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Kapitel 2
Оглавление5. Robert der Teufel befreit Rom von den
Türken
In ihrer Verzweiflung, kein Kind vom Himmel zu erhalten,
vergaß sich einst die Herzogin der Normandie
soweit, eines vom Teufel zu erbitten, und sie gebar
einen Sohn von außergewöhnlicher Stärke und Schönheit,
der den Namen Robert erhielt. Aber bald zeigte
sich die höllische Herkunft des Knaben: er biß seine
Ammen, erschlug seine Erzieher und mißhandelte die
Priester. Sein Vater suchte vergebens edlere Gefühle
in ihm zu erwecken, indem er ihm den Ritterschlag erteilte;
bei dem aus diesem Anlaß abgehaltenen Turnier
zeigte Robert der Teufel, wie man ihn von nun an
nannte, erst seine ganze Grausamkeit. Als ihn sein
Vater daraufhin von seinem Hofe verjagte, wurde er
zu einem Banditen, mißhandelte die frommen Wallfahrer
und ermordete die Einsiedler. Solange setzte er
sein zügelloses Räuberleben fort, bis ihn selbst vor
dem Schrecken, den er einflößte, grauste; da zwang er
seine Mutter, ihm die näheren Umstände seiner Geburt
zu enthüllen. Als er seine Herkunft erfahren
hatte, warf er seine Waffen weg, bekleidete sich mit
Bußgewändern und wallte nach Rom, um beim Heiligen
Vater Vergebung für seine Sünden zu suchen.
Der Papst glaubte die Verantwortung einer solchen
Absolution nicht übernehmen zu können und wies
Robert an einen Eremiten, der ihn wieder zu einem
zweiten und dritten schickte. Auf Befehl des Himmels
legte ihm der letzte diese Buße auf: wie ein Narr solle
er sich gebaren, solle sich der menschlichen Stimme
entwöhnen und mit den Hunden seinen Fraß suchen,
bis der Himmel ein Zeichen der Versöhnung gebe.
Von nun ab wohnte Robert unter einer Stiege des
Kaiserpalastes in Rom, wo ein Hund seine Unterkunft
hatte, der mitleidig sein Stroh mit ihm teilte.
Der Kaiser hatte eine Tochter, welche stumm geboren
war, um diese warb ein Seneschall seines Hofes,
dessen Werbung aber abgewiesen wurde. Aus Groll
rief dieser die Türken, welche Rom mit einem gewaltigen
Heere belagerten. Unter Führung des Kaisers
zogen die Römer zur Schlacht. Die Frauen und Jungfrauen
Roms geleiteten das Heer zu den Toren der
Stadt und empfahlen unter Tränen den Kaiser und
sein Heer dem Schlachtenlenker. Als Robert in seiner
Hundehütte das Heer ausziehen sah, war er dem Weinen
nahe. Wie gern wäre er mitgezogen, wenn er nicht
gefürchtet hätte, die Gnade dessen zu verscherzen, um
dessen willen er Buße tat. Denn einen anderen als
Gott fürchtete er nicht. »O Gott,« betete er in Gedanken,
»der du so manche Seele aus den Krallen des
Teufels gerettet hast, wie gerne eilte ich dem Kaiser
zu Hilfe und kämpfte für ihn gegen die stolzen Tür-
ken! Aber es ist nicht dein Wille und ferne sei es von
mir, mich in einen Kampf einzulassen. Aber wenn du
mich würdigtest, es zu wollen, so sollte die Sarazenen
meine Ankunft bitter schmerzen, mit meinem blanken,
hartgeschmiedeten Schwert würde ich ihre Leiber zerschneiden,
und wären ihrer auch tausendmal tausend.«
Seufzend erhob er sich und ging weinend in den Garten.
Da, wo eine klare Quelle sprudelte, abseits vom
Wege, ließ er sich nieder, denn er wünschte mit seinem
Schmerz allein zu sein. Er betete zu Gott, daß er
dem Kaiser in der Schlacht beistehen möge. Während
er so betete, trat die wunderschöne Jungfrau, des Kaisers
Tochter, zur schattigen Quelle, und als sie sich
umwandte, erblickte sie den Narren, wie er seine
Hände ausbreitete und Gott anzurufen schien. Das
wunderte sie sehr und sie bedachte, daß einer, der solches
tue, kein Narr sein könne. Sie schaute ihm lange
zu und Mitleid mit ihm ergriff sie. Dann blickte sie
über das Meer, wo die Türken heranrückten, um Rom
zu vernichten. Sie sah die Römer, die gegen sie zogen
und ihnen schon auf Bogenschußweite nahegekommen
waren. Noch beobachtete sie den Zusammenstoß
der Vorhut, da trat plötzlich an die Quelle, wo Robert
seinem Schmerze nachhing, ein Ritter von leuchtender
Schönheit. Mit einem silberweißen Harnisch war er
angetan und weißer als Lilienblüten waren seine Waffen
und sein Schild. Ein gewaltiges Schwert trug er an
den Hüften, dessen Klinge so weiß war wie frisch gefallener
Schnee, und das Roß, auf dem er saß, war
weißer als eine eben aufgeblühte Blume, einen weißen
Mantel hatte er umgeschlagen. Vor Robert stieg er ab,
neigte sich vor ihm und sagte ihm diese Botschaft
Jesu Christi: »Freund Robert, Gott befiehlt dir und
trägt dir durch mich auf, daß du unverzüglich in die
Schlacht eilst. Und willst du mir nicht glauben, so
nimm dies zum Zeichen: ich weiß, daß du ins Gebirge
gegangen bist, um beim heiligsten Manne des Landes
Buße zu suchen, und daß dieser dir solche Lebensweise
auferlegt hat.« Als Robert diese Botschaft hörte,
wurde er froh und sein Herz pochte; er warf sich zu
Boden und sagte seinem Schöpfer Dank. Dann nahm
er die Waffen und die Kleider, die der Engel ihm gab,
und legte sie an. Die Jungfrau aber wunderte sich gewaltig,
als sie ihn sich waffnen sah, und weinte aus
Mitleid und Liebe. Robert gürtete sich das Schwert
um, schnallte den Helm fest und sprang dann ganz in
Waffen gehüllt auf das Schlachtroß, das ihm der Himmel
gesendet hatte. Er ergriff den Schild geschickt wie
einer, der im Waffenhandwerk erfahren ist, zog ihn an
sich und nahm die große und gerade Lanze, mit der er
manchen Sarazenen in den Tod zu senden gedachte,
ehe die Sonne sinken würde. Darauf schied er vom
Boten Gottes und ritt davon. Nie sah man einen besser
gewaffneten und schöner geschmückten Ritter.
Gewaltige Heldentaten verrichtete der Unbekannte
in der Schlacht und entschied sie zugunsten der
Römer. Zwanzigtausend Türken lagen am Strande,
die alle ihr Leben verloren hatten, ungerechnet jene,
die die Schiffe nicht mehr schwimmend erreichen
konnten und im Meer versanken. Als Robert bemerkte,
daß die Schlacht zu Ende war, stahl er sich von
hinnen, so daß niemand erfuhr, was aus ihm geworden
sei. Er eilte wieder zur Quelle, wo ihn der Engel
erwartete. Schild und Helm waren ihm gräulich zerschlagen,
sein Antlitz war von den Schlägen, die er
auf das Nasenband erhalten hatte, mit Blut überströmt,
und die Maschen des Halsbergs waren von
den unzähligen Streichen in sein Gesicht eingedrückt.
Der Bote kehrte mit den Waffen zu Gott zurück. Robert
aber wusch sein blutiges Antlitz im Bach, und
seine Wunden schmerzten ihn heftig. Darauf ging er
an seinen gewohnten Platz unter die Stufen und häufte
sich Stroh zum Lager. Er überdachte in seinem Sinn
die heilige Tat und entschlummerte. Die Jungfrau aber
hatte die ganze Begebenheit mit angesehen und sie
war verwundert und erfreut über das große Werk, das
Robert vollbracht hatte.
Der Kaiser, der sehr betrübt war, seinen Retter
nicht aufzufinden, um ihm danken zu können, kehrte
in seinen Palast zurück und setzte sich zum Mahl. Um
diese Zeit erwachte Robert, sein Herz war tief betrübt
und er richtete sein zerfleischtes Gesicht zum Himmel.
Sodann verließ er sein Lager und ging langsam
und müde in den Saal und trat auf den Kaiser zu. Sobald
ihn die stumme Prinzessin bemerkte, erhob sie
sich gegen ihn und neigte tief ihr Haupt, dann setzte
sie sich wieder ganz züchtig neben ihren Vater. Der
Kaiser aber schämte sich, denn er wußte nicht, warum
sie solches getan hatte, noch mochte er sie zur Rede
stellen. Die Tafelgesellschaft sprach manches spottende
Wort über den garstigen Narren und die törichte
Jungfrau, die man für toll hielt, weil sie diesen so geehrt
hatte. Dem Narren wurde Fleisch vorgeworfen,
welches er mit den Hunden teilte, während der Kaiser
in höchsten Lobeserhebungen den unbekannten weißen
Ritter pries, der die Stadt gerettet habe, und die
Prinzessin bemühte sich vergeblich, durch Zeichen
anzudeuten, daß Robert der Gesuchte sei.
Nach einiger Zeit kehrten die Türken zurück, um
für die Niederlage Rache zu nehmen, die gleichen
Vorgänge wiederholten sich, wieder entschied Robert
unerkannt in der Rüstung des Engels die Schlacht,
wieder begrüßte ihn die Jungfrau, die alles beobachtet
hatte, mit tiefer Verneigung, während der Seneschall
sich grollend vom Kampfe zurückhielt. Zum drittenmal
zogen die Türken mit ungeheuren Heeren heran,
der Kaiser rüstete sich zur Verteidigung und beriet
sich mit seinen Truppenführern. Lange dauerte der
Kriegsrat, schließlich ergriff der Kaiser das Wort und
sprach: »Ihr Herren! Gott unser Vater hat uns zweimal
einen Ritter zugesandt, der uns gewaltiglich
gegen die Türken verteidigt hat. Sicher wäre Rom
längst zerstört, wäre nicht die Kraft und der Glanz des
weißen Ritters und seiner Waffen. Höret nun, was ich
beschlossen habe. Der mir zweimal so geholfen hat,
hat großen Lohn verdient, wenn er ihn nur von mir
annehmen wollte. Kommt er uns diesmal wie sonst zu
Hilfe, so will ich ihn festnehmen lassen, damit ich
ihm den Lohn für seine Dienste erstatten kann. Dreißig
gute Ritter will ich in ein Gehölz in Hinterhalt
legen, wo er, wie man mir berichtet, nach der Schlacht
vorbeireitet. Dort soll er überfallen und festgenommen
werden, wenn er kommt und Gott ihn dahinführt.
