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Kapitel 1
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Geschichte des französischen Märchens
Die Kultur des Abendlandes, welche heute rettungslos
und müde wie ein welker Greis zu Grabe sinkt, erinnert
sich gern ihrer Kindheitstage, die goldumstrahlt
wie die Gletscher bei Sonnenuntergang in das hereinbrechende
Dunkel herüberleuchten. Die Völker des
Abendlandes hatten eine wilde Knabenzeit: rauflustig
und grausam, wie Knaben einmal sind, traten sie auf
das Welttheater und erledigten mit ein paar Faustschlägen
die hohl und faul gewordene Antike. Der
Zweck des Lebens war der Heldensang vom lächelnd
ertragenen Tod, und jenseits des blutigen Walstattdunstes
leuchtete der Nachruhm. Diese wilden Burschen
hörten nicht gern auf die Märchen, welche als
Schöpfungen abendlicher Abspannung und Ruhe eine
gleichmäßige Heiterkeit, eine gewisse Müdigkeit der
Seele und eine unbestimmte Tatenlosigkeit voraussetzen.
Und dennoch kannten auch die alten Germanen
eine beträchtliche Anzahl jener Motive, die, aus den
Anschauungen und Gebräuchen der Urzeit geboren,
sich je nach der Art der Komposition und Bindung in
örtlicher und zeitlicher Hinsicht zu Mythus, Sage oder
Märchen zusammenschlossen. Ja, wir können aus den
geringen Resten altgermanischer Epik, die uns ein gütiges
Geschick erhalten hat, auf das Bestehen bereits
fertiger Märchen im germanischen Altertum schließen.
Es waren dies solche Märchen, die der Abenteuerlust
und dem Tatendrang der Zeit entgegenkamen,
wie das vom Bärensohn, der in die Unterwelt dringt
und dort eine Jungfrau von einem hütenden Drachen
befreit; weiterhin solche, die ihren Stoff aus dem Alltagsleben
dieser wilden Jahrhunderte nahmen: die von
herrschsüchtigen Frauen und treulosen Ratgebern erzählten,
wie jenes von der unschuldig verklagten und
gerichteten Königin, deren Unschuld sich dann doch
offenbart, von der Braut, die einer falschen weichen
mußte und dann doch wieder zu ihren Rechten
kommt, von der trotzigen Jungfrau, die dann doch bezwungen
wird. Die goldene Ferne lockte, und diese
wilden Knaben traten aus dem Nebel ihrer Urwälder
heraus, überschritten den Rhein und wandten sich zu
den rebenumsäumten Hügeln der Marne und Oise, das
Reich des Syagrius brach zusammen, und der germanische
Bauernkönig residierte in Soissons. Doch wurden
die Unterworfenen milde behandelt, und so kam
es, daß jede Neigung zu nationalen Gegensätzen im
Keime erstickt wurde. Frankreich wurde der Brennpunkt
dieser jungen Kultur. Hier kreuzten sich Einflüsse
der verschiedensten Art: die Sagen und Märchen
der Antike lebten in den Trümmern der Römer-
städte fort, die keltische Urbevölkerung bewahrte ihre
Erzählungsstoffe, welche, im ewigen Nebel der
Sümpfe und des Nordseegestades erwachsen, die gigantischen
und grotesken Formen eines Nebelbildes
zeigen und zugleich die leise Wehmut und dann wieder
die ausgelassene Lustigkeit des keltischen Stammes
mitbringen. Die noch heute in Frankreich fortlebenden
Geschichten von Midas, von Polyphem und
von Perseus und Andromeda, von den Sirenen und
vom Orkus weisen auf die Antike, während die keltische
Feenwelt weit über Frankreichs Grenzen hinausgedrungen
ist. Zu dieser Doppelheit kamen als dritter
Faktor die erobernden Franken, welche, als Träger der
neuen Kultur berufen, die Dämonen und die Sagen der
endlosen Wälder ihrer Heimat mit in das sonnige
Frankreich brachten. Diese drei Bestandteile mischten
sich zu jenem stark individuell ausgeprägten Gesamtbild,
das im mittelalterlichen Frankreich der literarischen
Kultur Europas ihre Eigenart verlieh. Auf neufränkischem
Boden entstand wahrscheinlich zur Völkerwanderungszeit
die Wielandsage, die auf eine Erzählung
aus dem weitverbreiteten Kreis von der gestörten
Mahrtenehe zurückgeht, vielleicht auch die
Siegfriedsage, welche mit Erinnerungen aus der fränkischen
Geschichte die Umrisse des Bärensohnmärchens
verband. Auf fränkische Entstehung weist das
berühmte Märchen vom Machandelboom, das, einer
Episode der Wielandsage nahe verwandt, jene blutige
Zeit am besten widerspiegelt. Auch der Verschlingungsmythos
von Rotkäppchen hat in Frankreich
Züge bewahrt, die in ihrem Kannibalismus weit über
tausend Jahre über die klassische Erzählung Perraults
zurückgehen; vielleicht darf man auch das Märchen
vom singenden Knochen der fränkischen Völkerwanderungszeit
zurechnen.
Aus den Knabenjahren der Völkerwanderung traten
die Bewohner Frankreichs, umhüllt vom schützenden
Mantel der Mutter Kirche, in das Mittelalter, die
Jünglingszeit unserer Kulturepoche. Gewiß, das Mittelalter
hatte seine dunkeln Schatten, aber heute, da
wir auf diese Zeit mit der Wehmut des Todgeweihten
zurückblicken, haben wir das Recht, nur noch das
Licht zu sehen, und wir trinken es mit vollen Zügen,
ehe wir den Becher ins Meer werfen. Es war die Zeit
der ersten Liebe. Wie Nachtigallenruf in Sommernächten
dringt das Lied der Troubadours in unsere
Maschinenzeit herüber, auch das Gebiet des Religiösen
nahm der Minnesang in Anspruch, die Mystik redete
die Sprache der weltlichen Liebe: irdische und
himmlische Liebe wurden eins. Es war die Zeit der
hohen und stolzen Frauen, die mit großen blauen
Augen von den Zinnen ihrer Burgen nach ihren fernen
Geliebten Ausschau hielten, die mit langen, wehenden
Schleiern winkten, und, wenn sie durch die Felder
gingen, beugten sich die Margueriten und Schlüsselblumen
vor ihnen. Es war die Zeit, da das ferne
Wunderland des Ostens lockte und da hinter Arabiens
Wüstensand das irdische Paradies, das reiche Indien,
auftauchte. Das Märchen wurde zum Leben und das
Leben zum Märchen. Das Märchen nimmt die Farben
der Zeit an: das weitaus beliebteste Märchen des Mittelalters
war das vom Goldener, jenem Helden, der in
Verachtung und Niedrigkeit aufwächst und dann als
Ritter auf weißem Roß in strahlender Rüstung in dreitägigem
Turnier die Hand der Königstochter erringt.
Die Dichtungen von Aiol, von Elie de St. Gilles,
Beuve de Hamtoune, Gautier d'Aupais, Mainet, Jourdain
de Blaivies und Robert dem Teufel reden von der
Beliebtheit dieses Stoffes, dessen Ursprung uns noch
unbekannt ist. Daneben finden wir im a l t f r a n z ö -
s i s c h e n H e l d e n e p o s jene Stoffe wieder, die
wir für germanisch hielten. Das Märchen von der unschuldig
leidenden Königin fand in England noch
während der Völkerwanderungszeit einen literarischen
Niederschlag in den Sagen von Offa und Aella.
Die Normannen, die so vielfach als Vermittler germanischer
und romanischer Kultur eine Rolle gespielt
haben, verpflanzten das Märchen nach Frankreich: es
begegnet zuerst in der Chronik des Anglonormannen
Trivet, später in der »Manekine« des Philipp von Beaumanoir
und im Volksbuch von der schönen Helene.
Nahe verwandt sind ihm die Crescentialegende und
die Erzählung von der Gattin Karls des Großen. Ein
anderer Zweig des gleichen Märchenstammes war berufen,
nach Aufnahme eines keltischen Reises die
Vorgeschichte des Lohengrinepos zu bilden. Die untergeschobene
Braut begegnet in der Berthasage, welche,
vielleicht deutscher Herkunft, von einem Spielmann
Adenet le roi mannigfach umgebildet, in französische
Verse gebracht wurde. Das Bärensohnmärchen
scheint die Grundlage der Chanson de geste von
Huon von Bordeaux zu sein, und der Drosselbarttypus
erscheint in der verlorenen französischen Quelle
der skandinavischen Clarussaga. Wenn germanische
Märchen in der Hauptsache Verwendung in den
Chanson de geste fanden, so beruht die um ein Jahrhundert
später einsetzende h ö f i s c h e E p i k im
wesentlichen auf keltisch-bretonischer Grundlage.
Doch steht der ritterliche Dichter dem Märchen schon
nicht mehr so naiv gegenüber wie der jougleor. Chrétien
von Troyes, der bedeutendste Vertreter höfischer
Dichtungsart, bietet in der Hauptsache Gedankendichtung,
ihm schwebte zuerst der Leitgedanke vor, zu
dessen Illustration er seinen Stoff zurechtmachte. Zusammenhängende
Märchen bieten diese Epen nicht,
nur Motive und Formeln, und diese stammen weniger
aus dem Volksmärchen, als vielmehr aus der keltischen
Heldensage. Besonders die Cuchullinsage ist
es, die, wie besonders Brown und Ehrismann nachgewiesen
haben, auf die Romane aus dem Kreis der
»matière de Bretagne« eingewirkt hat. Zwei Hauptmotive
sind den meisten Artusepen gemeinsam: eine
Fee lockt den Helden zu sich, entweder um seine
Liebe zu genießen oder um seine Unterstützung gegen
äußere Feinde zu erlangen: das eine ist der reine Stoff
der gestörten Mahrtenehe, das andere dessen heldensagenmäßige
Umformung. Hierher gehört Laudine im
Iwein. Das zweite Motiv zeigt den Helden auf seinem
Weg in die Unterwelt, wo er im Kampf mit einem dämonischen
Wächter eine Jungfrau befreit: das ist der
Stoff des Bärensohnmärchens. So befreit Lanzelot die
Ginover, Gawain die gefangenen Frauen aus dem
Chastel marveil. Im Tristan begegnet der Märchenzug
von der goldhaarigen Jungfrau, der Parcival zeigt
Anklänge an Märchen von der Unterweltsfahrt eines
Dummlings, während die Graalsage wahrscheinlich
auf das Märchen von der unablässig mahlenden
Wunschmühle zurückgeht. Die Kundryepisode gehört
zu einem keltischen Märchenkreis, der von Maynadier
bis auf Chaucer herab verfolgt wurde, und die Lehren
des Gurnemanz sind denen des sterbenden Vaters in
dem von uns wiedergegebenen bretonischen Märchen
verwandt. Auch der Erek und der Cligés zeigen Züge
von Märchen.
Mehr noch als in den Artusepen tritt die Reinheit
des Märchens in den L a i s zutage, jenen kurzen
Verserzählungen, die Marie de France so meisterhaft
in französische Zunge brachte. Unter den Stoffen dieser
bretonischen Gedichte tritt besonders der von der
gestörten Mahrtenehe hervor, von der ehelichen Gemeinschaft
eines Menschen mit einem elbischen
Wesen, die durch die Übertretung eines vom letzteren
gestellten Verbotes zu einem vorzeitigen Abschluß
gebracht wird. Hierher gehören die Novellen von
Lanval, Yonec, Graelent, Guingamor, vom bel desconnu
und von Sir Dégarré, während der lai du fraisne
zum Typus von der untergeschobenen Braut
stimmt und der Lai von Eliduc das bekannte Motiv
vom Schlangenkraut enthält. Selbst die T r o u b a -
d o u r s sind für den Märchenforscher nicht ohne Bedeutung:
Wilhelm von Poitiers überliefert zuerst den
Schwankstoff vom verstellten Narren.
Neben germanischen und keltischen Märchen wurden
für die Literatur des Mittelalters die durch die
Kreuzzüge vermittelten orientalischen besonders
wichtig. Hier spielte die byzantinische Kultur die
Vermittlerrolle. Spätgriechischer Dichtung verdankt
die im Mittelalter so verbreitete Erzählung von einem
Liebespaar, das sich nach langer Trennung und endlosen
Gefahren endlich doch wiederfindet, seine Entstehung,
jene Geschichte, die uns in Aucassin und Nicolette,
dann aber auch in Flore und Blancheflor, in Ma-
gelone und, legendenhaft umgebogen, im Wilhelm
von England Chrétiens entgegentritt. Zum byzantinischen
Amicus- und Ameliusstoff stimmt der Schluß
des Märchens vom getreuen Johannes, dessen Eingang
zu den Brautwerbungssagen aus dem jüdischbyzantinischen
Salomokreise gehört: hier dürfte Entstehung
des Märchens aus der Literatur vorliegen. Der
Parthonopier des Denis Pyramus, dessen Ausdehnung
in der Weltliteratur der der »matière de Bretagne«
kaum nachsteht, ist der milesischen Fabel von Amor
und Psyche nahe verwandt. Das Märchen vom Meisterdieb,
das sich bis zu Herodot hinauf verfolgen
läßt, hatte im Mittelalter eine große Verbreitung und
entsprach zumal dem französischen Geschmack, der
aus den germanischen diebischen Zwergen die mannigfach
nuancierte Klasse der »Larrons« schuf, jener
kleinen und behenden Spitzbuben, deren Prototyp der
Maugis d'Aigremont ist. Dieses Märchen zieht sich in
vielfachen Abarten durch die gesamte Literatur des
Mittelalters: die bekannteste Version ist die im Mittelniederländischen
bewahrte, aber auf französische
Quelle zurückgehende von Karl und Elegast, der Pferdediebstahl
des Meisterdiebes begegnet im Elie de St.
