide gehören in unserer Kultur seit der Achsenzeit und nach der Geburt der modernen Wissenschaft untrennbar zusammen. Zwar fürchten viele, dass Gott verliert, wenn dem Menschen mehr und mehr Wissen zufällt, aber es könnte ja auch sein, dass Gott gewinnt, wenn der Mensch gewinnt. Das zu glauben gefällt mir.

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