«
Die dritte Schlacht endete durch Roberts Eingreifen
mit einer endgültigen Niederlage der Türken. Als Robert
in sein Versteck zurückkehren wollte, sah er sich
von den Rittern, die aus dem Hinterhalte hervorbrachen,
angegriffen. Er sprach kein Wort, sondern sah
schweigend die Ritter an, um die er sich wenig zu
kümmern schien; doch war er traurig und wußte nicht,
was er tun solle. Er scheute sich, ihnen Widerstand zu
leisten, denn er wußte wohl, daß der Kaiser sie hierher
bestellt hatte, damit er ihn belohnen könne. Aber
danach trug er kein Verlangen. Wurde er andererseits
festgenommen, so war sein Geheimnis verraten und er
konnte nicht mehr bleiben. So begann er in Gedanken
zu Gott dem Herrn zu beten, daß er ihn schütze und
kein Ritter ihn fangen könne, und er floh talabwärts,
so schnell ihn sein Roß zu tragen vermochte, hinter
ihm aber erhob sich eine Staubwolke von denen, die
ihn verfolgten. Solange eilten sie ihm nach, bis ihre
eigenen Pferde, der langen Verfolgung müde, erschöpft
stehen blieben. Nur einem gelang es, auf
einem Seitenpfade in Roberts Nähe zu gelangen. Eben
wollte er dem fliehenden Roß in die Zügel fallen, als
Robert eine plötzliche Schwenkung machte. Als jener
sah, daß er ihn nicht fangen konnte, drohte er ihm, er
würde sein Pferd erstechen, wenn er nicht stillhalte.
Er legte seine Lanze ein, um das Tier am Gürtel zu
treffen, aber der Stahl verfehlte sein Ziel und traf Robert
in den Schenkel. Bis zum Schaft drang die Waffe
in das Fleisch, aber trotzdem hielt Robert nicht an,
sondern eilte unter Schmerzen und blutend von dannen.
Er drückte seine Wunde mit der Hand zu, damit
das Blut nicht zu Boden tropfe und ihn verrate. Der
Ritter, der ihm die Wunde beigebracht hatte, blieb
hinten und zog seine verbogene Lanzenspitze zurück.
Das Eisen aber trug er nicht heim, das steckte in Roberts
Wunde.
Als Robert in großen Schmerzen heimgekommen
war, zog er das Eisenstück aus dem Schenkel und ver-
grub es. Wieder neigte sich beim Mahl die Königstochter
vor dem Narren und gab durch Zeichen zu verstehen,
daß sie ihn für den Sieger halte.
Um den Fremden zu veranlassen, sich zu entdekken,
ließ der Kaiser auf offenem Markte ausrufen, daß
der weiße Ritter, der sich durch das Eisenstück ausweisen
müsse, die Prinzessin zur Gemahlin erhalten
solle. Solches erfuhr der verräterische Seneschall. Er
ließ sich weiße Waffen verfertigen, brachte sich eine
Wunde am Schenkel bei und ließ das Eisen darin. Vor
den versammelten Baronen empfing ihn der Kaiser,
und alles war überzeugt, daß der Seneschall der Retter
Roms sei. Schon wollte der Kaiser die Hand seiner
Tochter in die des Verräters legen, da geschah ein
Wunder. »Meine Tochter,« sagte der Kaiser, »sei heiter
und freundlich und schmücke dich schön, denn ich
führe dir deinen Gemahl zu. Es ist der Seneschall
meines Reiches, der einst mit mir um deinetwillen
Krieg geführt hat. Er ist der tapfere Ritter mit den
weißen Waffen, der uns gerettet hat. Dreimal war er
uns ein so guter Schutz, daß die Türken uns keinen
Schaden zufügen konnten, sondern weichen mußten.
Tochter, zeig ihm ein freundliches Gesicht und laß
das Weinen, denn das weiß Gott, der höchste König,
daß er derselbe Ritter ist, der sich im Sturm so gut gehalten
hat.« »Lieber Vater,« antwortete die Stumme,
»wisset, daß er es nicht ist!« Staunend wich die
Menge zurück und der Kaiser wollte seinen Ohren
nicht trauen. »Ich bin jederzeit stumm gewesen,« fuhr
die Jungfrau fort, »bis zu dieser Stunde, da Ihr auf
mich eindranget, daß ich den Seneschall zu meinem
Liebsten nähme. Gott will nicht, daß er mich erhalte,
denn nicht er trug die Wunde beim Heimweg aus der
Schlacht davon. Was er Euch auch erzählen mag,
alles ist Lüge. Ein anderer als er ist der Retter Roms,
da steht er, der büßende Narr. Gott will, daß er seine
Buße ende, und darum hat er dieses Wunder bewirkt.
« Um ihre Worte zu bekräftigen, grub sie die
Lanzenspitze aus, denn sie hatte beobachtet, wie Robert
sie vergraben hatte, und der Ritter, der ihn verwundet
hatte, erkannte sie als zu seiner Lanze gehörig.
Alles Volk jubelte und Robert gab sich zu erkennen,
doch nur, um auf die Hand der Kaisertochter zu
verzichten und sein Leben in der Tiefe des Waldes als
Einsiedler zu enden.
6. Parzival in der Graalsburg
Parzival gedachte einst seine Mutter aufzusuchen und
gelangte auf dem Wege an einen Strom, den keine
Brücke überspannte. Er ritt eine Zeitlang flußaufwärts,
bis ihm ein großer Felsblock den Weg versperrte.
Der Jüngling schaute sich um und sah eine
Barke auf dem Strome abwärts gleiten, in welcher
zwei Männer saßen, und er blieb stehen, um zu warten,
bis sie in seine Nähe käme. Aber plötzlich blieb
das Fahrzeug mitten in der Strömung ruhig stehen, als
ob es vor Anker läge, und der Mann, der vorne saß,
warf seine Angel aus, um zu fischen. Parzival grüßte
die Männer und sprach: »Sagt an, Ihr Herren, ich bitte
Euch, führt keine Brücke auf das andere Ufer?« »Meiner
Treu, nein, Bruder,« erwiderte der Fischer, »keine
Furt, keine Fähre, keine Brücke vermittelt den Übergang
über diesen Strom, kein Pferd kann ihn durchschreiten,
und kein Fahrzeug, das größer wäre als dieses
kleine Boot, ist auf zwanzig Meilen im Umkreis
zu finden.« »So sagt mir um Gottes willen,« fuhr Parzival
fort, »wo ich heute nacht Herberge finden
kann!« »Ich will Euch heute nacht beherbergen,« antwortete
der Fischer. »Steigt nur in jener Felsenschlucht
aufwärts, und wenn Ihr droben seid, wird
sich vor Euch ein Tal ausbreiten; darin steht das
Haus, das ich bewohne, nahe an Fluß und Wald.«
Parzival erstieg den Gipfel des Berges und vor seinen
Augen dehnten sich weite Länder aus, aber er erblickte
nichts als Himmel und Erde. »Verflucht sei,
der mich so in die Irre führte,« murrte er, »treulos
handelte er, mich zum Spott hierherzulocken.« Plötzlich
sah er zu seiner Seite im Tale einen Turm ragen,
viereckig, aus grauem Stein und mit zwei Erkern geziert.
Bis tief nach Asien war kein schönerer gebaut.
Vor dem Turm lag der Saalbau, von Bogengängen
umgrenzt. Der Jüngling wanderte in der Richtung des
Schlosses weiter und bat den Fischer, den er Lügner
und Betrüger gescholten hatte, innerlich um Verzeihung.
Er ging auf das Schloßtor zu und fand die Zugbrücke
herabgelassen, dann ritt er in den Hof und vier
Diener traten ihm entgegen. Zwei davon nahmen ihm
die Waffen ab, einer führte sein Roß in den Stall und
warf ihm Futter und Streu vor, einer hüllte Parzival in
einen Scharlachmantel. Sodann führten sie ihn in den
Bogengang, wo er wartete, bis der Schloßherr ihn
rufen würde. Alsbald kamen zwei Diener und führten
ihn in den Saal, der war viereckig und ebenso lang
wie breit. Mitten im Saale stand ein Lager, auf dem
ein Ritter saß, dessen Haupt zierte ein maulbeerschwarzer,
purpurbesetzter Zobelpelz, und aus dem
gleichen Stoffe war sein ganzes Gewand. Er stützte
sich auf den Ellenbogen; vor ihm war ein Feuer aus
trocknem Holze angezündet, das hellen Schein verbreitend
zwischen vier Säulen flackerte. Vierhundert
Gäste hätten bequem rings um das Feuer Platz gefunden.
Die Diener nahmen den Fremden in ihre Mitte
und führten ihn vor den Schloßherrn, dieser begrüßte
ihn und sprach: »Möge es Euch nicht kränken, mein
Freund, daß ich mich nicht vor Euch erhebe!« »Bei
Gott, Herr, es kränkt mich nicht,« erwiderte Parzival.
Der Ritter erhob sich dennoch, so gut er konnte, und
lud den Jüngling ein, an seiner Seite Platz zu nehmen,
dann fragte er ihn: »Woher kommt Ihr heute,
Freund?« »Herr, heute früh brach ich von Belrepaire
auf«, erwiderte der Jüngling. »Bei Gott,« sprach der
Ritter, »dann habt Ihr einen hübschen Marsch hinter
Euch. Ihr müßt aufgebrochen sein, ehe noch der Hornstoß
des Wächters den jungen Tag verkündete.« »Es
hatte gerade zur Prim geläutet, als ich davonritt«, antwortete
Parzival.
Während sie so redeten, trat ein Jüngling durch die
Tür des Saales, der trug ein Schwert um den Hals, das
er dem Ritter reichte. Dieser zog es halb aus der
Scheide und sah nach, wo es gearbeitet war, denn das
war auf dem Schwerte eingegraben. Es war aus gutem
Stahl gearbeitet und konnte nur in einer einzigen Gefahr
zersplittern, die aber kannte niemand als der,
welcher das Schwert geschmiedet und gehärtet hatte.
Der Jüngling, der es brachte, sprach: »Herr, Eure
Nichte überreicht Euch dieses Schwert als Gabe, nie
fand man ein leichteres weit und breit. Ihr sollt es
schenken, wem es Euch gefällt. Doch würde es die
Dame freuen, wenn es der, der es erhält, in Ehren verwendet.
Der das Schwert geschmiedet, fertigte nicht
mehr als drei der Art und schwur, keines mehr zu
schmieden nach diesem.« Der Schloßherr umgürtete
den Fremdling mit dem Schwert. Es war das Schatzhaus
eines Königs wert, Arabien hatte sein bestes
Gold zum Griffe geliefert und feinste Venezianer Arbeit
war die Scheide. Der Ritter sagte: »Bruder, dieses
Schwert ist Euch bestimmt und ich wünsche, daß Ihr
es tragt. Gürtet es Euch um und zieht es in Ehren!«
Jener dankte dem Schloßherrn, schnallte sich das
Schwert um, und es gefiel ihm wohl, trefflich stand es
ihm an, da er es an seiner Seite trug, und besser noch,
als er es in der Faust hielt, um die Klinge zur Hälfte
herauszuziehen, um sie zu prüfen. Hinter ihm sah er
im Schein des Feuers den Diener stehen, der die Waffen
verwahrte; diesem gab er das Schwert, daß er es
aufbewahre. Dann nahm er wieder neben dem Schloßherrn
Platz, der ihm große Ehren erwies.