Gilles und fast gleichzeitig beim Engländer Walter
Map, der verwandte Scherz vom nüsseknackenden
Dieb auf dem Kirchhof bildet die Grundlage des Fabliaus
Estula, während das Fabliau von Barat und
Haimet die Streiche der Gauner in lustigster Verwirrung
beschreibt. Nahe zum Meisterdiebstoff gehört
endlich das Fabliau von Trubert, dessen Stoff in modernen
französischen Sammlungen noch mehrfach begegnet.
Das orientalische Märchen vom goldenen
Vogel liegt der verlorenen Quelle des mittelniederländischen
Walewijnromans zugrunde.
Aber von weiter her noch als von den Ufern des
Bosporus und von den Schlössern der Kalifen strömte
der Märchenstrom herein: das ferne Indien öffnete die
Tore seiner unergründlichen Schatzkammern und
überschwemmte das Abendland und namentlich
Frankreich mit seinen Stoffen, die bald in märchenhafter
Pracht schwelgen und in wilder Häufung des
Phantastischen die Wunder einander übertreffen und
übertrumpfen lassen, bald mit bitterer Ironie die
menschlichen Schwächen und mit Vorliebe die Unbeständigkeit
der Weiber geißeln. Freilich läßt sich nur
eine ganz geringe Anzahl der sogenannten F a -
b l i a u x , jener kurzen Reimschwänke, die das Dreieck:
Gatte – Frau – Liebhaber von allen erdenklichen
Seiten beleuchten (wodurch dann allerdings oft Dinge
ans Licht kommen, die besser verborgen geblieben
wären) – nur eine kleine Anzahl dieser Stoffe läßt sich
in denjenigen orientalischen Sammlungen, die dem
Mittelalter bekannt waren – der disciplina clericalis,
dem Dolopathos, dem directorium humanae vitae
und dem Barlaam und Josaphat – nachweisen; viele
dieser Kleinigkeiten sind gewiß auch in Europa und
speziell in Frankreich selbst entstanden. Diese Reimschwänke,
deren Verfasser, die übrigens nur in den
seltensten Fällen mit ihren Namen hervortreten, aus
dem Stand der fahrenden Kleriker und der Berufsspielleute
stammen, sind nicht nur wegen der Verbreitung
ihrer Stoffe wichtig, sondern sie sind auch eine
Fundgrube für den Kulturhistoriker. Sie lehren uns,
worüber das Frankreich des 13. Jahrhunderts gelacht
hat. »Bald leichtsinnig und derb, bald feinsinnig und
bald zynisch, über allzu unbedeutenden Anlaß lachend,
immer spöttisch, selten satirisch, so ist das Fablel
ein wichtiger Zeuge für die niederen Triebe der
galloromanischen Rasse.« So definiert Bédier, der bedeutendste
Erforscher dieser Gattung, die Fabliaux.
Die Schwänke des Mittelalters lebten nicht nur in
Prosa aufgelöst in den unzähligen Schwanksammlungen
der späteren Jahrhunderte fort, sondern sie werden
auch noch in der Gegenwart mit Behagen erzählt.
Nicht nur in Versform, auch in Prosa fanden diese
leichten Stoffe Eingang in die Literatur des Mittelalters,
hier besonders in Form der P r e d i g t m ä r -
l e i n . Die Illustration moralischer Lehren durch Geschichten
novellenhafter Art geht in ihrem Gebrauch
schon auf den Stifter des Christentums zurück. Die
Homilien Gregors des Großen machen zuerst ausgie-
bigen Gebrauch von diesen Erzählungen, die auf
einen populären Hörerkreis zugeschnitten sind. Ein
wichtiges Erziehungsmittel werden sie in den Händen
der Franziskaner und Dominikaner, der eigentlichen
ordines praedicatorum. Diesem Orden gehörte der
große französische Prediger Etienne von Bourbon an,
der in seinem »liber de septum donis spiritus sancti«
ein Kompendium dieser Exempla für den Gebrauch
der Prediger gab, in den meisten Fällen abhängig von
seinem großen Vorgänger Jakob von Vitry, welcher
über 200 Fabeln, Schwänke und Anekdoten in seine
»Sermones vulgares« einschob. Eine weitere Sammlung
von Exemplis mit Nutzanwendungen in anglonormannischer
Sprache gab im 14. Jahrhundert der
englische Franziskaner Nikolaus Bozon. Weiterhin
wäre die »Summa virtutum ac vitium« des Wilhelm
Peraldus und die »Fleurs des commandemens de
Dieu« zu erwähnen. Das »Speculum exemplorum«,
das wahrscheinlich in Belgien entstand, wurde noch
im 17. Jahrhundert von einem Jesuiten aus Douai, Johannes
Major, bearbeitet. Zu diesen Sammlungen gehört
auch das berühmteste Märchenbuch des Mittelalters,
die Gesta Romanorum, dessen Ursprungsland
nach den neuesten Forschungen das von französischem
Einflusse abhängige England ist. Aus dem 14.
Jahrhundert ragt die Sammlung »Scala caeli« hervor,
die den Dominikanermönch Johann Junior Gobii aus
Alais in Südfrankreich zum Verfasser hat. Die »Scala
caeli« wird besonders dadurch wichtig, daß sie zum
ersten Male auch eigentliche Zaubermärchen für Predigtzwecke
verwertet. Das Märchen vom dankbaren
Toten, das wir aus diesem Werk bringen, begegnet
übrigens auch in einer Reihe von epischen Werken
des französischen Mittelalters: dem Hervis de Metz,
dem Richars li biaus und dem Lion de Bourges.
Wir dürfen den Boden des Mittelalters nicht verlassen,
ohne auch des Tiermärchens zu gedenken, das im
französischen »Roman de Renart« seine klassische
Verwertung fand. Die Quellen des mittelalterlichen
T i e r e p o s sind mannigfacher Art, nicht nur die antike
Fabel und das indische Pantschatandra, sondern
auch die nordgermanischen und finnischen Völker,
die den Bären in den Mittelpunkt einer Tierfabelkette
stellten, tragen das ihrige zur Ausbildung dieser
Dichtgattung bei.
Der Hochblüte mittelalterlicher Dichtkunst, die in
Frankreich in die letzten Jahrzehnte des 12. und den
Beginn des 13. Jahrhunderts fällt, folgte eine Erschlaffung,
die auf unserem Gebiet durch das Zurücktreten
der Zaubermärchen und das Überhandnehmen
der Schwankstoffe charakterisiert wird: im 14. und
15. Jahrhundert wurde in Italien die N o v e l l e geboren,
und sie drang alsbald nach Frankreich: noch dem
15. Jahrhundert gehört die Sammlung der »cent nou-
velles nouvelles« an. Das 15. Jahrhundert ist bemerkenswert
durch die P r o s a a u f l ö s u n g der alten
Versepen, die nunmehr durch Aufnahme märchenhafter
Wanderstoffe im prosaischen Gewande anschwellen.
Der »Perceforest«, dem im übrigen kein Versroman
zugrunde liegt, bietet uns die älteste Version des
Dornröschenmärchens, der »Zauberer Virgilius«
nahm das orientalische Märchen vom Geist in der
Flasche auf, und der »Ogier« bereicherte sich um ein
Mahrtenehemärchen.
Gleichzeitig mit dem Prosaroman blühte das
D r a m a , das neben der heiligen Geschichte (in den
Mystères) auch Stoffe schwank- und märchenhafter
Art in den Farcen und Moralitäten pflegte. So begegnet
in einer Farce des Eustache Deschamps († 1415)
jener schlaue Betrüger Trubert wieder, der uns oben
in Zusammenhang mit dem Meisterdiebmärchen beschäftigte.
Das 16. Jahrhundert zeigt die Völker des Abendlandes
in der Blüte ihrer ersten Mannesjahre: es war
eine Zeit, die sich stürmisch von liebgewordenen Jugendträumen
losriß, die wild von Tat zu Tat eilte, in
der jeder Tag einen Markstein in der Geschichte bedeutet.
Das christliche Jenseitsideal konnte dem
immer reicher werdenden Erdenleben nicht mehr Genüge
tun, das Jahrhundert wandte seinen Sinn auf das
Irdische, ein Bestreben, das es der Antike näher führ-
te, die nun ihre glänzende Auferstehung feierte. Aber
neben antiker Formenpracht, neben religiöser Erneuerung
lebte die gotische Barbarei fort. Es war ein Jahrhundert
der Gegensätze. Während de Baïf die »Elektra
« übersetzte, während Calvin seine »Institutiones«
schrieb, versammelte sich der französische Hof in
Lyon und betrachtete mit Stielgläsern, wie Montecucculi,
der des Giftmordes am Dauphin bezichtigt war,
von vier Pferden auseinandergerissen wurde, und die
Höflinge schlossen Wetten ab, welches Glied der Gewalt
der aufgepeitschten Rosse am längsten Widerstand
leisten würde. Nur Margaretha von Angoulême,
die feinfühlige Dichterin, verbarg ihr Haupt an der
Schulter ihres königlichen Bruders. Die Hinwendung
zum Realen und die Ausbildung des Individuellen
konnte dem Märchen keinen Vorschub leisten: das
16. Jahrhundert setzte die Entwicklung vom Zaubermärchen
zum Schwank in verschärftem Tempo fort:
die ungestüme Lebenskraft der Zeit äußert sich im
Schwank und in der derben Faschingsposse, man
nimmt das Menschliche menschlich. Es ist das Jahrhundert
des F r a n ç o i s R a b e l a i s . Sein
»Gargantua« (1532) ist nichts anderes als eine gigantische
Verzerrung des Märchens vom starken
Hans, ein Märchentypus, der auf die Jugendgeschichte
des germanischen Siegfried sowohl wie des finnischen
Kullervo eingewirkt hatte, der aber in Frankreich
durch die Tätigkeit der Spielleute, die im Rainouart
des Karlszyklus ein Vorbild des Rabelaisschen Helden
schufen, und nicht ohne Einwirkung des keltischen
Hanges zur Groteske jene Form erreichte, die
das Märchen noch heute im Volksmund festhält: eine
Vergröberung und Verspottung des altgermanischen
Riesentypus.
Neben Rabelais verschwinden die Autoren von
S c h w a n k s a m m l u n g e n , die dem von den Fabliaux
und der italienischen Novelle gewiesenen
Wege folgten. 1521 wurden die Gesta Romanorum
unter dem Titel »Violier des histoires romaines«
durch Jehan de la Garde in Paris gedruckt. 1535 eröffnete
Philipp von Vigneuilles mit seinem noch ungedruckten
»Recueil« den Reigen der Nachahmer
Boccaccios, Poggios, Sacchettis und Masuccios, kurz
darauf folgt Nicolaus v. Troyes »Parangon« (1535)
und Bonaventura Desperiers mit seinen »Joyeus
devis«. Der große Nachahmer Lucians, der seinen
Kampf gegen das Christentum 1544 freiwillig beendete,
um den Verfolgungen der Inquisition zu entgehen,
schenkte der Mitwelt hier das Kind seiner heitereren
Muse. Freilich sind drei Viertel der Sammlung
eigene Erfindung. Henri Estienne, der Hugenott und
Hellenist, mischte in seine gegen den Katholizismus
gerichtete »Apologie pour Hérodote« (1566) viele
Schwankstoffe, Noel du Fail erwähnt in seinen
»Contes d'Eutrapel« (1565) und in seinen »Propos
rustiques« eine große Anzahl von Märchen, während
Margarethe von Navarra in ihrer Boccaccionachahmung
(Heptameron 1559) die ernsten Stoffe bevorzugte.
Sie brachte den Ernst, die Tragik und das Mitleid
in die Novelle. Verville mit seinem »Moyen de
parvenir« und die »Élite des contes« des Seigneur
d'Ouville – um nur die bekanntesten Namen zu nennen
– gehören schon dem folgenden Jahrhundert an.