Als sie noch über dies und jenes sprachen, trat ein
Jüngling aus einer Kammer, der eine weiße Lanze in
der Mitte umklammert hielt. Langsam trug er sie hoch
erhoben zwischen dem flammenden Feuer und den
beiden Rittern auf der Lagerstatt vorüber, und alle,
die im Saale waren, blickten auf die Lanze und den
weißen Stahl. Und siehe: von der Lanze Spitze troff
ein purpurroter Tropfen Bluts herab und rollte auf des
Trägers Hand. Parzival sah dies Wunder, aber er fragte
nicht nach seiner Deutung, denn er erinnerte sich
des Verbotes, das ihm jener auferlegt, der ihn zum
Ritter schlug1, als er ihm sagte, er solle sich vor zu
vielem Reden hüten; so fürchtete er, man würde sein
Fragen für Ungebühr erachten, und blieb stumm. Darauf
traten zwei Jünglinge ein, die Leuchter aus emailverziertem
Gold in den Händen trugen, und zehn Kerzen
brannten links und rechts in jedem Leuchter. Hinter
den beiden kam eine Jungfrau in den Saal, wie ein
Engel anzuschauen, die hielt mit ihren beiden Händen
den Graal umspannt. Als sie den Saal betrat, drang
eine solche Helle aus dem Graal, daß alle Kerzen
ihren Schein verloren, gleichwie vor der Sonne oder
des Mondes Licht der Sterne Glanz verblaßt. Viel
kostbare Steine schmückten den Graal, die reichsten,
die der Schoß der Erde birgt, alle Schätze der Welt
überstiegen sie an Wert. Hinter der Graalträgerin
schritt eine Jungfrau, die einen silbernen Teller trug,
der mit feinem Golde eingelegt war. Ebenso wie der
mit der Lanze wallten sie vor dem Lager vorüber und
verschwanden in einem Nebenraum. Parzival sah sie
vorüberschreiten und wagte nicht, nach dem Graal zu
fragen, denn er trug stets die Worte des Weisen im
Herzen.
Darauf befahl der Schloßherr den Dienern, das
Wasser zu bringen und den Tisch herzurichten, was
sogleich geschah. Der Schloßherr und der Jüngling
wuschen ihre Hände in lauwarmem Wasser, dann
brachten zwei Diener eine Tafel aus Ebenholz ganz
aus einem Stück und hielten sie so lange, bis zwei andere
Diener kamen, die zwei Gerüste brachten, welche
aus einem wunderbaren Holze gefertigt waren, das
weder Fäulnis noch Feuer zerstören kann. Auf diese
Gerüste setzte man die Tafel und breitete ein Tuch
darüber; kein Papst hatte je von einem weißeren gespeist.
Die erste Speise war ein Hirschschlegel in
Pfeffer; klarer, herber Wein wurde dazu in goldene
Becher gegossen. Ein Diener zerteilte das Fleisch mit
einem silbernen Messer und legte den Rittern die
Stücke auf einem Teller vor. Und bei jeder Speise, die
man auftrug, sah der Jüngling den Graal ganz unverhüllt
vorübergleiten, doch er fragte nicht, wozu er
diente. Freilich hätte er es gern gewußt, aber er dachte,
ehe er fortginge, könne er einen der Diener des
Schlosses darnach fragen. Einstweilen beschränkte er
sich auf das Essen und Trinken, denn Speisen und
Getränke waren von ausgesuchtem Wohlgeschmack,
und kein Kaiser wurde jemals so gut bedient wie der
Schloßherr und der Jüngling an diesem Abend. Nach
dem Essen plauderten beide noch eine Zeitlang, und
die Diener brachten ihnen Früchte und Gewürze vor
dem Schlafengehen. Da gab es Datteln, Feigen und
Muskatnüsse, purpurrote Granatäpfel und zuletzt alexandrinischen
Ingwer. Hierauf nahmen sie einen
Würztrank und dann Maulbeerwein und hellen Sirup.
Endlich sagte der Ritter: »Freund, für heute ist es Zeit
zum Schlafen. Möge es Euch nicht kränken, wenn ich
drinnen in meiner Kammer zur Ruhe gehe; Ihr selbst
werdet ein Lager bereit finden, sobald es Euch Vergnügen
macht, Euch niederzulegen. Ich habe keine
Macht über meinen Körper und man muß mich forttragen.
« Drei kräftige Diener traten aus der Kammer,
ergriffen die Decke, welche auf dem Lager des
Schloßherrn ausgebreitet war, und trugen ihn in sein
Schlafgemach. Andere Diener waren bestimmt, dem
Jüngling aufzuwarten. Sie lösten ihm die Schuhe ab,
als es ihm gefiel, halfen ihm, sich zu entkleiden und
hüllten ihn in weiße Leintücher. Und Parzival schlief,
bis am andern Morgen die erste Röte des Tages aufzog
und das Schloßgesinde sich erhob.
Der Jüngling blickte in seinem Schlafgemach
umher, aber er sah keinen Menschen im ganzen
Raum. Er mußte sich also allein erheben, so sehr ihn
das auch kränkte. Er bekleidete sich, so gut es gehen
wollte, legte seine Schuhe an, ohne auf fremde Hilfe
zu warten, und nahm seine Waffen, die er auf dem
gleichen Tische liegend vorfand, auf welchen er sie
am Abend zuvor niedergelegt hatte. Als er sich gewaffnet
hatte, wollte er die Kammer durch die Tür
verlassen, die, wie er gesehen hatte, die Nacht über
offen geblieben war; aber zu seinem Erstaunen fand er
sie verschlossen. Er rief und rüttelte und pochte: vergebens,
niemand antwortete, niemand öffnete. Als er
des Schreiens müde war, trat er zur Öffnung der Kammer,
die ins Freie führte, und fand sie unversperrt, er
stieg die Stufen hinab, fand sein Roß gesattelt und sah
seine Lanze und seinen Schild an die Wand gelehnt.
Dann bestieg er sein Roß und blickte sich um, aber er
sah keinen Knappen und keinen Diener. Er wandte
sich zum Tor und fand die Brücke herabgelassen. Er
glaubte, da er dies sah, die Diener seien in den Wald
gegangen, um nach Wildbret zu spähen, und ritt ohne
Säumen auf die Brücke, denn gern hätte er von einem
der Knappen erfahren, warum die Lanze blute und
wohin man den Graal trage. Kaum aber hatte er die
Brücke betreten, als er fühlte, wie sich die Füße seines
Rosses hoben, das Tier machte einen gewaltigen
Satz, und wenn es nicht so gut gesprungen wäre, so
wäre es ihnen beiden übel ergangen. Der Ritter wandte
sein Gesicht, um zu sehen, was das gewesen sei,
und er bemerkte, daß man die Brücke emporgezogen
habe. Er rief, aber niemand antwortete ihm. »Heda,«
rief er, »du, der du die Brücke aufgezogen hast, wo
bist du, sprich mit mir, denn ich sehe dich nicht. Tritt
vor, ich will dich um etwas fragen, das ich wissen
möchte!« So sprach er, und da niemand ihm antworten
wollte, merkte er, daß zuviel Schweigen manchmal
ebenso unklug ist, wie zuviel Reden. Er lenkte
sein Pferd auf einen Pfad, wo er eine frische Spur von
Rossen erblickte; »da sind sie wohl fortgeritten, die
ich suche«, sprach er bei sich und trabte tiefer und tiefer
in den Wald hinein ...
Fußnoten
1 Gemeint ist Gurnemanz.
7. Iwein
Als König Artus einst zu Carduel das Pfingstfest beging,
erzählte Kalogreant seine letzte Abenteuerfahrt
zur Wunderquelle von Broceliande, welche für ihn
einen schlimmen Ausgang genommen hatte. König
Artus hörte den Bericht und schwur, er wolle am Johannistage
das nämliche Abenteuer bestehen, aber
Iwein, der das Mißgeschick seines Vetters Kalogreant
rächen wollte, brach in aller Stille nach dem Zauberwalde
auf.
Ein Bauer wies ihm den Weg: »Geht nur immer geradeaus,
« sagte er, »dann werdet Ihr zu der kochenden
Quelle gelangen, die trotzdem so kalt ist wie Marmelstein.
Der herrlichste Baum, der Sommer und Winter
sein Laub behält, überschattet sie, und daran hängt an
langer Kette ein metallnes Becken. Neben der Quelle
werdet Ihr einen Stein finden und auf der anderen
Seite eine kleine Kapelle. Wenn Ihr nun das Becken
mit Wasser füllt und dieses auf den Stein ausgießt, so
wird sich ein solches Unwetter erheben, daß Wild und
Vögel den Wald fliehen; denn solchermaßen wird es
blitzen, stürmen und krachen, regnen und donnern,
daß Ihr schon gewaltiges Glück haben müßt, wenn Ihr
ohne Schaden davonkommen wollt.«
Gegen Mittag gewahrte Iwein den Baum und die
Kapelle. Am Baume war ein Becken aus lauterm
Golde befestigt, die Quelle aber brodelte wie kochendes
Wasser. Der Steinblock war ein durchbohrter
Smaragd mit vier Rubinen besetzt, die flammten wie
die Morgensonne. Iwein füllte das Becken und goß
das Wasser auf den Stein. Auf der Stelle zuckten
mehr als ein Dutzend Blitze hernieder und die Wolken
gossen Schnee, Regen und Hagel aus. Iwein
glaubte von den rings um ihn einschlagenden Blitzen
und von den splitternden Bäumen vergehen zu müssen.
Aber alsbald sandte Gott wieder schönes Wetter,
die Vögel kehrten auf die Tanne zurück und trieben
ihr lustiges Spiel über der Wunderquelle. Kaum hatte
sich der Sturm gelegt, so erschien, vor Zorn flammend
wie Kohlenglut, ein Ritter mit solchem Lärm, als jage
er einen Brunsthirsch: es war der Hüter der Quelle.
Beider Blick verkündete, daß sie einander auf den
Tod haßten. Mit mächtigen Lanzenstößen zersprengten
sie einander Schild und Harnisch, die Lanzen zersplitterten
und die Trümmer flogen in die Höhe. Dann
gingen sie einander mit den Schwertern an und es entbrannte
ein furchtbarer Kampf, doch keiner wich um
eines Fußes Breite von der Stelle. Schließlich zerhieb
Herr Iwein den Helm des Gegners, so daß das Blut
von dessen Haupte strömte und die Maschen seines
weißen Harnischs rötete. Auf den Tod verwundet floh
der Fremde; im Galopp sprengte er nach seiner Burg,
die Zugbrücke rasselte herunter und das Tor öffnete
sich, hinten nach aber jagte Herr Iwein, ungestüm wie
ein Falke, der einen Kranich verfolgt. So galoppierten
sie beide durch das Stadttor und durch die menschenleeren
Straßen und gelangten mit verhängten Zügeln
vor das Tor des Schlosses. Der Zugang war so eng,
daß zwei Ritter nicht nebeneinander eindringen konnten.
Wie bei einer Rattenfalle befanden sich unter dem
Tor zwei Schlagfallen, welche eine scharf geschliffene
eiserne Falltür hielten. Trat jemand auf diese Vorrichtung,
so sauste die Falltür herab und er war gefangen
oder gar zerhackt. Der Quellwächter sprengte geradeswegs
hindurch, Iwein aber, der hinter ihm herhastete,
packte ihn schon am Sattelbogen, da trat sein
Roß auf das Holzbrett, welches die Eisentüre hielt.
Wie die Teufel in die Hölle, so fuhr die Falltür herab,
durchschnitt den Sattel und trennte das Pferd mitten
auseinander, ohne indessen, Gott sei Dank, Herrn
Iwein zu berühren, dem nur die beiden Sporen von
den Fersen gerissen wurden. Da stürzte er und der
Todwunde entkam ihm. Eine ebensolche Tür, wie sie
am äußeren Eingang sich befand, war auch innen angebracht.
Der Schloßherr eilte hindurch und die Tür
fiel hinter ihm herab. So war Herr Iwein gefangen.
Auf einmal hörte er, wie sich das schmale Türchen
eines Seitenraumes öffnete; eine wunderschöne Jungfrau
trat heraus und schloß die Pforte hinter sich wie-
der zu. Als sie Herrn Iwein erblickte, erschrak sie:
»Wenn man Euch hier bemerkt, Herr Ritter,« rief sie,
»so seid Ihr verloren. Unser Herr ist auf den Tod verwundet,
und wohl weiß ich, daß Ihr sein Mörder seid.
Unsere Herrin und ihre Leute sind trostlos und werden
Euch gewißlich töten, wenn sie Euch hier erwischen.
« »Das steht bei Gott!« antwortete Iwein. »Sie
sollen Euch aber nicht erwischen,« hub Lunete, die
Jungfrau, wieder an, »denn ich will Euch helfen, wie
Ihr mir einst am Artushofe halfet, als ich als kleines
blödes Mädchen dorthin kam. Da, nehmt dies Ringlein
und stellt es mir zurück, wenn Ihr wieder frei
seid!« Sie fügte hinzu, daß es mit dem Ringe diese
Bewandtnis habe: wenn man ihn so anstecke, daß der
Stein in der Faust verborgen sei, so brauche der, welcher
den Ring am Finger trage, nichts mehr zu fürchten,
denn er sei für jedermann unsichtbar, ebenso wie
ein Baumstamm, den die Rinde verdeckt. Nach diesen
Worten führte sie den Ritter in den Nebenraum, hieß
ihn sich auf ein Ruhebett niederlassen und reichte ihm
Speise und Trank. Nun kamen die Ritter und Bürger,
die ihren Herrn rächen wollten, sie zogen die Falltüren
in die Höhe und fanden die beiden Teile des toten
Rosses, aber Iwein war nirgends zu sehen. Rasend
vor Wut stürzten sie in den Saal und schlugen blindlings
auf Wände, Betten und Bänke ein, aber das
Bett, auf dem Iwein lag, blieb unberührt.
Während sie noch in ihrer Blindheit rasend um sich
schlugen, trat eine Frau in den Saal, die war so schön,
wie sie kein Sterblicher je gesehen. Doch war sie so
gramgebeugt, daß sie dem Tode nahe schien. Das eine
Mal schrie sie laut auf, dann sank sie wieder ohnmächtig
zu Boden, darauf begann sie sich zu zerfleischen
und ihre Haare zu raufen. Und siehe, die Leiche
des Herrn wurde auf einer Bahre vorübergetragen,
Kerzenträger gingen ihr voraus und Klosterfrauen,
dann folgten Geistliche mit Meßbüchern und Weihrauchkesseln.
Herr Iwein hörte die Wehklagen, und
die Prozession zog vorüber, um die Bahre aber drängte
sich eine staunende Menge, denn das Blut floß klar
und purpurn aus den Wunden des Toten. Das war der
sichere Beweis, daß der, welcher den Tod des Schloßherrn
veranlaßt hatte, sich noch hier im Saale befinden
mußte. Von neuem begann das Suchen und Schlagen,
doch Herr Iwein rührte sich nicht. Die Frau aber
schrie wie eine Wahnsinnige: »Ach Gott! Soll man
den Mörder, den Schurken nicht finden, der meinen
guten Herrn umgebracht hat. Guten? Den Besten der
Guten! Hat sich ein Geist oder der leidige Feind unter
uns gemengt, bin ich behext, daß meine Augen ihn
nicht sehen? Ein Feigling ist er, wenn er mir nicht
steht, er, der gegen meinen Herrn so mutig war.
Wahrlich, er kann nicht von dieser Welt sein, wenn er
meinem unvergleichlichen Herrn standhielt.« Dann
trugen sie die Leiche hinaus und begruben sie. Die
Menge wurde schließlich des Suchens müde und zerstreute
sich. Nun trat die Jungfrau wieder zu Iwein.
»Herr«, sagte sie, »wie ein Jagdhund nach einem Rebhuhn
oder einer Wachtel spürt, so haben sie jeden
Winkel abgesucht. Das muß Euch in Furcht gesetzt
haben!« »Das ist richtig,« antwortete Iwein, »aber
nichtsdestoweniger möchte ich durch ein Fenster den
Leichenzug da draußen beobachten.« So sagte er, aber
in Wahrheit kümmerte er sich weder um die Leiche
noch um den Zug, sondern er sprach es, weil er die
Herrin der Stadt schauen wollte. Lunete führte ihn an
ein Fensterchen, durch welches er die schöne Frau erspähen
konnte, welche immer noch ihrem toten Gatten
nachtrauerte: »Euch, lieber Herr, kam nie ein Ritter
gleich an Ehren weder noch an feiner Sitte. Freigebigkeit
war Eure Freundin und Mut Euer Gefährte. Unter
der Schar der Heiligen möge, teurer Herr, Eure Seele
weilen.« Dabei zerriß sie immer wieder mit den Händen
ihr Gewand, dergestalt, daß Iwein sich nur mit
Mühe zurückhalten ließ, sie daran zu hindern. Lunete
mahnte ihn nochmals, ruhig und besonnen zu bleiben,
dann ging auch sie, um an der Leichenfeier teilzunehmen.
Inzwischen hatte aber die Frau, ohne es zu wissen,
einen Rächer für den Tod ihres Gatten gefunden, und
zwar einen stärkeren als sie selbst jemals hätte finden
können: Amor hatte nämlich für sie Rache genommen,
dadurch, daß er Iwein durch die Augen in das
Herz getroffen hatte. Hierdurch hatte Herr Iwein eine
Wunde erhalten, die nie wieder heilen sollte. Je länger
Iwein die Frau durch das Fenster beobachtete, desto
mehr verliebte er sich in sie und desto schöner erschien
sie ihm. Gewiß, er wußte, daß sie ihn wegen
der Tötung ihres Gatten hassen müsse, aber eine Frau
hat mehr als tausend Gefühle. Vielleicht wird sich das
Gefühl, daß sie zur Zeit hegt, noch einmal ändern?
Sicher wird es das, ohne »vielleicht« und er wäre töricht,
wenn er zuvor verzweifeln wollte, Gott gebe
nur, daß es bald wechsle. Während er noch in solchen
Gedanken befangen war, kehrte Lunete zurück, um
ihm Gesellschaft zu leisten, ihn zu trösten und zu zerstreuen.
»Herr Iwein,« redete sie ihn an, »wie ist es
Euch inzwischen ergangen?« »Nach Gefallen!« erwiderte
er. »Nach Gefallen? Wie? Kann es einem nach
Gefallen ergehen, wenn man zum Tode geholt werden
soll?« »Gewiß, meine liebe Freundin,« entgegnete er,
»ich möchte jetzt nicht sterben, denn was ich sah, hat
mir sehr gefallen und gefällt mir noch und wird mir
immer mehr gefallen!« »Lassen wir das,« sprach Lunete,
»ich verstehe sehr wohl, worauf dieses Wort
zielt, ich bin nicht so einfältig. Aber jetzt kommt,
damit ich Eure Befreiung bewerkstellige. Heute Nacht
noch oder morgen früh sollt Ihr in Sicherheit sein.«
»Oho,« versetzte er, »ich will nicht wie ein Dieb davonschleichen.
Mit mehr Ehren werde ich von dannen
ziehen, wenn alles Volk draußen auf der Straße versammelt
ist, als wenn ich nächtlicherweile mich aus
dem Staube mache!«
Die Jungfrau erinnerte sich sehr wohl an Iweins
Worte, und da sie sehr gut mit ihrer Herrin stand, so
benutzte sie die nächste Gelegenheit, um die Sache
zur Sprache zu bringen. »Herrin,« sprach sie, »es
wundert mich sehr, daß Ihr Euch so sinnlos gebärdet;
glaubt Ihr denn, den Herrn durch Eure Tränen zurückzugewinnen?
« »Ach,« entgegnete jene, »ich wünschte,
ich stürbe vor Schmerz!« »Warum?« »Um ihm
nachzufolgen!« »Ihm nach ...? Davor bewahre Euch
Gott, vielmehr gebe er Euch wieder einen ebenso
guten Gemahl, der auch ebenso tapfer ist.« »Einen so
trefflichen kann er mir nicht wiedergeben!« »Einen
besseren wird er Euch geben, wenn Ihr ihn nehmen
wollt, das will ich Euch beweisen.« »Geh, schweig!
Einen solchen werde ich nie finden!« »Doch, Herrin,
wenn Ihr wollt. Denn, sagt mir doch – um Vergebung
–, wer soll Euren Boden schützen, wenn König
Artus herkommt, der, wie Ihr wißt, nächste Woche
zur Quelle und zum Steinblock gelangen wird? Ihr
solltet lieber einen Entschluß fassen, wie Ihr Eure
Quelle verteidigen wollt, anstatt daß Ihr unaufhörlich
jammert.« »Geh!« zürnte die Herrin, »ich will nichts
mehr davon hören!« »Auch gut, Frau!« schmollte Lunete,
»da kann man nichts machen, wenn sich die
Herrin über guten Rat erzürnt.« Aber ihre Worte hatten
doch gewirkt, die Dame hätte gar zu gern gewußt,
wie Lunete beweisen wollte, daß sie einen besseren
Ritter finden könne, als ihr Gatte gewesen war, und
bald kam das Gespräch wieder auf diesen Gegenstand.
»Gesetzt, daß zwei Ritter sich bewaffnet im
Kampfe gegenüberstehen«, sagte Lunete, »und daß
der eine den anderen besiegt, wer, glaubt Ihr, ist wohl
der bessere? Ich meinerseits würde dem Sieger den
Preis zuerkennen. Und Ihr?« »Mir scheint, du willst
mir auflauern, um mich dann beim Wort zu nehmen.«
»Ich sage die reine Wahrheit, ich will Euch nur beweisen,
daß der, welcher Euren Gatten besiegte, ein
besserer Ritter ist als jener war.« Nun brach der Zorn
der Herrin los und Lunete eilte wieder zu Iwein, der
bekümmert darüber war, daß er den Anblick der
Schloßherrin entbehren mußte. Diese sorgte sich indessen
doch darum, wie sie ihre Quelle verteidigen
sollte, und sie bereute ihre harten Worte gegen Lunete.