Mit Riesenschritten eilte die französische Kultur
ihrem Kulminationspunkte zu. Der Hof Ludwigs
XIV. wurde der Sammelplatz der Künste und Wissenschaften
der Welt. In goldbestuckten Spiegelsälen
beugten sich betreßte Höflinge, geistreiche Frauen
plauderten in ihren Salons über Descartes, die Sprache,
bald geheimnisvoll flüsternd, bald pathetisch rollend,
verschmähte die Ausdrücke des Pöbels und floh
das Alltägliche, während von den Gobelins die gestickten
Helden der Antike auf die im Winde flatternden
Allongeperücken herabschauten: die Welt Molières,
Corneilles und Racines taucht auf. Die Komödie
suchte ihre Stoffe in Spanien und Italien, die Tragödie
folgte den Spuren des Euripides, alle Länder und Zeiten
trugen zur Verherrlichung des größten Repräsentanten
des Absolutismus bei. Da mußte auch das Märchen
seinen Tribut zahlen: der große Molière hielt das
apulejische Rokokogeschichtchen von Amor und Psy-
che für gut genug zu einem Hofspektakel (1672) und
L a f o n t a i n e , der ihm den Stoff dazu geliefert
hatte, ließ sein zynisch-epikuräisches Weltbild in den
Stoffen der Fabliaux und der Tiermärchen widerstrahlen.
Lafontaine schöpfte seine »Nouvelles en vers«
zumeist aus Boccaccio und Ariost, manche decken
sich mit den Fabliaux, andere gehen bis auf die Antike
zurück. Sein berühmtestes Werk, die »Fables«
(1668–78), gehen den Weg Äsops. Viele davon
haben Parallelen in noch heute erzählten Tiermärchen.
Lafontaine hatte eine fast romantische Vorliebe für
die Märchen, man kennt seine berühmte Stelle: »Si,
Peau d'âne' m'étoit conté, j'y prendrois un plaisir
extrème« (Fables VIII 4), dennoch schöpfte er kaum
je aus dem Volksmund unmittelbar.
Je höher die Zivilisation der Menschheit steigt,
desto weniger naiv steht sie dem Märchen gegenüber,
es wird vom Selbstzweck zum Mittel zum Zweck, es
steigt aus der abendlichen Spinnstube in das Kinderzimmer.
In diesem Jahrhundert, das eine gleichmäßige
Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten erstrebte
– wobei es freilich die wichtigsten, die des Herzens
und der Phantasie, vergaß –, erfüllte das Märchen
eine ähnliche Funktion wie in den Exempeln der Dominikaner:
es sollte moralische Lehren illustrieren,
oder eher umgekehrt: es bekam ein moralisches
Schwänzchen angehängt. 1697 erschienen die
»Contes de ma mère l'oye« von Charles P e r -
r a u l t . Aber Perrault war kein Romantiker. Noch
fünf Jahre zuvor hatte er gesagt: »Les fables milésiennes
sont si puériles, que c'est leur faire assez d'honneur
que de leur opposer nos contes de Peau d'âne
et de la mère l'oye.« Perrault lebt in der Literaturgeschichte
als der geist- und wortreiche Vorkämpfer des
Fortschritts im Kampfe gegen Boileaus antikisierende
Irrgänge, und die Märchen, die sein Sohn auf seine
Veranlassung niederschrieb, erschienen im gleichen
Jahre, in welchem sein Lebenswerk, die »Parallèles
des anciens et modernes« abgeschlossen wurde. Das
Märchen war nur eine Erholung für seine Mußestunden
und er blickte, wie seine ganze Zeit, mit einer gewissen
Verachtung auf diese Jugendverirrungen der
Menschheit herab, die erst durch den Anhang einer
Nutzanwendung Existenzberechtigung erhalten konnten.
Nicht anders wie Perrault stellte sich die Gräfin
A u l n o y zu den Märchen, die sie bearbeitete. Keine
ihrer Erzählungen ist eine getreue Wiedergabe aus
dem Volksmunde, sondern sie nahm die Motive, wo
sie sie gerade fand, und setzte sie mit dem ihrer Zeit
eigenen Geschmack zu jenen gefälligen, drolligen und
etwas moraltriefenden Geschichtchen zusammen, die
einen so ungeheuren Einfluß ausübten und zum Gesamtbild
des Rokoko gehören wie die Bilder Wat-
teaus und die Dramen Marivaux'. Den Ausschlag gab
die Übersetzung aus Tausendundeinenacht, die Galland
im Jahre 1709 brachte. Die Nachahmungen
schossen derart aus dem Boden, daß die Sammlung
all dieser Erzählungen im »Cabinet des fées«, die zu
Ende des 18. Jahrhunderts veranstaltet wurde, nicht
weniger als 41 stattliche Bände füllen konnte. Diese
Feengeschichten, die zumeist von Frauen geschrieben
sind (Gräfin Murat, Gräfin d'Auneuil, Gräfin Hamilton,
Mlle. de la Force u.a.), und die so zierlich und
zerbrechlich sind wie ein Rokokofigürchen, übten
nicht nur auf die schreibende Mitwelt – man denke an
die orientalischen Erzählungen Voltaires – einen tiefgehenden
Einfluß aus, sondern sie zogen auch das lebende
Märchen in ihren Bann, das sich im Volksmund
nach seinem literarischen Vorbild umgestaltete.
So erscheint das Märchen vom dankbaren Toten, das
im Jahre 1725 von Mme. de Gomez unter dem Titel
»Jean de Calais« bearbeitet wurde, in den meisten
französischen Fassungen der Gegenwart abhängig
von diesem literarischen Vorbild. Das germanische
Märchen von Rumpelstilzchen wurde von Mme. l'Héritier
1705 als »Ricdin-Ricdon« modernisiert, und
diese Umformung verdrängte im Volksmund in starkem
Maße die alte Form. Das Märchen von »La belle
et la bête« wurde 1740 von Mme. de Villeneuve erzählt
und erlangte eine solche Verbreitung, daß die
Wissenschaft die außerordentlich verbreiteten volksmäßigen
Varianten dieser Kunstnovelle auf diese letztere
als auf ihre Quelle zurückführen zu sollen glaubte.
Die meisten Kunstmärchen dieser Zeit freilich sind
leere Phantasien: »Gemische aus sogenannten orientalischen
Zauberwesen und modern schäferischen Liebesgeschichten
«, so charakterisieren sie die Brüder
Grimm. Die »Féeries nouvelles« des Grafen Caylus
und die anonymen »Nouveaux contes de fées« aus
dem Jahre 1718 verdienen noch hervorgehoben zu
werden. Die »Contes bleues« wurden durch die eindringende
Welle der englischen Literaturmode hinweggeflutet,
sie wurden gesammelt, und Sammlungen
beweisen stets, daß das lebendige Interesse an dem
darin gesammelten Objekt im Erlöschen ist.
Die R o m a n t i k bezeichnet den Eintritt der
abendländischen Welt ins Greisenalter; und wie sich
das Alter gern mit einer gewissen sehnsüchtigen Wehmut
vergangener Zeiten erinnert, so lebte jetzt die Anteilnahme
an den Schöpfungen des Volksgeistes neu
auf. Man betrachtete die Märchen mit ehrfürchtiger
Scheu als Produktionen der dichtenden Volksseele
und sah in ihnen einen Abglanz der mythischen Vorstellungen
der germanischen Völker, wodurch das Bemühen
gezeitigt wurde, diese einfältigen Kinder des
Volkes so naturgetreu wie möglich nachzuzeichnen.
Frankreich, das sich von den Anstrengungen der Re-
volution und der napoleonischen Kriege erholen
mußte, erblickte in der Romantik eine willkommene
Reaktion gegen die Überspannung der Jahrhundertwende
und nahm die von Deutschland hereindringende
Strömung willig auf. Während das Drama sich einerseits
bemühte, das historische Kolorit treu zu wahren,
während Victor Hugo im Zeitalter Franz I. den
geeigneten Boden für die Verwirklichung seines
Kunstideals von der Vermischung des Sublimen und
Grotesken erblickte, so fand andererseits der Messias
der Romantik, Shakespeare, in Alfred de Musset seinen
Apostel, der in seinen Märchendramen die Zeitlosigkeit
und sonnenstrahlenhafte Zartheit der Märchengebilde
am besten traf, und der in seiner »Barberine«
nicht ohne Grund dasselbe Zymbelinemärchen verwertete
wie sein großes Vorbild in der Geschichte von
Imogen. Auf dem Gebiete der Novelle wäre vor allem
Nodier zu nennen, der 1842 gemeinsam mit Leroux
de Lincy die »Bibliothèque bleue« wieder aufleben
ließ.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Märchen,
die durch die Brüder Grimm für ganz Europa
angeregt wurde, fand in Frankreich erst spät Nachahmer.
Erst im Jahre 1845 erschien, wenn man von der
kleinen Sammlung Pluquets aus Bayeux von 1832 absehen
will, die Sammlung normannischer Sagen von
Amélie Bosquet, die freilich weniger dem Märchen
dient, und im gleichen Jahre veröffentlichte Souvestre
den ersten Band seiner »Foyers bretons«, ein allzu
individuell gefärbtes Werk, das für die Forschung nahezu
wertlos ist. Von den sechziger Jahren an bemühte
sich eine ganze Anzahl von Sammlern, die Schätze,
die Frankreich noch birgt, unter Dach zu bringen. Vor
allem ist Paul Sébillot, der Schöpfer und das Haupt
der französischen Volkskunde, zu nennen, der nicht
nur weit über seine hochbretonische Heimat hinaus
als zuverlässiger und unermüdlicher Sammler tätig
war, sondern auch in seinem Lebenswerk, dem
»Folklore de France« (1904–07), das gesammelte
Material zu einem Kompendium der französischen
Volkskunde verarbeitete. Paul Sébillot ist der Herausgeber
der wichtigsten volkskundlichen Zeitschrift
Frankreichs, der »Revue des traditions populaires«
(seit 1886). Die meiste Ausbeute bot die Bretagne,
der die Werke von Luzel, Orain, Mme. de Cerny u.a.
angehören. Weiter wären zu nennen die Sammlertätigkeit
Bladés für die Gascogne, Pineaus für Poitou,
Lamberts für Languedoc, Carnoys für die Sommegegend
und nicht den geringsten zuletzt: Cosquins, dessen
treffliche Anmerkungen zu seinen lothringischen
Märchen eine der elementarsten Grundlagen für die
gesamte Märchenforschung darstellen und die hauptsächlich
eine Brücke vom Orient zum modernen Okzident
zu schlagen sich bemühen.
Es war hohe Zeit, die Schätze zu bergen, denn auf
die Romantik folgte das Maschinenzeitalter, jene
Epoche, in welcher die Menschheit in wahnsinniger
Überhebung die Natur zu beherrschen glaubte, bis die
Technik ihren Händen entglitt, eigenes Leben gewann
und in wilder Raserei den Bau der Jahrhunderte zertrümmerte.
Aus älteren Quellen
(Vom Mittelalter bis zum Ausgang des Rokoko)
Zwölftes und dreizehntes Jahrhundert
1. Wie Galopin für Elias von St. Gilles das
Wunderpferd Primsaus von Aragon stahl
Elias von St. Gilles ritt, vom Fluche seines Vaters getroffen,
in die Welt. Nach mannigfachen Abenteuern
überraschte er einst in Spanien vier Räuber beim
Mahl; drei davon erschlug er, den vierten, Namens
Galopin, einen schlauen und behenden Burschen,
nahm er als Diener an. Und bald bedurfte er seiner,
denn bei einem Überfall der Sarazenen wurde Elias
verwundet. Galopin schleppte seinen Herrn in einen
Weingarten und hier erblickte ihn Rosamunde, die
Tochter des Heidenkönigs Macabre. Sie pflegte den
Wunden und heilte ihn mit kräftigen Tränken.
Ein sarazenischer König, Lubien von Baudas, warb
um die Jungfrau und drohte, falls sie ihm verweigert
würde, ihren Vater mit Krieg zu überziehen. Schon
hatte sein Heer Macabres Burg im Halbkreise umschlossen,
doch niemand wagte es, den gewaltigen
Heiden zu bekämpfen. Da erbot sich Rosamunde
selbst, einen Kämpfer gegen den ungeliebten Werber
zu stellen, und sie bat Elias um den Ritterdienst. »O,
Herrin,« sagte Elias, »wie sollte ich einer Frau dienen,
die nicht an meinen Gott glaubt! Aber um des-
sentwillen, was Ihr an mir getan habt, als ich krank
und verwundet dalag, will ich Eurer Bitte willfahren.
Gebt mir Roß und Waffen, so will ich hinausgehen
und meinen Leib gegen Euren Freier zum Pfande setzen.
Bei Gott, ich weiß meine Lanze zu führen, und
kein Heide in Spanien, der Euch beleidigt hat, soll
sich des Sieges rühmen, wenn wir auseinandergehen.«
»Herr,« sagte die Jungfrau, »Ihr macht mich froh. Um
Euretwillen werde ich Mohammed verlassen und mit
Euch nach Frankreich gehen. Aber vor einem hütet
Euch, wenn Ihr mit dem Emir kämpfen wollt. Der
Schurke besitzt ein Streitroß, wie es in Frankreich
keines gibt: es heißt Primsaus von Aragon, Oriande
war seine Mutter. Wenn in der Schlacht das Gedränge
groß ist, dann springt es mit allen vier Beinen auf und
schreit und schlägt mit den Füßen um sich und tötet
jeden, den es trifft. Jeden, der es beim Zügel nimmt,
wirft es zu Boden, er müßte denn trefflich zu turnieren
verstehen.«
Als Galopin dieses Lob hörte, sprang er auf und
trat zu seinem Herrn: »Edler Graf,« sagte er, »was
zaudert Ihr noch? Bittet die Jungfrau, daß sie Euch
Waffen gibt. Ehe nach Mitternacht der erste Hahn
kräht, werde ich Euch das Streitroß verschaffen, allen
Heiden zum Trotz!« Galopin bekleidete sich mit seinem
Mantel – er maß nur drei Fuß – und band sich
hundert Denare um.