Am anderen Morgen entschuldigte sie sich bei ihr
und fragte sie nach Name und Art des Siegers. »Ich
werde ihn«, sagte sie, »dafür bürge ich dir, zum Herrn
über mich und mein Land machen. Aber es muß so
geschehen, daß über mich keine üble Nachrede entsteht,
etwa: das ist die, die den Mörder ihres Gatten
genommen hat.« »Gewiß, Herrin, Ihr werdet den edelsten
und vornehmsten und schönsten Mann bekommen,
der je aus dem Stamme Abels geboren wurde.«
»Wie heißt er denn?« »Herr Iwein.« »Bei Gott, der ist
nicht übel. Er ist von edler Geburt, ich weiß wohl, er
ist der Sohn des Königs Urian.« »So ist es.« »Und
wann kann ich ihn haben?« »In fünf Tagen.« »Das ist
zu lange, er sollte schon da sein. Er soll heute Nacht
oder doch spätestens morgen kommen.« Lunete versprach
nun, den Ritter herbeizuschaffen und beriet
ihre Herrin, wie sie ihre Barone mit ihrer schnellen
Wiederverheiratung versöhnen könne: es müßte doch
jedem einleuchten, daß die Quelle einen neuen Verteidiger
haben müsse.
Iwein wurde also vor die Schloßherrin geführt, um
von ihr, wie die listige Lunete sagte, ins Gefängnis
geworfen zu werden, und er folgte demütig und krank
vor Liebe und Sehnsucht. Und hatte die Jungfrau
nicht recht, wenn sie ihn einen Gefangenen nannte?
Denn wer liebt, ist in Ketten. Gebeugten Hauptes trat
Iwein vor die Schloßherrin, er faltete die Hände und
ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. »Herrin, ich bitte
nicht um Gnade. Gern will ich alles leiden, was Ihr
mit mir vorhabt, und ich will Euch noch dafür danken.
« »Und wenn ich Euch töten lasse, wie Ihr meinen
Herrn getötet habt?« »Wenn Euer Herr mich angriff,
welches Unrecht tat ich, mich zu verteidigen?«
»Wenn Ihr Euch schuldlos fühlt, warum wollt Ihr
dann meinen Willen über Euch ergehen lassen? Setzt
Euch und steht mir Rede!« »Herrin, mein Herz treibt
mich dazu!« »Und wer trieb Euer Herz?« »Herrin,
meine Augen!« »Und wer die Augen?« »Die hohe
Schönheit, die ich an Euch sah!« »Die Schönheit, was
hat die damit zu tun?« »Herrin, sie heißt mich lieben!
« »Lieben? Und wen?« »Euch, teure Frau!«
»Mich? Und wie?« »So, daß ich nur noch an Euch
denke, daß ich Euch mehr liebe als mich selbst, daß
ich für Euch leben oder sterben will!« »Und werdet
Ihr meine Quelle schützen?« »Gegen die ganze
Welt!« »Dann sind wir also einig.«
Darauf führte sie ihn in den Saal zu den Baronen,
welchen seine ritterliche Gestalt gewaltig in die
Augen stach und welche ihn ohne Widerrede als ihren
Herrn anerkannten. Noch am gleichen Tage vermählte
sich Herr Iwein mit Laudine von Landuc, der Tochter
des sangesberühmten Herzogs Landunet.
Am Tage darauf kam König Artus mit seinen Begleitern
zur Wunderquelle und zum Stein. »Nun?«
spottete Kei, »was ist aus Iwein geworden, der sich
nach dem Mahle vom Weine berauscht rühmte, seinen
Vetter rächen zu wollen. Er ist feige geflohen!«
»Gnade, Herr Kei,« versetzte Gawein, »wenn Herr
Iwein nicht hier ist, so hat er sicherlich einen Entschuldigungsgrund.
« Kei schwieg und der König goß
Wasser aus dem Becken auf den Stein unter der
Tanne, und sogleich begann es in Strömen zu regnen.
Alsbald erschien Herr Iwein bewaffnet im Walde. Kei
bat den König, als erster mit dem Hüter der Quelle
kämpfen zu dürfen und diese Bitte wurde ihm sogleich
gewährt. Herr Iwein aber versetzte ihm einen
Stoß von solcher Heftigkeit, daß er einen Purzelbaum
von seinem Sattel herab schoß und sein Helm am
Boden rollte. Iwein ließ ihn liegen und trat vor den
König, indem er Keis Roß am Zügel führte. »Herr,«
sprach er, »nehmt dieses Roß. Ich würde übel tun,
wenn ich etwas von Eurer Habe zurückbehalten wollte.
« »Und wer seid Ihr?« fragte König Artus, »ich
kenne Euch nicht, wenn ich nicht Euren Namen höre
oder Euch unbewaffnet erblicke.« Da gab sich Iwein
zu erkennen und Kei war äußerst niedergeschlagen,
zumal da er noch kurz zuvor über ihn gespottet hatte.
Gawein aber freute sich hundertmal mehr als alle anderen,
daß er seinen Gefährten wiedergefunden hatte.
Nun mußte Iwein dem König sein Abenteuer erzählen,
aber als er seinen Bericht beendet hatte, ersuchte
er Artus, er möge mit all seinen Rittern bei ihm Herberge
nehmen. Der König erwiderte, gern wolle er
ihm für eine Woche Ehre, Freude und Gesellschaft
verschaffen. Iwein dankte dem König und nun begaben
sich alle zur Burg, nachdem zuvor ein Bote an
Laudine abgeschickt worden war, der sie von dem be-
vorstehenden Besuch in Kenntnis setzen sollte. Durch
die gaffende Menge ging die Schloßherrin, umgeben
von tanzenden Jungfrauen, in ein Hermelingewand
gehüllt und mit einer rubingeschmückten Krone auf
dem Kopfe, dem König entgegen und bewillkommnete
ihn. Den Tag beschloß ein großes Fest und Gawein
dankte es Lunete durch mannigfache Gunstbezeigungen,
daß sie seinen Freund vom Tode gerettet hatte.
Die ganze Woche verging unter Feiern, Jagden und
Besichtigen der Schlösser. Als aber der König nicht
mehr länger verweilen wollte, ließ er alles zur Abreise
rüsten.
Man hatte sich die ganze Woche bemüht, Iwein zu
veranlassen, daß er mitziehe. »Wie?« hatte Gawein zu
ihm gesagt, »gehört Ihr auch zu denen, die weniger
taugen, sobald sie beweibt sind? Verflucht sei, wer
nur heiratet, um sich zu verliegen, man soll umgekehrt
tüchtiger werden durch den Umgang mit schönen
Frauen. Brecht die Fessel, die Euch bindet, dann wollen
wir beide wieder zu Turnieren reiten, damit niemand
Euch eifersüchtig schilt. Jedes Gut wird begehrenswerter,
wenn man seinen Genuß hinausschiebt,
schöner ist es, ein geringes Glück nach einem Aufschub
zu kosten, als ein großes alle Tage. Späte Liebesfreude
gleicht einem brennenden grünen Busch,
der um so heißer brennt, je länger er zögert, Feuer zu
fangen.« So lange redete Gawein auf seinen Freund
ein, bis dieser ihm versprach, mitzuziehen. Aber
zuvor müsse er seine Herrin fragen, ob sie ihm Urlaub
gewähren wolle, um nach Britannien zurückzukehren.
Er sprach also zu Laudine: »Meine teuere Frau, die
Ihr mein Herz und meine Seele seid, wollt Ihr mir um
Eurer und meiner Ehre willen etwas versprechen?«
»Lieber Herr,« versetzte sie, »Ihr mögt mir befehlen,
was Euch gut dünkt!« Nun bat sie Iwein um Urlaub,
dem König zu folgen und zu Turnieren zu reiten,
damit man ihn nicht träge schelte. Sie sprach: »Ich gewähre
Euch den Urlaub bis zu einem bestimmten
Zeitpunkt. Aber meine Liebe, die ich zu Euch trage,
wird sich in Haß verwandeln, wenn Ihr diesen Zeitpunkt,
den ich Euch angeben werde, überschreitet.
Wenn Ihr Euch meiner Liebe fürderhin erfreuen wollt,
so seid darauf bedacht, in spätestens einem Jahre zurück
zu sein, acht Tage nach dem Feste St. Johannis.
Los und ledig sollt Ihr meiner Liebe werden, wenn Ihr
an diesem Tage nicht wieder bei mir seid.« Iwein
konnte ihr vor Gram kaum antworten: »Herrin, diese
Zeitspanne ist zu lang. Könnte ich eine Taube sein,
gar oft wäre ich bei Euch! Ich bitte Gott, daß er mich
nicht so lange verharren läßt. Aber was soll werden,
wenn Krankheit oder Haft mich hindern?« »Wenn
Gott Euch vor dem Tode bewahrt, so wird Euch keine
Verzeihung zuteil, wenn Ihr nicht mein zur rechten
Zeit gedenkt. Nehmt diesen Ring an Euren Finger, er
wird Euch vor Kerker und Wunden bewahren. Wenn
ein wahrhaft Liebender ihn trägt, so wird er dadurch
so hart wie Eisen: der Ring soll Euer Schild und Harnisch
sein!« Weinend trennte sich Iwein von ihr, mit
Tränen waren ihre Abschiedsküsse besät und von
Zärtlichkeit umduftet.
Nun begann ein bewegtes Leben. Überall, wo man
turnierte, waren Iwein und Gawein zu sehen. So ging
das Jahr vorüber, und immer noch gelang es Gawein,
seinen Freund zurückzuhalten. Das andere Jahr brach
an und es war schon zu Mitte August, als König
Artus Hoftag in Chester hielt. Gerade am Tage vorher
waren die beiden Gefährten von einem Turnier zurückgekehrt,
bei welchem Iwein den Hauptpreis davongetragen
hatte. Sie hatten nicht in der Stadt absteigen
wollen, sondern hatten ihre Zelte außerhalb der
Mauern aufgeschlagen. Dort suchte sie König Artus
auf und setzte sich zwischen sie auf das Lager. Da begann
Herr Iwein in Gedanken zu verfallen und nie,
seit er von seiner Herrin Abschied genommen hatte,
war ihm ein Gedanke so schwer aufs Herz gefallen
wie dieser, denn er wußte wohl, daß er sein Versprechen
nicht gehalten hatte und daß der Zeitpunkt überschritten
war. Noch grübelte er so, da sah man auf
schwarz- und weißgeflecktem Roß eine Jungfrau heranreiten.
Vor dem Zelte stieg sie ab, aber niemand
kam, ihr zu helfen, niemand nahm ihr Roß in Hut. Als
sie den König erblickte, ließ sie den Mantel fallen und
trat ins Zelt. Sie sagte, ihre Herrin lasse den König
grüßen und Gawein ebenso und alle außer dem Verräter
Iwein, dem Lügner und gleißnerischen Schwätzer,
der sie verlassen und betrogen habe. »Als Heuchler
hat sich der erwiesen, der sich als wahrhaft Liebender
ausgab und doch ein falscher Verräter war. Er hat ihr
Herz gestohlen und ist damit geflohen. Herr Iwein hat
meine Herrin dem Tode nahegebracht. Ach, sie glaubte,
er wolle ihr Herz bewahren und ihr nach Jahresfrist
zurückstellen. Alle Tage des Jahres hat sie in ihrer
Kammer angekreidet und jede Nacht hat sie die Tage
gezählt, die verstrichen waren und die noch kommen
sollten. Doch du kamst nicht. Ich will dich nicht anklagen,
aber so viel will ich sagen, daß uns der verraten
hat, der dich mit unserer Herrin verheiratete.