Er war ein Spitzbube und kannte sein Handwerk.
Er schlich sich durch die Hintertür und durchwatete
den Bach, der am Schlosse vorbeiströmte; dann eilte
er durch den Weingarten und durchmaß das feindliche
Lager, bis er zum Zelte des Emirs gelangte. »Der
große Mohammed, der die Welt regiert,« rief er Lubien
zu, der vor seinem Zelte saß, »erhalte den Kaiser
und alle, die ihm dienen.« »Freund,« antwortete der
Emir argwöhnisch, »er segne auch dich. Doch sage
mir, wer bist du und aus welchem Lande stammst
du?« Galopin, der Schlaue, entgegnete ihm: »Herr,
von jenseits des Meeres komme ich. Noch gestern
abend bei der Vesper war ich ein reicher Kaufmann,
ich führte ein Schiff, wie noch kein Mensch eines sah,
voll Gold und Silber, Seidenstoff und Tuch; zwanzig
Streitrosse waren darauf und zwanzig schöne Maultiere,
die sandte Euch der Herr meines Landes, denn
er ehrt Euch sehr. Macabre hat mir alles weggenommen,
meine Leute hat er mir getötet und mich selbst
ins Meer geworfen. Nun komme ich zu Euch, o
König, daß Ihr mir mein Recht verschafft.« Als der
König das hörte, geriet er außer sich, er richtete sich
auf und legte die Hand an den Kopf: »Zu seinem Unglück
hat das der Schurke erdacht, bei meinem Barte!
Ihr werdet Eure Schiffe und Eure Habe wiederbekommen
und vom Seinigen noch fünfzehnmal soviel dazu,
ehe der Krieg endet.« »Herr,« sagte der Spitzbube,
»an den Waren liegt mir nicht viel, denn ich verstehe
es wohl, mir neue zu erwerben; aber die Rosse bekümmern
mich, denn eines war darunter, das sehr
rühmenswert war: ein prächtiger armenischer Grauschimmel
mit schmalem Kopf und offenem, stolzem
Auge. Kleine Ohren hatte er und zartes Haar, langbeinig
war er und schnellfüßig. Nie war ein besserer
Streithengst im Kampf. Wenn er im Schlachtgetümmel
einen Ritter am Boden liegen sah, so trat er ihn
mit Füßen, bis er zerstampft war.« »Schweig, du
Schuft,« rief der Emir, »ich habe hundert Rosse, die
mehr zu schätzen sind. Ich gäbe sie nicht um tausend
Pfund lauteren Goldes her. Wenn du alle Pferde
Frankreichs zusammenbrächtest, ich möchte sie nicht
gegen eines meiner Rosse vertauschen. Aber gleich
sollst du es sehen.« »Herr,« sagte der schlaue Galopin,
»warum sollte ich es sehen? Ich verstehe nichts
von Pferden. Wenn ich eines schnell laufen sehe, so
halte ich es für einen guten Traber. Lieber wäre es
mir, Ihr gäbet mir ein wenig zu essen. Lange trieb ich
auf dem Meere und der ganze Körper ist mir durchnäßt.
« »Bei meinem Haupte,« rief der Emir, »du bist
ein Esel«, und stieß aus Zorn das Schachbrett um.
Galopin konnte es kaum erwarten, daß er das Roß zu
sehen bekäme. »Herr,« lenkte er ein, »zürnt mir nicht.
Wenn Ihr es wünscht, so will ich es gern anschauen.«
Das Wunderpferd stand in einem wohl mit Stahl ver-
ankerten Gerüste, dessen geringsten Pfeiler kein
Saumtier hätte tragen können. Mit drei goldenen Ketten
war es um den Hals gefesselt und vier Paar
Spannstricke hielten ihm die Füße zusammen, über
der Haut mit Filz gepolstert. Futter und Hafer hatte es
genug vor sich und es trank aus einem Gefäße, das
mit Gold eingelegt war. Wasser lief vor ihm in einem
Kanale und drei Kerzen brannten im Raum. Dreißig
Wächter mußten das Roß behüten, und wenn fünfzehn
schliefen, mußten die anderen fünfzehn wachen.
Keiner hätte sich schlafend ertappen lassen dürfen: er
wäre geblendet und des Landes verwiesen worden.
Lubien nahm den Vorhang weg: das Tier hatte eine
zarte Flanke und war an Kopf und Füßen weiß gezeichnet.
Dann fragte er den Spitzbuben: »War das
deinige so kostbar?« – »Nein,« sagte dieser, »ich will
es Euch nicht verhehlen: nie sah ich ein so schönes
Roß und auch nie eines so wohl verwahrt.« Dabei
aber murmelte er zwischen den Zähnen, daß ihn keiner
hörte: »So gut wird es doch nicht bewacht sein,
daß ich es nicht stehlen kann. Herr Elias, wenn Ihr
dieses Roß habt, so könnt Ihr Euch rühmen, daß im
weiten Frankreich kein Ritter je auf einem solchen
saß. Aber es ist gut verwahrt. Bei der Seele meines
Vaters, lieber wäre es mir, wenn es draußen an einem
Baume angebunden wäre.«
Von nun an hatte Galopin keine Ruhe mehr, und
seine Gedanken waren stets bei dem Rosse. Die
Wächter setzten sich zum Mahl, dann gingen sie
schlafen, da sie an nichts Böses dachten und auf den
kleinen Spitzbuben wenig achteten. Die andere Hälfte
wachte beim Roß. Galopin trat an das Gerüst, stützte
sich auf das Geländer und betrachtete das Tier. »Heilige
Jungfrau Maria,« betete er, »verschaff' mir das
Pferd, aber so, daß es mich weder tritt noch verwundet.
« Das Tier erschrak vor seinem Atem und sprang
mit allen Vieren zugleich. Die Wächter griffen zu
ihren Waffen und suchten den Raum wohl siebenundzwanzigmal
ab. Galopin stand im Schatten, und sie
bemerkten ihn nicht, obwohl sie ihn fast berührten.
Kein Wunder, daß der Dieb in Furcht geriet.
Da die Wächter nichts fanden, setzten sie sich zum
Schachspiel, und der eine sagte zum andern: »Was
hat das Tier gehabt?« – »Bei meinem Kopf,« sagte
der Oberste, »es ist zu fett und ruht zu viel, beim
kleinsten Anlaß erschrickt es.« Galopin hatte ein Zauberkraut
in der Tasche, das zog er nun hervor und rieb
es, so daß der starke Geruch hervordrang. Er warf es
durch die beiden Gitter hindurch, und die Wächter
schliefen von dem starken Dufte ein. Nun war das
Pferd unbewacht. »Bei Gott,« frohlockte der Dieb,
»ihr seid mattgesetzt. Der Emir wäre ein Dummkopf,
wenn er euch nicht sämtlich hängen lassen würde.«
Dann nahm er das Gerüst bei den Gittern und riß es
um. Er trat zu dem Pferde, streichelte ihm die Seiten
und gedachte es fortzuführen. Doch das Roß kannte
ihn nicht, es faßte ihn mit den Zähnen, stieß ihn zu
Boden, hob ihn dann wieder in die Höhe und schleuderte
ihn fünfzehn Fuß weit davon. Er rannte gegen
einen Pfahl, daß er fast die Besinnung verlor, und rief
Gott an, er möge ihn um Elias willen nicht verlassen.
Als er furchtsam vorwärtskroch, fand er einen Prügel,
den er beim dicken Ende packte. Dreißig Schläge gab
er dem Tier auf die Flanken, bis es ruhig ward und
sein Übermut verflog. »Halt die Füße still,« rief er,
»es wäre Torheit, wenn du dich bewegtest.« Nun legte
er dem Roß den Sattel auf, warf ihm den Zaum über
den Kopf und schlug die Ketten herab.
Galopin bestieg den verhängnisvollen Gaul, aber er
konnte nicht reiten und stellte sich wie ein Tor. Beim
ersten Schritt des Tieres lag er unten und hätte sich
fast Rippen und Arme zerbrochen. Er schwur, nie
wieder hinaufklettern zu wollen, und führte das Roß
hinter sich her; so schnell schritt er, daß es ihm kaum
folgen konnte. Das Pferd sah, daß er ein kleiner
Knirps war, und hatte wenig Respekt vor ihm, es warf
den rechten Fuß vor und stieß ihn zu Boden. Diesmal
blieb er unbeschädigt, sprang leichtfüßig wieder auf
und packte das Tier nun beim Leibgurt. Nie hätte der
kleine Spitzbube das gute Roß gestohlen, wenn es
sich besser gewehrt hätte. Doch er nahm einen ellen-
langen Stock und gab ihm elf Schläge auf die feisten
Flanken, bis es ruhig stand und ihm der Leib zitterte
wie ein Lorbeerblatt. »Sicher«, sagte Galopin, »ist
Gewalt oft nützlich. Rühr dich nicht oder du mußt es
büßen.« Dann band er dem Tier einen Strick um den
Hals und führte es so, daß es ihn nicht mehr treten
konnte. Er zitterte, als er am Zelte des Emirs vorbeimußte,
aber zu seinem Glück fand er ihn schlafend in
dem kostbaren Pavillon. Dann überquerte er den Bach
und gelangte in den goldbemalten Raum, wo Elias
schlief. Ehe der Ritter erwachte, war das Roß, das er
so heiß begehrt hatte, sein. Als Elias es erblickte,
wurde er froh gestimmt, streckte die beiden Hände
zum Himmel auf und rief: »Hei, Vater im Himmel, dir
sei gedankt!«
2. Hüon von Bordeaux
Karl der Große hielt zu Pfingsten Hof in Paris, denn
er wünschte wegen seines hohen Alters noch bei Lebzeiten
sein Reich auf einen Nachfolger zu übertragen.
Er schlug seinen Sohn Karlot als Nachfolger vor, und
die Barone erklärten sich einverstanden. Der Verräter
Amauri stellte das Fernbleiben der Brüder Hüon und
Gerard als Unbotmäßigkeit dar und erbot sich, sie zur
Aburteilung an den Hof zu bringen, dabei machte er
mit Karlot aus, daß sich dieser in einen Hinterhalt
legen sollte. So geschah es, und im Kampfe wurde
Karlot von Hüon erschlagen. Amauri beschuldigte
nun Hüon des wissentlichen Mordes am Königssohn;
zwar entschied ein Zweikampf zugunsten Hüons,
doch Karl wollte diesem sein Erbe nicht eher zurückgeben,
bis er nach Babylon gehe, den ersten, der ihm
am Hofe begegnete, erschlage, die Tochter des Emirs
dreimal küsse und Bart und Zähne des Emirs selber
mitbringe. Hüon trat selbzwölft die Reise an, und der
büßende Ritter Jérôme schloß sich ihnen unterwegs
an und zeigte ihnen den Weg.
So gelangten sie in Oberons Zauberwald. Ermüdet
streckte sich Hüon unter einer Eiche zur Ruhe: »Bei
Gott,« sagte er, »ich kann nicht mehr. Ich kann vor
Hunger nicht mehr weiter reiten.« »Schlecht versteht
Ihr zu fasten,« spottete Jérôme, »eßt doch von diesen
Wurzeln. Ich habe seit dreißig Jahren keine andere
Nahrung gehabt.« »Das bin ich nicht gewohnt«,
meinte Hüon. Während sie so redeten, kam ein kleiner
Mann durch den grünen Wald gegangen; der war so
schön wie die Sonne am Sommertag; ein Mantel aus
Seide, mit goldenen Bändern verziert, umhüllte ihn.
Einen Bogen trug er in der Hand, der ihm stets Wildbret
verschaffte; ein Horn aus reinem Elfenbein hing
ihm um den Hals, welches Feen auf einer Insel im
Meer gefertigt hatten. Die eine hatte ihm diese Gabe
verliehen: wer das Horn ertönen hörte, der würde auf
der Stelle gesund, und wäre er auch dem Tode nahe.
Die zweite Fee hatte hinzugefügt: wer das Horn hörte,
dessen Hunger und Durst würde alsogleich gestillt.
Ein jeder, hatte die dritte bestimmt, müsse zu singen
anfangen, wenn er den Ton des Hornes hörte, und
drücke ihn die Sorge noch so schwer. Die vierte endlich
gab ihm diese Kraft: wenn das Horn ertönte, in
welchem Lande es auch sei, Oberon müsse den Ton
vernehmen in Monmur, seiner Stadt. Der kleine Mann
blies auf dem Horn, und die Ritter begannen sogleich
zu singen. »Mein Gott,« rief Hüon, »wer will uns besuchen?
Ich spüre keinen Hunger mehr noch
Schmerz.« »Um Gottes willen, Herr,« sagte Jérôme,
»es ist der bucklige Zwerg. Redet ihn nicht an, wenn
Euch Euer Leben lieb ist.« Der kleine Bucklige rief
ihnen mit lauter Stimme zu: »Ihr Männer, die ihr meinen
Wald durchquert, seid mir gegrüßt beim Herrn
der Welt! Ich beschwöre euch bei Gottes Majestät,
bei Öl und Chrysam, bei der Taufe heiligem Salze,
bei allem, was Gott geschaffen hat, beschwöre ich
euch, daß ihr meinen Gruß erwidert.« Die Ritter aber
wandten sich zur Flucht zum großen Mißvergnügen
des Zwerges, der mit einem Finger sein Horn berührte,
worauf ein gewaltiges Unwetter entstand. Ein reißender
Strom hemmte Hüons und seiner Gefährten
Flucht. »Es ist der böse Zwerg, der das verursacht«,
beruhigte sie Jérôme, aber nur schwer erholten sie
sich von ihrem Schrecken und setzten in Unruhe ihren
Weg fort. Schon glaubten sie dem Zwerg entgangen
zu sein, da stand er plötzlich auf einer schmalen
Brücke vor ihnen. »Da ist der Teufel schon wieder«,
schrie Hüon. »Knabe,« entgegnete Oberon, der es
wohl gehört hatte, »nie war ich Teufel oder böser
Geist. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut wie
du, und ich komme nochmals, im Namen Gottes und
durch die Macht, die er mir gab, euch zu beschwören,
daß ihr mir Rede steht.« »Ums Himmels willen,
flieht!« rief Jérôme, dann spornte er sein Roß, und
seine Gefährten folgten ihm im Galopp. Ein drittes
Mal stellte sich der Zwerg ihnen entgegen und versprach
ihnen seine Hilfe bei der gefahrvollen Fahrt,
wenn sie sich entschließen wollten, ihn anzureden.
»Seid uns willkommen, Herr!« sagte Hüon. »Gott
lohne es dir!« entgegnete Oberon. »Hüon, teurer Bruder,
nie wurde ein Gruß besser gelohnt, als es der deinige
werden soll.« »Herr,« sagte Hüon, »warum verfolgt
Ihr mich?« »Ich liebe dich«, erwiderte Oberon,
»mehr als irgendeinen anderen Menschen, um deiner
Lauterkeit willen liebe ich dich. Du weißt noch nicht,
wem du begegnet bist, so höre: Julius Zäsar erzeugte
mich, und die Fee Morgana gebar mich als ihren einzigen
Sohn. Große Freude herrschte bei meiner Geburt,
und mein Vater entbot alle seine Barone, und
alle Feen kamen, meine Mutter aufzusuchen. Eine von
ihnen, welche unzufrieden war, verwünschte mich zu
einem buckligen Zwerg, der ich jetzt zu meinem
Schmerze bin; seit meinem dritten Lebensjahre bin
ich nicht mehr gewachsen. Sie wollte ihr Wort nicht
zurücknehmen, aber um dessen Wirkung abzuschwächen,
gab sie mir die größte Schönheit nächst Gott.
Eine zweite Fee gab mir ein noch kostbareres Geschenk:
sie erlaubte mir, die Herzen der Menschen
und ihre geheimsten Gedanken zu erkennen. Einer
dritten Fee verdanke ich die beste Gabe: es gibt kein
Land, in das ich mich nicht durch meinen Wunsch allein
sogleich verfügen kann. Begehre ich ein Schloß,
so steht es vor mir, ich habe Speise, wann es mir beliebt,
und zu trinken, wann ich es fordere. In Monmur
bin ich geboren, wohl vierhundert Meilen weit von
hier, und dennoch bin ich schneller dort, als ein Roß
ein Tagwerk Landes durchmißt. Aber du hast noch
nicht alles erfahren, was ich den Feen verdanke.
Wisse also, daß es keinen Vogel gibt, keinen Eber,
keine wilde Bestie, und sei sie auch noch so blutgierig,
die sich nicht willig zu meinen Füßen legte auf
ein Zeichen meiner Hand. Endlich weiß ich alle Geheimnisse
des Paradieses und höre dort oben die
Chöre der Engel. Nie in meinem Leben werde ich altern,
und wenn ich zu sterben wünsche, so ist mir an
Gottes Seite mein Platz bereitet.« Und um seine
Macht zu zeigen, zauberte Oberon im Nu eine speisenbedeckte
Tafel hervor. Nach dem Mahl wollten die
Reisenden aufbrechen, aber Oberon sagte: »Hüon,
bleib' noch ein wenig, zuerst will ich dir einige von
meinen Kleinodien geben.« Dann ergriff er mit beiden
Händen einen Becher. »Hüon,« hub er an, »betrachte
diesen Becher, damit kannst du die große Macht, die
Gott mir gab, erproben. Du siehst, dieser goldene Becher
ist leer. Nun, ich will ihn nach meinem Willen
füllen.« Bei diesen Worten strich er dreimal mit der
Hand um das Gefäß, machte das Zeichen des Kreuzes
darüber, und sogleich füllte sich der Becher mit lauterem
Wein. »Für alle Lebenden und für alle Toten,
wenn sie zur Welt zurückkommen würden, liefert dieser
Becher genügend Wein,« sagte Oberon, »und das
ist seine Zauberkraft, doch enthüllt sich diese nur in
den Händen eines reinen Menschen, denn niemand
kann aus ihm trinken, dessen Herz nicht sündenlos
ist. Sobald ein Bösewicht den Becher berührt, verschwindet
seine Kraft. Vermagst du daraus zu trinken,
so ist er dein.« Hüon brachte den Becher an seine
Lippen, und dieser blieb voll, und er trank daraus in
langen Zügen. Oberon zog ihn voll Freude an seine
Brust und gab ihm das kostbare Gefäß. »Aber trage
wohl Sorge,« sagte er, »deine Lauterkeit zu wahren,
nur unter dieser Bedingung helfe ich dir. Sobald du
nur eine Lüge redest, verliert der Becher seine Kraft
und du meine Freundschaft.« »Herr,« sagte Hüon,
»ich gedenke mich wohl zu hüten, und Gott vergelte
Euch Eure Gabe. Aber nun laßt mich ziehen.« »Noch
warte ein wenig,« sagte Oberon, »denn hier habe ich
ein Horn aus lauterem Elfenbein, und da ich dich als
einen Edelmann ohne Sünde und Fehl habe kennen
lernen, so will ich es dir schenken. Wenn du dieses
Horn ertönen lässest, und wärst du auch noch so weit
entfernt, so höre ich es in Monmur, meiner Stadt, und
dann werde ich dir mit hundert Bewaffneten zur Seite
stehen, denn gegen jedermann will ich dir im Kampfe
helfen. Aber hüte dich, ohne Grund in das Horn zu
stoßen, sonst gerätst du in Not.« »Herr,« sagte Hüon,
»ich gedenke mich wohl zu hüten. Aber nun laßt mich
ziehen.« »Geht, Hüon, und Gott befohlen.«
Auf der Weiterreise kehrte Hüon in Dunostre ein,
tötete mit Oberons Hilfe den riesenhaften Herrn des
Landes, dem auch der Emir von Babylon untertänig
war, und raubte seinen Ring. Sodann überschritt er
das Rote Meer und näherte sich allein, denn seine Begleiter
hatte er in Dunostre zurückgelassen, der Stadt
Babylon. An einem Feste des heiligen Johannes hielt
dort der Emir seinen Hof. Kein Mensch konnte das
Volk zählen, das dort zusammenströmte, man sah Vogelsteller
und Rossetummler, Arbeiter und Schachspieler,
solche, die sich mit Jungfrauen ergötzten, und
solche, die sich im Sommertag ergingen. Hüon gelangte
zur ersten Brücke und rief den Torwacht an:
»Laß mich ein!« Jener entgegnete: »Gern, aber zuvor
sage mir, in welchem Lande du geboren bist. Bist du
ein Franke, so sollst du um einen Kopf kürzer gemacht
werden; bist du aber ein Sarazene, so wird die
Brücke vor dir niederfallen.« Nun handelte Hüon sehr
töricht. Vor der Menge der Heiden hatte er seines
Ringes ganz vergessen, und er erinnerte sich auch
nicht des Gebotes, das Oberon ihm gegeben hatte. Er
antwortete allzu voreilig: »Ja, ich bin ein Sarazene.«
Da hatte er gelogen, und Oberon wußte es und zog
seine Freundschaft von ihm. Vermittels dieser Unwahrheit
gelangte er über die Brücke, aber vor der
zweiten fiel ihm der Befehl des Elfenkönigs ein, er
dachte an seine Verfehlung und geriet vor Schmerz
fast außer sich. Beim Gekreuzigten schwur er, nie in
seinem Leben wolle er wieder lügen. Ganz niedergeschlagen
kam er zur zweiten Brücke und rief mit lauter
Stimme: »Öffne, Hurensohn, oder der Blitz soll
dich zerschmettern!« Der Torwacht sagte: »Aus welchem
Lande stammst du und wie hast du die erste
Brücke passiert?« »Bei Gott,« sagte Hüon, »du sollst
es wissen.« Er nahm den Ring des Riesen von der
Hand und rief dem Wächter zu: »Schau, welches Zeichen
ich dir weise!« Der Wächter erblickte den Ring,
erkannte ihn wohl und beeilte sich, die Brücke herabzulassen.
»Sei mir willkommen, Jüngling,« rief er,
»was macht mein Herr, der stolze Orgileus?« Hüon
würdigte ihn keiner Antwort, er wagte nicht zu reden,
aus Furcht, die Unwahrheit zu sagen.
Durch die nämliche List gelangte er über die dritte
und vierte Brücke und trat nun in den Garten des
Emirs Gaudise, in welchem alle Arten von Bäumen,
die Gott geschaffen hat, grünten. Dort strömte eine
Quelle, die vom Paradiese kam und deren Wasser
dem hinfälligsten Greise seine Jugend wiedergab und
der ausschweifendsten Frau ihre Jungfrauschaft. Eine
Schlange hütete die Quelle und brachte jedem Bösewicht,
der sich ihr näherte, den Tod. Hüon trat ungehindert
heran, trank aus der Quelle und wusch sich die
Hände und vergaß fast seinen Auftrag. Nur wenn er
an Oberon dachte, zitterte er. Wird der Zwerg noch
einmal kommen, um ihm zu helfen? Er wollte sich
dessen vergewissern und stieß in sein Horn, aber umsonst:
niemand ließ sich blicken. Der Emir saß gerade
beim Mahl, die, welche ihm den klaren Wein eingossen,
begannen beim Klange des Hornes zu singen,
und er selber fing zu tanzen an. »Ihr Barone,« sagte
er, »hört, der dort im Garten bläst, ist gekommen, uns
zu verzaubern. Ich befehle euch, daß ihr euch bewaffnet,
sobald er sein Blasen aufgehört hat. Wenn er entkommt,
sind wir alle beschimpft.« Als Hüon merkte,
daß niemand kam, legte er sein Horn beiseite und
weinte. Dann schritt er die Stufen zum Schloß hinauf,
in den Panzer gehüllt, mit geschlossenem Visier und
das blanke Schwert in der Faust. Ein Großer des Reiches
stand am Tisch und suchte die Aufmerksamkeit
der schönen Emirstochter Esclarmonde, die er heiraten
sollte, zu erwecken, er war ein reicher Mann von
edler Abstammung. Hüon näherte sich, schwang sein
Schwert und schlug dem Heiden den Kopf ab, so daß
dieser auf die Tafel rollte. »Ein guter Anfang,« sagte
er zu sich selber, »um dieses bin ich bei Karl entlastet.
« Der Emir wurde mit Blut bespritzt und schrie:
»Barone, faßt mir diesen Schurken; wenn er entkommt,
sind wir alle beschimpft.« Alle Sarazenen
stürzten sich auf Hüon, der sich nach Kräften verteidigte.
Er nahm den Ring, den er am Finger trug, und
warf ihn auf den Tisch: »Herr,« sagte er, »da seht!
Um dieses Zeichens willen tut mir kein Leid an!« Der
Emir erkannte den Ring und befahl, Hüon zu schonen.
Nun trat dieser auf die Tochter des Emirs zu und
küßte sie dreimal, um sein Wort einzulösen. Esclarmonde
erbleichte, als sie seinen Atem spürte. Leise
sprach sie zu ihrer Magd: »Weißt du, warum ich erbleiche?
« »Nein, bei Gott!« »Sein süßer Hauch hat
mir das Herz erfüllt; wenn ich ihn heute nacht nicht
an meiner Seite habe, komme ich von Sinnen.« Hüon
trat auf den Emir zu und meldete ihm den Auftrag
Karls: er ersuchte ihn, die Taufe anzunehmen, dem
Frankenkaiser zu huldigen und ihm den Tribut zu
schicken, den er verlangte. Der Emir rief: »Dein Herr
ist toll, das alles kümmert mich keinen Pfifferling.