Iwein, nun sorgt sie sich nicht mehr um dich, sondern
sie befiehlt dir durch mich, daß du ihr nie wieder
unter die Augen tretest und ihren Ring nicht länger
behaltest. Gib ihn zurück, Verräter, dann geh, wohin
du willst!«
Wie Iwein vor Kummer wahnsinnig wurde, wie er
durch eine Zaubersalbe geheilt wurde und dann nach
endlosen Abenteuern und Gefahren schließlich doch
seine Laudine zurückgewann, das alles mögt ihr bei
Meister Christian selber nachlesen.
8. Die Geburt des Schwanritters
Es geschah einmal, daß der König Oriant, welcher ein
mächtiger und ruhmvoller Herrscher war, mit der Königin
Beatrix, seiner Gemahlin, am Fenster seines
Schlosses saß. Und sie blickten auf die Straße; da gewahrte
der König eine Frau, welche zwei Kinder trug,
die Zwillinge zu sein schienen. Der König sagte zur
Königin: »Frau, es wundert mich sehr, daß wir kein
Kind haben. Seht da, die arme Frau, welche deren
zwei hat, und sogar sehr schöne, Zwillinge, wie mir
scheint.« Als die Dame die Worte ihres Gatten vernahm,
sprach sie voll Zorn und Gram: »Ach Herr, ich
könnte niemals glauben, daß eine Frau zwei Kinder
auf einmal haben kann, wenn sie nicht bei zwei Männern
gelegen ist.« »Ha, Frau!« sagte der König, »Ihr
redet schlecht. Denn wisset, bei Gott ist nichts unmöglich.
« Dann ließen sie von dieser Rede, bis der
König eines Tages bei seiner Gattin lag und ihr mit
Gottes Hilfe sieben Kinder erzeugte.
Der König Oriant hatte eine Mutter, welche eine
böse alte Hexe war. Sie war sehr betrübt, als sie erfuhr,
daß die Königin schwanger sei. Die Königin
trug ihre Bürde, bis Gott ihr erlaubte, an einem Tage
mit sieben Kindern niederzukommen. Bei ihrer Entbindung
hatte sie keine andere Frau bei sich als die
alte Matabrune, die Mutter des Königs Oriant, welche
ein betrügerisches und böses Weib war. Sechs von
den Kindern waren Söhne, das siebente aber war ein
Mädchen, und aus allen ging späterhin ein edles Geschlecht
hervor. Matabrune legte die Kinder in ihren
Schoß und rief Marke, einen ihr Untergebenen, zu
sich und zu sprach ihm: »Nehmt, Freund, und bringt
diese Kinder an einen solchen Ort, daß man niemals
wieder von ihnen reden höre. Tragt Sorge, daß Ihr sie
tötet!« Marke nahm die Kinder und trug sie tief in den
Wald, dort legte er sie ins Gras. Die Kindlein lächelten
ihn an. Als Marke sie erblickte, hatte er großes
Mitleid mit ihnen und sprach: »Gott soll mich verlassen,
wenn ich euch ein Leid antue!« Er ließ also die
Kinder dort und kehrte heim. Die alte Hexe schaute
unter einer Stiege nach und fand eine Hündin, welche
sieben Hündlein geworfen hatte. Diese nahm sie und
ging zu ihrem Sohn. Als der König Oriant sie kommen
sah, erhob er sich gegen sie und sprach: »Seid
willkommen, Mutter! Was bringt Ihr Neues, Mutter?«
»Ach,« sagte die alte Matabrune, »lieber Sohn, ich
bringe häßliche, schreckliche und böse Nachricht. Da,
seht, womit Euch Eure Gattin beschenkt hat! Sie ist
mit diesen sieben Hündlein niedergekommen. Sie ist
die unzüchtigste Frau, die je gelebt hat, und verweigert
sich keinem Manne. Gar oft habe ich sie mit
einem anderen als mit Euch überrascht. Aber um
Eurer Ehre willen habe ich geschwiegen. Jetzt aber
hat sie diese sieben Hunde geboren. Laßt sie verbrennen!
Denn es gab nie eine schlechtere Frau, als sie ist,
und wenn Ihr es nicht tun wollt, so werde ich sie selber
verbrennen!«
Als der König die Hunde sah und hörte, was seine
Mutter zu ihm sprach, da wurde er sehr traurig und
sagte: »Mutter, ich glaubte nie, daß es auf der Welt
eine bessere und züchtigere Frau gibt als die meine.
Ihr Fehltritt schmerzt mich arg. Aber, um Gottes willen,
liebe Mutter, helft mir dies verheimlichen, denn
ich habe sie geheiratet und habe ihr versprochen, ich
wolle ihr treu und gnädig sein. Und wie könnte ich sie
verbrennen lassen oder zusehen, wie sie verbrannt
würde?« »Lieber Sohn,« sagte die Alte, »Ihr zögert zu
lange. Ich werde sie in einen Kerker werfen lassen.«
Da rief die Alte zwei ihrer Diener und trat zu dem
Bette der guten Beatrix. »Du schmutzige, unzüchtige
Dirne,« sagte sie zu ihr, »jetzt tritt deine Schamlosigkeit
ans Licht; sagtest du doch, daß eine Frau keine
zwei Kinder haben könne, ohne sich zwei Männern
hingegeben zu haben. Nun könnte mein Sohn sagen,
daß du bei ihrer sieben gelegen bist. Nicht um das
ganze Gold von Rußland würde er darauf verzichten,
daß du morgen verbrannt wirst.« »Die heilige Jungfrau
«, versetzte die Königin, »wird nicht zulassen,
daß ich auf solche Weise umkomme, so wahr ich in
Züchten gelebt habe!« »Das nützt dir nichts, du
Hure!« sagte die alte Matabrune. Da packten die
bösen, verräterischen Diener die gute Königin und
schleppten sie in einen finsteren Kerker, wo die gute
Frau weder Bett noch Linnen hatte. Darauf wurden
die zwei Diener sogleich geblendet und sahen fürderhin
das Licht nicht mehr. Die Frau aber litt große
Pein.
Nun aber hört von den Kindern, welche im Walde
an einem Fluß lagen, wo sie Marke eingehüllt in ein
Fell zurückgelassen hatte. Jedes von ihnen hatte ein
Kettlein um den Hals, und das war ihre Bestimmung:
wenn sie diese Kettlein verlieren würden, so müßten
sie geflügelte Schwäne werden. Solange sie dieselben
aber trugen, hatten sie menschliche Gestalt. Siehe, da
kam ein Einsiedler, welcher schon ein Jahr im Walde
gelebt hatte, dorthin. Er gewahrte die Kinder und bat
unseren Herrn, daß er ihnen nach seinem Gefallen
Nahrung schicken möchte, davon sie leben könnten.
Es dauerte nicht lange, da sandte Gott eine Ziege,
welche die Kinder mit Milch versah, ebensogut wie es
eine Frau getan hätte. Der Eremit trug die Kinder in
sein Haus, und jeden Tag kam die Ziege dorthin. Und
so nährte er die Kinder lange Zeit.
Da geschah es eines Tages, daß der Einsiedler in
den Wald gegangen war und eines der Kinder mit sich
genommen hatte. Der Förster Malquerre kam durch
Zufall in das Haus des Einsiedlers, fand die sechs
schönen Kinder und sah die Kettlein, die sie um den
Hals trugen. Er sagte zu sich, wenn es mit dem Willen
seiner Herrin geschehe, so wolle er ihnen die Kettlein
wegnehmen. Der Verräter begab sich also zu
einer Herrin und sprach: »Herrin, ich habe sechs wunderschöne
Kinder in jenem Walde gefunden, und sie
trugen sechs Kettlein um den Hals. Herrin, wenn Ihr
es mir erlaubt, so werde ich gehen und sie ihnen nehmen.
« Als die Alte solches vernahm, wurde sie sehr
bekümmert, denn sie merkte wohl, daß dies ihre
Enkel wären, die Marke in den Wald gebracht hatte.
Sie sprach zu Malquerre: »Geht wieder in die Einsiedelei
und nehmt ihnen die Ketten ab, und wenn sie
euch Widerstand leisten, so tötet sie!« Sogleich machte
sich Malquerre auf den Weg. Matabrune rief
Marke, sie wolle mit ihm reden; und er kam. Da führte
sie ihn in ein Gemach und beschwor ihn, daß er ihr
der Wahrheit gemäß erzähle, was er mit den sieben
Kindern gemacht habe, die sie ihm anvertraut hätte,
und wenn er lügen würde, so wolle sie ihn in Stücke
zerreißen. Da sagte der wackere Mann: »So wißt,
Herrin, daß ich sie lebendig im Walde zurückließ.«
Die Alte ließ ihn ergreifen und ihm die Augen ausreißen.
Malquerre wanderte so lange, bis er in die Einsiedelei
kam. Es traf sich, daß der Eremit in den Wald
gegangen war und eines der Kinder mit ihm. Als Malquerre
die sechs Kinder und ihre Ketten erblickte und
bemerkte, daß niemand zugegen war, da wurde er sehr
froh. Er nahm die Kinder und jagte sie aus dem
Hause, und jedesmal, wenn er eines ergriff, riß er ihm
seine Kette ab. Und jene wurden zu weißen Schwänen
und flogen auf einen Teich ihres Vaters, des Königs
Oriant von Illefort. Als der Verräter dieses sah, erschrak
er gewaltig. Darauf kehrte Malaquerre zu seiner
Herrin zurück und brachte ihr die Kettlein. Matabrune
ließ einen Goldschmied kommen und bat ihn, er
möge aus den sechs Ketten eine Trinkschale verfertigen.
Jener antwortete: »Gerne, Herrin!« Darauf nahm
er eine der Ketten und schmiedete sie und verfertigte
eine prächtige Schale daraus. Die übrigen fünf Ketten
aber brachte der Goldschmied in Sicherheit, denn er
merkte wohl, daß sie überaus kostbar waren. Als der
Einsiedler und das Kind aus dem Walde zurückkamen
und die übrigen Kinder nicht mehr zu Hause vorfanden,
da wurden sie gar betrübt und zornig und gebärdeten
sich ganz verzweifelt.
Kurz darauf ereignete es sich, daß Matabrune zum
König Oriant, ihrem Sohne, ging und sprach: »Lieber
Sohn, du bist zu sehr beschimpft; laß deine Frau verbrennen,
denn es ist ein gar zu todeswürdiges Verbrechen,
daß sie mit einem Hunde schlief.« Da wurde der
König sehr traurig; er berief alle seine Barone, damit
sie ein Urteil über seine Frau sprechen sollten. Diese
lag nun schon seit fünfzehn Jahren im Kerker und war
in dieser Zeit niemals satt geworden. Sie flehte inniglich
zu Gott, daß er sie aus diesem Elend erlösen
möge, denn der Hunger und die Not quälten sie gar
sehr. Als die Barone versammelt waren, wurde das
Urteil dahingehend gefällt, daß die Königin am folgenden
Tage verbrannt werden sollte, wenn sie keinen
Kämpfer fände, der sie verteidigen würde.