Wenn er mir sein ganzes Erbe gäbe, ich würde nicht
von meinem weißen Barte lassen und von meinen vier
Backenzähnen. Fünfzehn Boten hat er mir schon hierhergesandt,
keinen einzigen hat er zurückkehren
sehen, alle habe ich erwürgen und einpökeln lassen.
Und, bei Mahommed, du sollst der sechzehnte sein.
Nur des Ringes wegen wagten wir dich nicht anzutasten.
So sage mir, mit welches Teufels Hilfe du als
Franke in den Besitz dieses Ringes gekommen bist?«
Hüon wagte nicht zu lügen, da er Oberons Zorn
fürchtete: »Herr Emir,« sagte er stolz, »so wahr Gott
mir helfe, ich will es Euch sagen. Ich habe Euren
Herrn getötet und zerstückelt.« Der Emir stieß einen
Wutschrei aus: »Barone,« rief er, »wollt ihr ihn laufen
lassen? Wenn er entkommt, sind wir alle beschimpft.«
Die Heiden hörten es und griffen Hüon von allen Seiten
an. Nach verzweifelter Gegenwehr entglitt ihm
sein Schwert, er wurde zu Boden geworfen, sein
Horn, sein Becher und seine Rüstung wurden ihm genommen,
und der Emir befragte seine Barone, wel-
Tod er erleiden solle. »Gehängt soll er werden!« riefen
sie. Aber der weise Ratgeber des Emirs wußte
etwas anderes: »Heute ist Johannistag,« sagte er, »da
kannst du kein Urteil fällen, wenn du nicht gegen das
Gesetz verstoßen willst. Man muß diesen jungen
Mann ins Gefängnis werfen und ihn ein Jahr lang
darin lassen. Im nächsten Jahre sollst du ihn am gleichen
Tage befreien und ihm auf offenem Felde einen
Kämpfer gegenüberstellen. Besiegt er diesen, so sollst
du ihn in Frieden ziehen lassen; wird er aber besiegt,
so läßt du ihn hängen.« »Wenn das der Brauch meiner
Ahnen war,« entgegnete der Emir, »so will ich ihn
nicht außer acht lassen.« Hüon wurde ins Gefängnis
geworfen, aber nicht lange sollte er darin schmachten.
Esclarmonde, die sich auf den ersten Blick in ihn verliebt
hatte, ließ ihn frei. Der Emir wurde getötet und
seines Bartes und seiner Zähne beraubt; dann ergriffen
beide die Flucht und gelangten nach vielen weiteren
Abenteuern, bei denen der versöhnte Oberon wieder
Hilfe leistete, nach Frankreich, wo Hüon Land
und Lehen zurückerhielt.
3. Bertha mit den großen Füßen
König Pippin von Franken warb, dem Rate seiner Barone
folgend, um die ungarische Königstochter Bertha
mit den großen Füßen. Das ungarische Königspaar
nahm die Werbung an und sandte die Jungfrau in der
Begleitung ihrer alten Amme Margiste, deren Tochter
Aliste und ihres Hofmeisters Tybert an den Hof des
Frankenherrschers. An einem schönen Augusttage
fand in Paris die Hochzeit statt, und mancher mächtige
Fürst diente dem jungen Paare beim Mahle. Dann
räumte man die Schüsseln fort, und drei Spielleute
zeigten ihre Künste. Als diese ihr Spiel beendet hatten,
erhob sich der König und die allgemeine Lustbarkeit
begann. Fürsten und Barone umringten die junge
Königin und führten sie auf ihr Zimmer. Aber Margiste
hatte in ihrem Herzen einen verräterischen Plan
gefaßt: sie kniete vor der Königin nieder und flüsterte
ihr ins Ohr: »Herrin, es schmerzt mich bei Gott, daß
ich es sagen muß, aber gestern hat mir ein Freund berichtet,
daß seit Anbeginn der Zeiten kein Mensch so
zu fürchten war, wie der König Pippin es sein wird,
wenn er bei Euch liegt. Ich fürchte sehr, daß er Euch
tötet, wenn er heute nacht sein Gattenrecht an Euch
ausübt.« Als Bertha solches hörte, begann sie fast
sinnlos vor Angst zu weinen. »Herrin,« sagte die alte
Hexe, »bekümmert Euch nicht, denn ich will Euch
retten. Wenn die Bischöfe und Äbte von der Einsegnung
des königlichen Bettes zurückgekehrt sind,
werde ich Eure Kammer räumen lassen. Dann werde
ich Aliste, meine Tochter, geschwind entkleiden und
an Eurer Statt ins Bett legen. Ich habe schon mit ihr
darüber geredet und sie hat ihre Einwilligung dazu
gegeben. Denn ich will lieber, daß sie umkomme, als
daß Ihr Schaden nehmet.« Auf diese Worte hin umarmte
Bertha die Alte und dankte Gott und allen Heiligen.
Die böse Kammerfrau aber wandte sich von ihr
und ging durch den königlichen Garten zum Flusse,
wo sie ihre Tochter an einem Steinfenster lehnend
fand. Diese glich Bertha, wie das Bild eines guten
Malers dem Originale gleicht. Keine Frau konnte sich
mit ihnen an Schönheit messen, sowenig wie eine
dürre Heide mit einer blumigen Wiese. Die Alte umarmte
ihre Tochter und küßte sie auf die Stirn, dann
verabredeten sie heimlich, wie sie Bertha verraten
könnten. »Tochter,« sagte die Alte, »ich liebe dich,
darum sollst du Königin werden, wenn es Gott und
dem heiligen Petrus gefällt.« »Mutter,« entgegnete
Aliste, »Gott erhöre Euer Gebet. Schickt nach Tybert,
er soll uns seinen Rat erteilen. Befehlt ihm, daß er
hierher kommt unter dem Vorwande, er habe gestern
Almosen für mich ausgeteilt.« Die Alte, die zum
Bösen stets bereit war, lief schnell wie ein Windhund
davon. Tybert kam eilends herbei und fand Gefallen
an dem Plan. Alle drei beratschlagten eifrig, wie sie
ihrer Herrin Bertha das Frankenreich wegstehlen
möchten. »Tochter,« sagte Margiste, »zu einem guten
Sprung gehört ein weiter Anlauf: du wirst ein wenig
dabei leiden müssen. Heute nacht soll Bertha in meiner
Kammer schlafen; wenn es tagt, so werde ich sie
zu Euch schicken, gleichsam als solle sie ihren Platz
beim Könige einnehmen. Dann mußt du dir ein Messer
in den Schenkel stoßen, so tief, daß das helle Blut
hervorspritzt. Darauf schreist du um Hilfe und tust,
als ob sie dich habe ermorden wollen; ich werde nun
in die Kammer treten und sie fesseln lassen. Das übrige
laßt mich nur machen.« »Mutter,« sagte die Magd,
»es geschehe, wie es dir gefällt.«
Als es Abend wurde, begaben sich Bischöfe und
Äbte in das Schlafgemach, um das Lager zu segnen.
Dann hieß die Alte alles Volk hinausgehen und die
Kerzen löschen. Ihre Tochter legte sie ins Bett König
Pippins und steckte das Messer, mit dem sie den Verrat
begehen sollte, in das Bettgestell. Die alte Hexe
lachte hämisch, dann begab sie sich in ihre Kammer
und sagte zu Bertha: »Herrin, voll Schmerz und
Unmut verlasse ich meine Tochter. Es ist unbeschreiblich,
was wir für Euch getan haben.« »Gott
lohne Euch dafür, Frau!« Dann hieß die Alte sie
schlafen gehen und sagte ihr, bei Tagesanbruch müsse
sie sich ankleiden und sich leise neben den König
schleichen. Die ahnungslose Bertha sagte dieses ganz
ruhig zu, sie wolle in nichts dem Willen ihrer Amme
zuwiderhandeln. Darauf sprach sie ihre Gebete im
Bette sitzend, denn sie war wohl gebildet und konnte
sogar schreiben. Indessen tat der König an der Magd
seinen Willen und erzeugte mit ihr einen Erben, der
voll Falschheit und Tücke war.
Als es Tag wurde, rief die Alte den Verräter Tybert,
der mit Freuden herbeikam. Bertha erwachte und
begab sich leise, wie die Alte ihr aufgetragen hatte, in
das Schlafgemach des Königs. Sie trat zu der Magd,
die im geschmückten Brautbett lag. Die Magd bemerkte
sie, und ohne Zaudern ergriff sie das Messer,
schwang es und versetzte sich selbst einen solchen
Stich hinten in den Schenkel, daß das helle Blut herausspritzte.
Dann hielt sie ihr Messer Bertha hin und
diese nahm es, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.
Dann fing die falsche Braut an zu schreien: »Ha!
König Pippin, an Eurer Seite will man mich morden!«
Der König erwachte und sah das blutende Messer,
welches die Königin in der Hand hielt. Er richtete
sich auf, fast von Sinnen vor Zorn. Die Alte stellte
sich wütend, als sie ihrer Tochter Blut erblickte, und
schwur, daß die Täterin ohne Gnade sterben müsse.
»O König,« sagte das Weib, »laßt sie schleunigst hinrichten.
Habt kein Mitleid mit ihr. Nie in meinem
Leben könnte ich sie wieder lieben!« Die alte Hexe
packte Bertha und stieß sie mit einem gewaltigen
Schlag aus der Kammer. Bertha ließ alles ruhig über
sich ergehen, denn noch glaubte sie, dies alles geschehe
aus Freundschaft, obwohl ihr von dem Schlage die
Tränen aus den Augen strömten. Tybert zerrte sie am
Mantel fort, so daß derselbe fast zerrissen wäre: »Gott
helfe mir,« sagte Bertha, »was ist mir begegnet, was
haben diese Leute im Sinn?« Die böse Alte reichte
Tybert ein Band, dann schlugen sie Bertha nieder, öffneten
ihr gewaltsam den Mund wie einem Pferde, das
man aufzäumt, und steckten ihr einen Knebel hinein,
so daß sie um viel Geld kein Wort hätte reden können.
Auch die Hände fesselten sie ihr, warfen sie auf
ein Bett und breiteten eine Decke über sie. Die Alte
saß neben ihr und flüsterte ihr zu: »Wenn du schreist,
wird dir der Kopf abgeschnitten.« Bertha war über
diese Worte sehr erschrocken; sie merkte wohl, daß
jene sie verraten hatten und daß sie in ihr Netz gegangen
war, und vor Schmerz wurde sie ohnmächtig.
Margiste ging nun fort und ließ die Königin in den
Händen Tyberts. Sie begab sich in das Gemach des
Königs, und als sie ihre Tochter erblickte, fiel sie vor
ihr auf die Knie: »Gnade, Herrin,« flehte sie, »um
Gottes willen. Wenn Ihr wüßtet, wie ich meine Tochter
zugerichtet habe, würdet Ihr nicht sagen, daß ich
mitschuldig wäre.« – »Schweigt, alte Vettel,« sagte
der König, »Eure Untreue ist erwiesen. Ihr wolltet
insgeheim Bertha, meine Gemahlin, ermorden. Eure
Tochter wird ohne Erbarmen verbrannt.« »Herr,«
sagte Aliste, »glaubt nicht, daß diese Alte jemals
einen Verrat begangen hätte, es gibt keine tüchtigere
Frau auf der weiten Welt. Aber ihre Tochter hat stets
für etwas beschränkt gegolten und gleichsam für irrsinnig.
Herr, ich bitte Euch um eine Gnade, um die
erste, seit ich Euer Weib bin und Krone trage: ich
bitte Euch bei der Treue, die Ihr mir geschworen habt,
daß diese Angelegenheit verschwiegen und verheimlicht
werde. Kein Mensch soll etwas davon erfahren,
weil ich doch die Magd mitgebracht habe. Laßt vielmehr
drei Diener die Magd fortbringen, sie sollen sie
in ein fernes Land führen und dort eingraben oder erwürgen
oder was sie wollen, jedenfalls soll sie sterben.
« »Herrin,« stimmte die Alte bei, »Euer Rat ist
gut. Auch ich wünschte, sie würde enthauptet oder ertränkt
oder sonstwie zum Teufel geschickt.« Der
König bewilligte die Bitte, und die Alte wurde beauftragt,
die Sache zu Ende zu führen. Der König erhob
sich, denn er wünschte, daß die Angelegenheit schnell
erledigt werde; er rief drei Diener und sandte sie, ohne
ihnen die näheren Umstände darzulegen, zu Margiste
mit dem Auftrage, alles auszuführen, was ihnen diese
befehlen würde. Die Alte zeigte ihnen das Zimmer,
wo Bertha lag: »Kommt alsbald wieder, die Sache
eilt.« Dann wandte sie sich seufzend und weinend
zum König: »Nun ruht aus, Herr. Ich versichere Euch,
daß Ihr nie wieder von der Dirne sollt reden hören,
ich erkenne sie nicht mehr als meine Tochter an, das
schwöre ich Euch, weil sie meine Herrin ermorden
wollte.« Auch die Magd, ihre Tochter, begann zu weinen,
und der König suchte sie zu trösten: »Weinet
nicht um die Mörderin und laßt sie gehen, sie könnte
Euch nochmals töten oder vergiften wollen. Seid Ihr
schwer verwundet, Liebste? Sagt es mir offen!«
»Nein,« sagte sie, »es ist nicht so schlimm, nur als ich
das Blut sah, erschrak ich. Ich will Euch die Wunde
zeigen, geht und sperrt die Türe zu!«
Tybert und die Alte luden indessen Bertha auf
einen alten Klepper, und die drei Männer führten sie
gleich nach Tagesanbruch davon, Tybert begleitete sie
als vierter. Das Weib ersuchte Tybert, der ihr Vetter
war, er möge ihr das Herz Berthas zurückbringen,
und dieser versprach, es nicht zu vergessen. Bertha
weinte und betete, denn sie wußte nicht, wohin man
sie führte. Fünf Tage lang reisten sie, bis sie in einen
großen Wald gelangten, es war der von Le Mans.
Hier machten sie unter einem Olivenbaum halt: »Ihr
Herren,« sagte Tybert, »wir brauchen nicht weiter zu
gehen.« Dann stiegen sie von den Rossen. Einer der
drei Begleiter hieß Moraut, er war ein tüchtiger Ritter.
Sie hoben die Königin vom Pferd; es war das erste
Mal, daß sie sie mit ihren Händen berührten, denn
Tybert hatte niemanden sich ihr nähern lassen. Als sie
sahen, wie schön sie war, klagten sie um sie, aber Tybert,
der Schurke, zog sein Schwert und sprach:
»Zieht euch zurück, ihr Herren, mit einem Schlage
werde ich ihr jetzt den Kopf abtrennen.« Als Bertha
das Schwert sah, streckte sie ihre Arme mit flehender
Gebärde aus, denn reden konnte sie nicht wegen des
Knebels. »Tybert,« rief Moraut, »schlage nicht zu,
denn, beim allmächtigen Gott, ich würde dir Haupt
und Glieder abhauen oder nie nach Frankreich zurückkehren.
« Tybert zürnte sehr, als es ihm nicht gestattet
wurde, Bertha zu töten. Aber kaum hatte er
sein Schwert gezogen, so packten ihn die drei Männer
von der Seite und zwangen ihn auf die Knie. Sie rissen
ihre Schwerter heraus, und während die beiden
andern den Schurken Tybert festhielten, band Moraut
mitleidig die Königin los und nahm ihr den Knebel
aus dem Munde. »Flieht, schöne Frau, und der Herr
geleite Euch!« Bertha eilte in den Wald und dankte
Gott, als sie in Sicherheit war. Als Tybert ihre Flucht
bemerkte, sagte er zornig: »Schlecht habt ihr gehandelt,
ihr Herren; ich werde euch alle hängen lassen,
wenn wir daheim sind.« »Herr,« sagte Moraut, »wißt
Ihr, was wir tun? Ich rate, daß wir das Herz eines
Frischlings mitnehmen und es Frau Margiste zeigen,
auf diese Weise werden wir uns vor Tadel wahren,
denn Ihr wißt, daß wir versprochen haben, das Herz
jener Frau heimzubringen. Wenn Ihr nicht einverstanden
seid, Tybert, so töten wir Euch auf der Stelle.«
»Der Rat ist gut,« sagte Tybert, »da sie entflohen ist,
müssen wir sehen, uns vor Vorwurf zu wahren.«
Sie taten, wie Moraut geraten hatte. Die Alte hatte
eine große Freude, als sie ihren Bericht hörte. »Ihr
Herren,« sagte sie, »ich will euch reich belohnen. Jene
war das schlechteste Weib, seit die Welt steht.«
Bertha hatte indessen den Wald durchschritten und
gelangte nach mannigfachen Gefahren in das Haus
eines biederen Mannes Namens Simon, der ihr bereitwillig
Unterkunft gewährte. Sie ernährte sich mit
Handarbeiten und blieb neun Jahre lang im Hause Simons
wohnen. Um diese Zeit brach die Königin Blancheflur
von Ungarn auf, um ihre Tochter zu besuchen.
Auf ihrer Reise traf sie einen Bauern und befragte ihn
über die Königin, von deren Herrschaft sie nichts
Gutes gehört hatte. »Frau,« erwiderte jener, »ich muß
mich über Eure Tochter beklagen! Ich hatte ein einziges
Pferd, mit dem ich für mich, meine Frau und
meine kleinen Kinder mein Brot verdiente. Sechzig
Groschen hat es mich gekostet, und ich brachte auf
ihm meine Waren in die Stadt. Das hat sie mir wegnehmen
lassen. Gott strafe sie dafür!« Die Königin
hatte Mitleid mit dem Bauern und ließ ihm hundert
Groschen in die Hand drücken, wofür er ihr dankbar
den Steigbügel küßte.
An einem Montage ritt die alte Königin in Paris
ein. Pippin hörte es und brachte voll Freude seiner
Gattin selbst die Nachricht. Als die Magd diese Botschaft
hörte, wurde sie sehr bestürzt, doch stellte sie
sich, als ob sie lache. Sogleich rief sie ihre Mutter und
Tybert und fragte sie um Rat. »Ich rate,« sagte die
Alte, »daß meine Tochter sich krank stellt. Um nichts
in der Welt darf sie ihr Bett verlassen. Können wir
den Betrug solange durchführen, bis die alte Königin
heimkehrt, so brauchen wir fürderhin nichts mehr zu
fürchten.« Der Rat wurde befolgt; sogleich wurde ein
Lager hergerichtet, und die Magd legte sich nieder
und stellte sich krank. Der König, den die angebliche
Krankheit seiner Frau sehr bekümmerte, ging allein
der alten Königin entgegen. »Was macht Bertha,
meine Tochter?« war ihre erste Frage. »Ach, Herrin,
sobald sie erfuhr, daß Ihr kämet, wurde ihr Herz von
Freude so bewegt, daß sie sich niederlegen mußte,
und seitdem ist sie nicht wieder aufgestanden. Aber
wenn sie Euch erblickt, wird ihr gewiß sogleich besser
werden.« Als die Königin das Schloß betrat, warf
sich Margiste ihr schmerzheuchelnd zu Füßen: »Margiste,
« sagte Blancheflur, »wo ist meine Tochter, ich
will sie gleich sehen.« »Herrin,« jammerte das falsche
Weib, »zum Unheil bin ich geboren! Eurer Tochter ist
die Freude über Eure Ankunft so zu Herzen gegangen,
daß sie ihr Bett nicht mehr verlassen kann. Laßt sie
doch bis zum Abend ruhen!« Als Blancheflur nach
dem Essen ihre Tochter aufsuchen wollte, stellte sich
ihr die böse Alte mit ausgebreiteten Armen entgegen.
»Sie ist gerade ein wenig eingeschlafen, um Gottes
willen, kehrt wieder um!« Blancheflur wartete, bis
ihre Tochter erwachen würde; unterdessen unterhielt
sie sich mit der Alten und fragte sie nach Aliste.
»Herrin,« log das Weib, »sie starb auf dem Stuhle sitzend
eines plötzlichen Todes, ich weiß nicht, welches
Übel sie auf der rechten Brust hatte, ich glaube, sie
wäre zuletzt noch aussätzig geworden. Ich ließ sie
ganz im geheimen in der alten Kapelle bestatten.«
Endlich konnte sich Blancheflur nicht länger halten,
sie befahl einer Jungfrau, sie mit einer Kerze ins
Schlafzimmer der Königin zu begleiten, aber Tybert,
der bei der Kranken Wache hielt, trieb das Mädchen
sogleich mit Schlägen zurück: »Geh', Hündin, unsre
Herrin will schlafen, sie kann durchaus kein Licht
vertragen.« Blancheflur trat im Dunkeln an das Bett
der Magd. »Mutter, seid willkommen!« sagte diese
mit so schwacher Stimme, daß man sie kaum verstand,
und dann, auf eine Frage der Mutter nach ihrem
Befinden: »Mutter, ich leide solchen Schmerz, daß ich
weiß geworden bin wie Wachs. Die Ärzte sagen mir,
daß die Helligkeit mein Leiden verschlimmern würde.
Ich wage Euch daher nicht bei Licht zu begrüßen, so
schmerzlich es mir auch ist. Aber nun laßt mich um
Christi willen ruhen!« Blancheflur erhob sich kopfschüttelnd:
»Bei Gott!« sagte sie, »das ist meine
Tochter nicht, die ich hier vorgefunden habe. Wenn
sie halbtot wäre, so hätte diese mich umarmt und geküßt.
« Dann rief sie ihr Gefolge und ließ trotz der
Alten und Tyberts Widerstreben das Fenster öffnen
und Licht bringen. Sie riß die Decken vom Bett herunter
und betrachtete die Füße der Kranken: sie waren
nur halb so groß wie die ihrer Tochter. »Verrat!«
schrie sie, »Betrug! das ist meine Tochter nicht, es ist
die Tochter der Margiste! Weh! Sie haben mir mein
Kind getötet, meine Bertha, die mich so sehr liebte!«
Als der König den Betrug erfuhr, ließ er die alte Hexe
zum Feuertode führen, Tybert wurde von vier wilden
Rossen totgeschleift, die falsche Braut wurde um ihrer
Kinder willen geschont, doch mußte sie das Land verlassen.
Einst hatte sich König Pippin auf der Jagd im
Walde von Le Mans verirrt, da traf er auf Bertha, die
ihn in das Haus Simons führte. Pippin, der schon
lange im Sinn hatte, sich wieder zu verheiraten, fand
an Simons sittsamer Pflegetochter Gefallen und ersuchte
sie, ihm nach Paris zu folgen, um seine Gattin
zu werden. Bertha wies die Werbungen des Fremden
dadurch ab, daß sie sich ihm als Pippins Gattin offenbarte.
Der König gab sich nicht zu erkennen, sondern
ritt, nachdem er sich nochmals überzeugt hatte, daß er
auch wirklich Bertha vor sich habe, nach Paris zurück.
Dann ließ er das ungarische Königspaar einladen
und entbot auch Simon mit seiner Pflegetochter
an seinen Hof, wo er sich ihnen als König zu erkennen
gab. Ein großes Fest folgte dem freudigen Wiedersehen,
der wackere Simon wurde zum Ritter geschlagen
und auch Moraut, der Bertha das Leben gerettet
hatte, erhielt reichen Lohn.
4. Parthonopeus und Meliur
König Chlodwig jagte einst mit seinem Neffen Parthonopeus
im Ardennerwalde. Ein Eber floh vor dem
Jüngling und lockte ihn immer tiefer in den Wald hinein.
In der Irre tappend gelangte er schließlich zum
Ufer des Meeres. Hier fand er eine herrlich geschmückte
Barke liegen. Der Jüngling hoffte, auf diesem
Schiffe an den Hof seines Oheims zurückkehren
zu können oder doch zum wenigsten zu erfahren, wo
er sei. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er keine
lebendige Seele auf dem Schiff antraf. Er zog sein
Roß hinter sich her, streckte sich ermüdet auf dem
Deck aus und schlummerte ein. Als er die Augen wieder
öffnete, war kein Land noch Wald mehr zu erblikken,
nur Himmel und Wasser, und ein heftiger Wind
schwellte die Segel. Lieber wäre Parthonopeus noch
im Walde gewesen, denn die Gefahren des Landes
sind geringer als die des Meeres. Als aber die Sonne
aufging und er das Wunderwerk betrachtete, das ihn
trug, wurde er ruhiger. Die ganze Ausrüstung der
Barke war von Seide und ein strahlender Glanz durchfloß
ihr Inneres. Schneller als der Hirsch vor dem
Jagdhund flieht, glitt das Fahrzeug durch die Wellen
und landete abends von selbst am Fuße eines Bergschlosses.
Parthonopeus stieg aus und führte sein
Reittier, das ebenso abgemagert war wie er selber, am
Zaume nach.
Die hohen Mauern der Feste waren aus rotem und
weißem Marmor erbaut, der schachbrettartig wechselte.