Da ereignete es sich, daß unser Herr Jesus Christus,
der nicht wollte, daß die Frau umkäme, einen
seiner Engel zum Einsiedler in den Wald sandte, welcher
zu ihm folgendermaßen sprach: »Eremit, Gott
befiehlt dir, daß du morgen frühe deinen Knaben in
die Stadt Illefort sendest, damit er seine Mutter, welche
die Gattin des Königs Oriant ist, vor dem Feuertode
rettet. Er und die sechs anderen Kinder sind
Söhne des Königs Oriant und der Königin Beatrix.
Matabrune hat sie verleumdet, sie habe sieben Hunde
geboren, und darum soll sie morgen verbrannt werden,
wenn ihr keine Hilfe kommt. Aber Ihr sollt nicht
zweifeln, daß ihr Gott helfen wird.« Fernerhin befahl
er, daß der Knabe getauft werde und den Namen Helias
erhalte. Darauf verschwand der Engel. Als der
Tag angebrochen war, weckte der Einsiedler den Knaben
und sprach zu ihm: »Lieber Sohn, erhebe dich; du
mußt nach Illefort gehen, deine Mutter vor dem Feu-
ertode retten und von dem Verbrechen, dessen sie Matabrune
beschuldigt hat, reinigen. Ferner mußt du dich
taufen lassen und ein Christ werden, und du sollst den
Namen Helias tragen.« Der Eremit machte ihm einen
Mantel aus Laub und bekleidete ihn damit; dann
nahm er eine Stange in die Hand, und der Einsiedler
begleitete ihn bis zum Waldesrande. Hier sprach er zu
ihm: »Lieber Sohn, sei tapfer und verständig! Wisse,
daß du der Sohn des Königs Oriant bist und sei versichert,
daß Gott dir helfen wird.« Darauf wies ihm der
Einsiedler den Weg und zeigte ihm Illefort, wohin er
gehen müsse. Dann trennte sich der Einsiedler von
ihm, und der Knabe ging, um seine Mutter von der
Schuld, deren sie Matabrune bezichtigt hatte, zu reinigen.
Matabrune hatte durch Zauber erfahren, daß die
Königin durch eines ihrer Kinder gerettet werden sollte,
und sie schickte ihm unverzüglich zwei Diener entgegen,
die ihn töten sollten. Der Knabe begegnete
ihnen und fragte sie, welcher von ihnen seine Mutter
wäre, denn er hatte nie ein Weib gesehen. Die Diener
hielten ihn für toll; sie wußten jedoch, daß er es wäre,
um dessentwillen sie ausgesandt waren. Einer zielte
nach ihm, und der andere packte ihn. Da sprach das
Kind: »Welches ist Matabrune? Mein Vater sagte
mir, ich solle mich an sie wenden, und so will ich es
tun.« Dann nahm er seinen Stock und zerschlug dem
einen die Schulter, darauf schlug er ihn so heftig, daß
er ihm den Kopf zerschmetterte. Da wandte sich der
andere zur Flucht, und der Knabe kam ungehindert
nach Illefort.
Als der Knabe in Illefort angekommen war, wunderte
er sich höchlich über die Leute, die dort waren,
und er sprach, er hätte nie geglaubt, daß es so viele
Einsiedler auf der Welt gäbe, denn nie hatte er so viel
Volks gesehen. Darauf gewahrte er den König, der
sein Schwert umgegürtet hatte und auf einem Rosse
ritt. Der Knabe hatte große Furcht. Als der König ihn
erblickte, verwunderte er sich sehr, denn er glich
einem Narren. Der Knabe trat auf den König zu und
befragte ihn über alles, was er sah, und der König
stand ihm gutmütig Rede und Antwort. Der Knabe
fragte ihn nach dem Pferd, dem Zügel und dem
Schwert sowie nach anderen Dingen; dann vernahm er
einen Schrei und fragte, was das bedeute. Der König
sagte ihm: »Freund, ich habe eine Frau, welche ohne
Treu und Zucht war, sie hat mir sieben Hunde geboren
und meine Barone haben sie verurteilt. Nun führt
man sie zum Scheiterhaufen.« – »Ha, guter König,«
versetzte der Knabe, »Ihr habt sie zu Unrecht verurteilt,
denn das, was Ihr sagt, ist niemals wahr, und
niemals tat sie solches. Vielmehr hat sie irgend jemand,
Eure Mutter oder sonst wer, der sie nicht liebt,
so treulos verleumdet. Wenn nun jemand käme, der
für sie kämpfen wollte und denjenigen besiegen
würde, der sie eines solchen Vergehens zeiht, wäre es
dann nicht billig, daß die Frau ihrer Fesseln los und
ledig würde?« – »Sicherlich, ja,« sprach der König,
»und ich wäre sehr froh darüber.« – »Herr,« erwiderte
der Knabe, »ich bin gekommen, um für die Frau zu
kämpfen, und ich will sie verteidigen!« Als der König
seinen Sohn also reden hörte, wurde er sehr froh, aber
er erkannte ihn nicht. Da ging der König zu seiner
Mutter und sprach: »Mutter, es wäre grausam, diese
Frau zu verbrennen. Bei Gott! Laßt sie in Ruhe, denn
Ihr sündigt, wenn Ihr sie dieses Vergehens anklagt.
Wenn Ihr aber darauf besteht, daß es so ist, so müßt
Ihr einen Kämpfer suchen, der bestätigt, was Ihr
gegen sie vorgebracht habt. Denn die Frau hat einen
Kämpfer gefunden, der sie gut verteidigen wird.« Als
Matabrune dieses hörte, wurde sie zornig, denn sie
sah ein, daß sie einen Kämpfer haben müsse. Sie ging
zu Malquerre und sprach zu ihm: »Malquerre, lieber
Freund, du mußt diesen Kampf gegen den Knaben bestehen.
Und wenn der Knabe tot und die Frau verbrannt
ist, so werden wir suchen, meinen Sohn umzubringen,
dann bin ich Herrin und Königin in Illefort,
und dann werden wir beide miteinander unsere Lust
haben.« – »Herrin,« erwiderte er, »Ihr müßt schwören.
Denn wenn ich schwören wollte, so würde ich
einen Meineid leisten.« – »Malquerre,« sagte Matabrune,
»darum sorge dich nicht! Ich verbiete es dir,
daß du die Wahrheit sagst.« – »Herrin,« entgegnete
Malquerre, »ich werde Euern Befehl erfüllen.« Darauf
begab sich Matabrune zum König und sprach: »Nun,
König, laß deinen Knaben wappnen!« – »Gern, Mutter!
« – »Herr,« sprach der Knabe, »ich will zuerst getauft
werden, denn mein Vater, der Einsiedler, sagte
mir, ehe ich von ihm schied, daß ich getauft werden
und den Namen Helias erhalten solle.« Da ließ man
den Knaben taufen, und er erhielt den Namen Helias.
Es waren aber mehrere Barone am Hof, die sprachen:
»Um Gottes willen, König, behaltet den Knaben bei
Euch, denn er ist wunderschön, und Ihr müßt wissen,
daß er Euch ähnlich sieht.« Darauf ließ der König den
Knaben bewaffnen und mit reicher Rüstung bekleiden.
Auch Malquerre wurde prächtig ausgerüstet.
Dann trug man die Heiltümer herbei, und zuerst
schwur Malquerre, daß er die Königin habe bei einem
Hunde liegen und sieben Hündlein zur Welt bringen
sehen. Darauf wollte er das Heiltum küssen, aber er
vermochte es nicht, sondern er schwankte, und sogleich
sagten die Barone, daß er meineidig wäre. Nun
schwur der Knabe Helias und sagte, daß alles erlogen
sei, daß die Königin nie an solche Schandtat gedacht
und daß sie jederzeit brav und züchtig mit dem
König, ihrem Herrn, gelebt habe. Alle insgemein beteten
für Helias, daß Gott ihm helfen möge, Malquerre,
den Verräter, zu vernichten.
Siehe, da trat der Knabe zu seiner Mutter und
sprach: »Herrin, vertraut auf Gott und seine Mutter,
denn wisset wohl, daß ich mit Gottes Hilfe Euch von
dem Vergehen reinigen werde, dessen Euch die alte
Matabrune geziehen hat.« Die Dame dankte ihm
innig. Darauf bestieg Helias sein Roß, und der Kampf
begann. Schließlich wurde Malquerre besiegt. Als die
alte Hexe Matabrune sah, daß Malquerre besiegt war,
floh sie auf ihr Schloß Malbruiant, denn sie wußte
wohl, daß ihr Sohn, der König, sie sehr haßte. Als der
Kampf beendet war, sagte der Knabe zum König:
»Herr, ich habe mit Gottes Hilfe im Kampf gesiegt.
Die Frau muß befreit werden.« Da Malquerre sah,
daß er besiegt war, rief er dem Knaben zu: »Knabe,
töte mich nicht, sondern wisse, daß Matabrune all
diese Frevel veranlaßt hat. Sie hieß mich die Ketten
vom Halse der Kinder reißen, die deine Brüder
waren.« Der Knabe antwortete: »Du hast schlecht gedient
und du sollst deinen Lohn empfangen.« Da zog
er sein Schwert und hieb ihm den Kopf ab.
Nach dem Kampfe trat der König zur Königin und
sprach: »Herrin, vergebt mir um Gottes willen, daß
ich meine Pflicht gegen Euch vernachlässigt habe;
aber meine Mutter hat all dies veranlaßt.« »Herr,«
versetzte die Königin, »ich vergebe Euch aus ganzem
Herzen!« Darauf wollte die Frau den Knaben küssen,
aber dieser entzog sich ihr und sprach: »Herrin, das
habe ich im Walde nicht gelernt, denn nie sah ich eine
Frau oder Jungfrau, sondern nur wilde Tiere!« Als die
Barone dies hörten, lachten sie laut. »Herr,« sprach
der Knabe alsdann, »laßt Marke kommen, denn ihm
sind von Matabrune um meinet- und meiner Brüder
willen die Augen ausgerissen worden.« »Herr,« sagte
Marke, »da bin ich.« Da wandte sich Helias zu ihm,
hauchte ihm auf die Augen, und durch Gottes Kraft
wurde er sogleich wieder sehend. Der König aber und
die Barone verwunderten sich sehr. Darauf fragte der
König den Knaben, wer er wäre und woher er käme.
Der Knabe gab sich ihm als sein Sohn zu erkennen
und erzählte ihm alles, was vorgefallen war. »Herr,«
sagte Helias alsdann, »kommt mit mir und Ihr sollt
große Wunder unseres Herren schauen.« Sie gingen
zum Teich und Helias lockte die Schwäne herbei.
Diese flogen herzu und liebkosten ihn mit den Flügeln.
Darauf gab er jedem seine Kette und sie nahmen
ihre menschliche Gestalt wieder an. Nur einer war
darunter, dem sie fehlte, der schlug mit den Flügeln,
riß sich mit dem Schnabel die Federn aus und gebärdete
sich ganz verzweifelt. Als der König und die Königin
dieses sahen, beweinten sie ihr Kind, das sie auf
diese Weise verloren hatten.
Am anderen Tage wurden die Kinder getauft und
König Oriant und Königin Beatrix freuten sich ihres
Nachwuchses. Der König entbot seine Barone und
krönte unter großen Festlichkeiten seinen Sohn Helias
zum König.