Der Hafen war groß und tief, wohl hundert Schiffe
hätte er gefaßt, rechts und links davon dehnte sich ein
unbebauter Sandplatz aus. Durch einen hohen und
breiten Turm, der so weiß war wie Elfenbein, betrat
der Jüngling die Stadt. Eine Straße, zu deren Seiten
marmorne Paläste mit goldenen Dächern in der Sonne
glänzten, führte zum Schloß hinauf. Parthonopeus
glaubte zu träumen, bald dünkte ihn das alles ein
Trug der Hölle, bald vermeinte er im Paradiese zu
wandeln, nur sein knurrender Magen mahnte ihn an
die Wirklichkeit. Unter dem Schirmdach des Schloßtores
war ein Mosaik aus Gold, das Sonne, Mond und
Sterne und die Heldentaten der Alten darstellte. Weit
öffneten sich die Tore des Palastes und Parthonopeus
durchschritt eine Anzahl prächtiger Säle, bis er in
einen gelangte, in welchem ein reiches Mahl gedeckt
worden war. Große Kerzen brannten im Saale, Messer,
Löffel, Becher und Gold- und Silberschalen standen
auf der Tafel, aber in der ganzen Stadt war kein
lebendes Wesen zu erblicken, kein Ritter und keine
Dame saß am Tisch, keine Harfe und keine Geige ließ
ihre Saiten erklingen. Der Hunger nötigte den Jüngling,
daß er beschloß, von den bereitstehenden Spei-
sen zu kosten. Sogleich bot ihm eine unsichtbare
Hand ein Becken mit Wasser und eine andere ein
Handtuch dar, und als er sich die Hände gewaschen
hatte, setzte er sich auf den Ehrensitz der Tafel, denn
inmitten des höllischen Spuks und Blendwerks blieb
er sich bewußt, daß er aus königlichem Stamme geboren
sei. Von selbst stellten sich die Schüsseln vor ihn,
und wenn er von einem Gerichte genommen hatte,
wurden die Platten wieder von ebenso unsichtbaren
Händen abgetragen. Feenhafte Schenken gossen roten
Wein in goldene Schalen, mit welchen sie den Becher
des Jünglings füllten, der aus einem einzigen Safir bestand,
den ein funkelnder Rubin bedeckte. Nach dem
Mahle wurden ihm wieder Wasserbecken und Tücher
gereicht und dann ein Würzwein aufgetischt. Parthonopeus
fühlte den Schlaf nahen und trat zum Ausgang
des Saales. Sogleich erschienen zwei brennende Kerzen,
die ihn zu einem reichgeschmückten Lager führten.
Die Decke war aus dem Pelze eines Salamanders
gefertigt, der nur im Feuer leben kann, und der Teppich
vor dem Bette bestand aus Federn des Vogels
Phönix, das ganze Gemach aber war mit Porphyr eingelegt.
Parthonopeus setzte sich in einen Lehnstuhl,
um sich die goldenen Sporen abzunehmen, aber schon
war ihm eine dienende Hand zuvorgekommen, die ihn
entkleidete.
Kaum hatte er sich in die Decke gehüllt, als alle
Kerzen erloschen und das Gemach so dunkel wurde,
wie es zuvor in Helle gestrahlt hatte. Den Jüngling
lähmte ein unbeschreibliches Grauen, aber er konnte
nicht schlafen. Mit einem Male kam ein Mensch ans
Bett, Schritt vor Schritt, leise, leise. Parthonopeus
fürchtete, es möge der Böse selber sein, aber es war
eine Jungfrau, welche die Bettdecke lüpfte und sich
neben ihn legte. Er hielt sich ganz ruhig und drückte
sich zur Seite, aber auf einmal berührte ihn das Fräulein
mit dem Fuße und rief: »Wie? Wer bist du? Bin
ich betrogen? Mein ist dies Reich, wie wagtest du,
ohne meine Erlaubnis deinen Fuß in meinen Palast zu
setzen und dich obendrein in mein Bett zu legen?«
Der Jüngling erzählte, durch welche seltsame Reihe
von Abenteuern er hierher gekommen sei und entschuldigte
sich damit, daß er niemanden gesehen
habe, den er um Erlaubnis hätte fragen können.
»Frau,« bat er, »habt Erbarmen mit mir! Ich weiß
nicht, wohin ich mich wenden soll, wenn Ihr mich
verstoßt. Ich bin Euer Gefangener, Frau, beschließt
über mein Leben oder meinen Tod!« Sie aber bestand
darauf, daß er gehen solle und drohte, ihre Ritter zu
rufen. »Frau,« flehte er wieder, »ich kann nicht mehr
gehen, ich bin zu müde. Macht mit mir, was Ihr wollt,
wenn Ihr Euch meiner nicht erbarmen mögt.« Er
seufzte tief auf und erwartete den Tod. Als die Jungfrau
ihn so stöhnen hörte, begann ihr das Herz zu zit-
tern, Mitleid erfaßte sie mit dem jungen Manne, den
sie so geschmäht hatte, fast hätte sie ihn um Verzeihung
gebeten, und sie bereute unter Tränen ihre harten
Worte. So machen es die Frauen. So kam es, daß
ihr Widerstreben schwächer und schwächer wurde,
während der Jüngling sie an sich zog. Er nahm ihr die
Blüte der Jungfrauschaft; Blüten nahm er und gab
Blüten, denn nie hatte er bisher ein Weib berührt.
Nun enthüllte ihm die Fee, die sich Meliur nannte,
daß sie ihn schon zuvor gekannt und geliebt habe und
daß sie es gewesen sei, die dem König den Gedanken
zur Jagd eingegeben, den Eber aufgescheucht, das
Schiff geschickt und ihn durch ihre Geister bewirtet
habe. Parthonopeus dankte der Fee und versicherte sie
seiner Liebe: »So sehr liebe ich Euch,« sagte er, »daß
alles andere für mich versunken ist. Nur eines fehlt
mir noch: ich habe Eure Reize gefühlt, nun möchte
ich Euch auch sehen.« »Süßer Freund,« entgegnete
die Frau, »jede Nacht dürft Ihr meine Gunst genießen,
aber sehen dürft Ihr mich nicht. Ich will nicht eher erblickt
werden, als bis die Stunde gekommen ist, die
ich meinen Baronen zur Wahl meines Gatten bestimmt
habe. Dritthalb Jahre müssen bis dahin noch
verstreichen. Bis dahin gehört alles Euch: Hunde und
Falken und schöne Rosse, die wildreichen Wälder
und die Ströme voll von Fischen, Speisen und Kleider,
die Stadt und das Schloß und ich selbst. Aber Ihr
dürft mit niemandem reden als mit mir allein bis zu
dem Tage, da mich mit Einwilligung all meiner Könige
Parthonopeus von Blois zur Gattin erhalten soll.
Denn erst dann, süßer Freund, könnt Ihr Ritter werden,
nie würden meine Vasallen einen Knappen als
Herrn anerkennen. Solltet Ihr aber versuchen, mich
vorher mit List zu erblicken, so werden Tränen und
Unglück die Folge sein.« »Welche Gründe Euch auch
zu diesem Gebote treiben, ich achte sie und unterwerfe
mich,« entgegnete Parthonopeus, »da ich Eurer
Liebe gewiß bin; was fehlt mir noch zu meinem
Glück?«
Einige Wochen verlebte der junge Mann unter unaufhörlichen
Freuden im Feenlande, dann aber begann
er Sehnsucht nach seiner Heimat zu empfinden.
Nächtlicherweile, als er mit Meliur das Lager teilte,
gestand er ihr sein Sehnen und bat sie, ihm die Reise
zu gestatten. »Geht, Freund,« sagte diese, »geht, und
haltet Eurer Freundin die Treue. Frankreich bedarf
Eurer Hand, denn viele Feinde bedrängen es. Chlodwig
ist tot, auch Euer Vater ist verschieden, und
Blois, Euer Erbe, belagert der Feind. Geht und begeht
Taten des Ruhms und vergeßt nicht, freigebig zu sein,
denn stets will ich Euch reichlich mit Geld versehen.
Seid freundlich gegen die Armen und ehrt Gott und
seine heilige Kirche, aber laßt Euch nicht verleiten,
mich sehen zu wollen. Wenn der Friede wiederherge-
stellt ist, so verweilt nicht länger im Frankenlande,
sondern kehrt um meiner Liebe willen zu mir zurück.
« »Frau,« entgegnete Parthonopeus, »ich habe
Eure Lehren gehört und werde Eurem Gebote getreu
handeln.« Mit Schätzen reich beladen gelangte der
junge Mann in die väterliche Burg, verjagte seine
Feinde und befreite das Frankenreich von den Normannen
und Sarazenen. Dann kehrte er nach Blois zurück,
aber das Verlangen nach Meliur ließ ihn nicht
ruhen, und die Mutter, die seinen Kummer alsbald bemerkte,
stellte ihn deshalb zur Rede und fragte ihn, ob
ihn Liebessorge quäle. »Mutter,« antwortete er, »ja,
ich habe eine Liebste, die reichste und sanftmütigste,
die irgend zu finden ist.« »Ist sie schön?« »Das weiß
ich nicht.« »Wie? Das weißt du nicht, wenn du sie so
oft gesehen hast?« Nun erfuhr die Mutter das Verbot
der Fee, und obwohl sie ihren Sohn darin bestärkte,
den Wunsch seiner Geliebten zu achten, sann sie doch
darauf, wie sie ihn den Krallen des Teufels, denn für
einen solchen hielt sie Meliur, entreißen könne. Man
veranstaltete ein Mahl und setzte Parthonopeus einen
Vergessenheitstrunk vor; und wirklich vergaß sich
dieser soweit, daß er mit seiner freundlichen Nachbarin
plauderte und nahe daran war, sich in sie zu verlieben.
Das aber war es, was die Mutter beabsichtigt
hatte: das junge Mädchen sollte ihn an die Heimat
fesseln. Fast wäre das Ziel erreicht worden, da ent-
schlüpften diesem die unbedachten Worte: »Wir
haben unser Spiel gewonnen, Freund, du bist der
Macht der schönen Fee entrissen!« Als Parthonopeus
so an seine Geliebte erinnert wurde, dachte er nach,
mit einem Male fiel ihm alles wieder ein und eine
drückende Angst beklemmte ihn. Er sprang auf, entriegelte
die Tür, durcheilte die Säle und fand sein Roß
am Torweg. Er bestieg es und eilte im Galopp von
dannen.
Aber bald darauf trieb ihn die Sehnsucht nach der
Heimat ein zweites Mal aus den Armen Meliurs, welche
ihn diesmal, Böses ahnend, ungern ziehen ließ.
Die Mutter hatte inzwischen den Erzbischof von Paris
aufgesucht und ihm erzählt, wie eine Fee ihren Sohn
verzaubert und ihm verboten habe, sie zu sehen. Als
daher der junge Mann nach Blois zurückkehrte, berief
ihn der Erzbischof alsbald zu sich und ermahnte ihn,
ihm seine Sünden zu bekennen. »Herr,« sagte Parthonopeus,
»nur einer Sünde weiß ich mich schuldig. Ich
liebe eine Frau, die nie ich sah. Sie ist es, die mir
Gold und edle Steine gab, womit ich Könige und Bürger
beschenkte, sie ist es, die unserem Lande den
Frieden verschaffte, sie ist es, der ich alles verdanke,
doch darf ich sie ohne ihre Erlaubnis nicht betrachten,
und das ist das einzige, was mir Zweifel und Furcht
verursacht.« Als der Erzbischof dieses hörte, riet er
dem jungen Mann, er solle durchaus seine Geliebte
sehen, um sich zu überzeugen, ob sie nicht ein vermummter
böser Geist sei. Dann eröffnete ihm die
Mutter, daß sie ein Mittel besitze, um sie unbemerkt
zu betrachten. Aber wenn er sie erblicke, solle er sich
vor allzu großem Schrecken hüten, denn der Teufel
sei maßlos häßlich. Sie gab ihm eine Zauberlaterne,
welche kein Wind zu löschen vermochte. Parthonopeus,
den die Ermahnungen des Bischofs erschreckt
hatten, ging in die Falle und nahm die Laterne mit.
Dunkle Nacht war es, als er im Schlosse Meliurs
anlangte. Die schwerbeladenen Tafeln ließ er heute
unberührt und eilte, seine Laterne sorgfältig unter
dem Mantel verbergend, ins Schlafgemach. Ganz angekleidet
warf er sich aufs Bett, so groß war seine
Ungeduld, Meliur zu sehen. Als die Kerzen erloschen
waren, erschien die Fee, warf ihren Mantel ab und
legte sich neben ihren Geliebten. Als der junge Mann
sie neben sich fühlte, zog er seine Laterne plötzlich
unter der Decke hervor und erblickte die Fee im hellen
Lichtstrahl. Nie hatten seine Augen ein schöneres
Weib gesehen. Meliur aber erbleichte und erst jetzt
sah Parthonopeus, daß er töricht gehandelt habe. Voll
Wut warf er seine Laterne gegen die Mauer, so daß
sie zersplitterte, und verfluchte den Tag, da er sie erhalten.
In diesem Augenblicke fühlte er, wie sehr man
ihn betrogen, da die Frau, die man ihm als den häßlichsten
aller Teufel geschildert hatte, das schönste
Weib auf Erden war. »Süßer Freund,« klagte die Fee,
»was habe ich dir getan, daß du mich so mit Schmach
bedeckst? Tat ich etwas gegen deinen Willen, daß du
mir so zürnst?« Durch die Übertretung des Verbotes
nämlich hatte die Fee ihre Zaubermacht verloren, und
kaum war die unbedachte Tat geschehen, als Ritter
und Frauen in das Gemach strömten, die mit Fingern
auf das Paar wiesen. Parthonopeus wurde aus dem Feenlande
gewiesen und suchte verzweifelt den Tod
unter den wilden Bestien des Ardennerwaldes. Wie
der junge Held von einer mächtigen Fee gerettet
wurde und schließlich doch noch die Hand der schönen
Meliur bei einem Turnier gewann, sollt ihr ein andermal
hören.