Aber Helias grämte sich, daß ihm Matabrune entkommen
war; er rief sein Heer zusammen, zog vor
Malbruiant, wo die Alte hauste, und belagerte die
Stadt. Die Einwohner bereuten es alsbald, die alte
Hexe aufgenommen zu haben; sie gingen zu Helias
und überlieferten ihm die Stadt. Der König Helias zog
in die Stadt ein, ging ins Schloß und ließ die Alte fesseln.
Darauf befahl er, daß ein großes Feuer angezündet
würde, und er warf Matabrune selbst hinein. Da
wurde die alte Hexe verbrannt. Der König hatte seine
Mutter herbeiholen lassen, und sie kam gern zu ihm
und war sehr froh, daß die Alte verbrannt war, die ihr
soviel Leids und so großes Unrecht angetan hatte.
9. Die Manekine
Es lebte einst ein weiser und gerechter König, der
über ganz Ungarn herrschte; seine Gattin war eine armenische
Königstochter von hoher Schönheit und
übermenschlicher Güte, lange hätte man wandern
müssen, um ihresgleichen zu suchen. In ihrer zehnjährigen
Ehe hatte die Königin nur einer Tochter das
Leben geschenkt, welche Joie hieß, weil durch ihre
Geburt das ganze Land erfreut wurde. Der Tod, der
auch die Großen der Erde nicht verschont, warf die
Königin, noch ehe sie gealtert war, aufs Lager und
verwandelte die Rosenfarbe ihres Leibes in Leichenblässe.
Da sprach sie zu ihrem Gatten: »Herr, ich
bitte Euch, daß ihr keine Frau nach mir heiratet.
Wenn aber die Edlen Eures Landes nicht wollen, daß
das ungarische Reich unserer Tochter verbleibt, und
wenn Ihr Euch, um einen männlichen Erben zu erhalten,
zu neuer Ehe entschließen müßt, so bitte ich
Euch, daß Ihr nur eine Frau heiratet, welche mir
gleicht.« Das beschwur der König und dann schied
die Königin aus diesem Leben.
Kurz darauf versammelten sich die Barone und der
älteste von ihnen sprach: »Das Königreich Ungarn
würde in Bedrängnis geraten, wenn ein Weib es in
seinen Händen hielte. Deshalb laßt uns zum König
gehen und ihn von Herzen bitten, daß er nach unserem
Rat eine neue Gattin nehme.« So taten sie, aber
der König antwortete, er habe seiner toten Gemahlin
versprochen, nie eine Frau zu nehmen, welche ihr
nicht an Schönheit und Güte gleichkäme. Als die Barone
solches hörten, wählten sie zwölf Boten aus,
welche ausziehen sollten, um eine der toten Königin
ähnliche Jungfrau zu suchen. Die Boten erschauten
die Tochter von manchem König und von manchem
Grafen und litten manche Pein, aber das Ziel ihres Suchens
erreichten sie nicht. Als der König beim heiligen
Weihnachtsfeste zur Tafel saß, kamen die Boten
zurück und berichteten, daß sie nirgends eine Frau gefunden
hätten, welche der Verstorbenen gleiche. Nun
geschah es aber, daß einer der Grafen die schöne Königstochter
beim Mahle bediente, und als er sie anblickte,
da schien es ihm, als sei sie ihre Mutter selber,
nur daß sie um vieles jünger war. Nach dem
Essen sagte er also zu den Baronen: »Ihr Herren, nie
wird man ein solches Weib finden, wie es der König
sucht, es sei denn, daß er seine Tochter heiratet.« Da
nickten die Barone zustimmend, aber der König, dem
sie ihre Meinung vortrugen, lehnte ein solches Ansinnen
ab. Wie aber die Großen des Landes auf der Wiederverheiratung
bestanden und wie auch die Prälaten
und Bischöfe ihren Dispens erteilten, da besann sich
der König und bat dann, ihm bis Lichtmeß Frist zu
gewähren.
Einst trat der Vater unangemeldet in Joiens Gemach,
er ergriff ihre Hand und setzte sich neben sie.
Darauf schaute er ihr ins Gesicht und bemerkte, daß
die Natur nie ein schöneres Weib gebildet hatte. Als
er aber von ihr ging, war der Funke sündiger Liebe in
seiner Brust entzündet. Eines Tages ließ er seine
Tochter vor sich kommen und sprach zu ihr: »Liebe
Tochter, erzürne dich nicht über das, was ich dir jetzt
sagen werde!« »Vater,« entgegnete diese, »Euer Wille
ist mir nie mißfällig.« »Liebe Tochter,« hub der
König wieder an, »ich habe deiner Mutter auf ihrem
Totenbette versprochen, daß ich nach ihr keine andere
Frau heiraten wolle als eine solche, die ihr gliche.
Aber nur du allein kommst ihr auf der weiten Erde
gleich. Sieh, meine Barone wollen nicht, daß das ungarische
Reich ohne männlichen Erben bleibe, deshalb
hat die Geistlichkeit mir die Erlaubnis erteilt,
mich mit dir zu vermählen: du sollst gekrönte Königin
von Ungarn sein!« »Vater,« antwortete die Jungfrau,
»laßt diese Worte! Ich würde lieber den Tod erleiden,
als meiner Seele Seligkeit verlieren.« »Töricht
hast du mir geantwortet,« rief der Vater voll Zorn,
»wenn du dich meinem Willen nicht fügen willst, so
werde ich dich zwingen!« Ohne Abschied ging er hinaus
und die Jungfrau kehrte auf den Tod betrübt in
ihre Kammer zurück.
Lichtmeß kam und Barone, Ritter und Geistliche
versammelten sich wieder am Hofe. Der König sagte
ihnen, daß er ihrem Willen, ein anderes Weib zu nehmen,
willfahren wolle, und alle waren sehr froh darüber.
Joie aber hatte durch eine Späherin erfahren,
daß die Großen des Landes kommen würden, sie vor
den König zu holen. Als sie dieses hörte, geriet sie in
große Furcht und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie
trennte sich von ihren Gefährtinnen, ohne daß diese es
merkten, und eilte von Saal zu Saal. Endlich gelangte
sie in einen Küchenraum, welcher mit der Hinterwand
an einen Fluß grenzte. Alle die Küchenknechte waren
ins Schloß gegangen, um dem Hoftag zuzuschauen,
so daß Joie ganz allein war. Auf dem Anrichtetisch
lag ein großes scharfes Küchenmesser, das ergriff sie
und bat die Gottesmutter, daß sie ihr Kraft verleihe.
Schon hörte sie, wie die Menge vor ihrer Kammer
lärmte, wie man kam, um sie vor den König zu holen,
da faßte sie das Messer fester und mit einem kräftigen
Schlag trennte sie ihre linke Hand vom Arme und
warf sie in den Fluß, dann schwanden ihr vor
Schmerz die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, wikkelte
sie den Stumpf in ein Tuch und trat mit totenblassem
Antlitz in ihre Kammer, wo vier Grafen ihrer
warteten. »Eine gute Nachricht bringen wir Euch,
Jungfrau,« redeten sie diese an, »freuet Euch, Ihr sollt
Königin von Ungarn werden. Der König erwartet
Euch im Schloß und trägt Euch durch uns auf, unverzüglich
vor ihm zu erscheinen.« Schweigend und
bleich folgte die Jungfrau den vier Grafen vor den
König, eine Schar Mägde begleitete sie. Der König
nahm Joie bei der Hand und umarmte sie, dann bemerkte
er das Blut an ihrem Arm. »Tochter,« sprach
er, »was ist Euch geschehen?« »Herr,« erwiderte sie,
»wohl weiß ich, was Ihr von mir verlangen wollt, aber
Königin werde ich nicht. Seht, mir fehlt die linke
Hand, und nach unserem Gesetz darf ein König keine
Frau ehelichen, der eines ihrer Glieder fehlt.« Als der
König und die Barone den Stumpf sahen, da wurde
ihre Freude in Leid verwandelt. Der König merkte
wohl, daß sie solches aus freien Stücken getan hatte,
um sich seinem Willen zu entziehen, und er befahl
voll Zorn seinem Seneschall, daß er die Jungfrau
heute über drei Tage zum Feuertode führe. Die Barone
erschraken sehr, aber sie wagten nicht, ihren Kummer
zu zeigen. Da ging der Hoftag in Trauer und Klagen
auseinander, und der König zog sich auf ein fernes
Schloß zurück. Der Seneschall blieb zurück, um
Joie, die im Gefängnis schmachtete, zum Scheiterhaufen
zu bringen. Die Nachricht, daß Joie verbrannt
werden sollte, verbreitete sich im ganzen Lande, und
besonders die Armen, denen sie oft Brot und Kleider
gegeben hatte, waren von Zorn und Gram erfüllt. Der
Seneschall beschloß, die Jungfrau zu retten; er ließ
ein Fahrzeug mit Fleisch und Wein füllen, dann ließ
er drei Rosse satteln, Joie mußte das eine besteigen
und der Seneschall und der Kerkermeister ritten zu
ihren Seiten. So verließen sie im Dunkel der Nacht
die Stadt und ritten so lange, bis sie ans Ufer des
Meeres kamen. Da sprach der Seneschall zu der Jungfrau:
»Ihr wißt, Herrin, daß mir der König bei meinem
Leben befahl, Euch ins Feuer zu werfen. Aber
das Mitleid, das ich für Euch empfinde, läßt nicht zu,
daß ich Euch unter solchen Qualen sterben sehe. Ich
will Euch in einem segel- und mastlosen Boot aussetzen
und Euch dem Schutze Gottes anheimstellen, er
möge Euch geleiten und bewahren.« »Ich bin Euch
dankbar,« versetzte die Jungfrau, »daß Ihr meinen
Leib vor dem Feuer gerettet habt, denn lieber will ich
ertrinken, wenn es Gott gefällt, als verbrennen. Ferner
bitte ich den wahren Gott von Herzen, daß er meinem
Vater die Sünde, die er an mir tat, vergeben möge,
und daß er ihm mehr Freuden verleihen möge, als mir
beschieden sind.« Der Seneschall führte sie weinend
in das Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen
Jungfrau und stieß den Nachen ins Meer.
Am neunten Tage landete die Jungfrau mit Gottes
Hilfe an der Küste Schottlands. Es war gerade Funkensonntag,
und die Einwohner des Landes trieben
Kurzweil am Meeresufer. Unter ihnen befand sich
auch der Profoß. Er hatte sein Gesicht zum Meer gewendet
und bemerkte den Nachen, der ohne Segel und
Mast herantrieb. Als das Boot an Land kam, begab
sich die Menge zum Strande und der Profoß begrüßte
die Fremde: »Jungfrau, der wahrhaftige Gott gebe
Euch Glück und Freude!« »Herr,« entgegnete sie,
»der, den Ihr anrieft, möge Euch erhören!« »Jungfrau,
berichtet uns, wo Eure Heimat und wie Euer Name
ist!« »Herr, ich bin eine Unglückliche, die hier ans
Ufer trieb. Wenn es Euch gefällt, so rettet mich; mehr
kann ich Euch nicht sagen.« »Wenn Euch jemand Unrecht
tat, Schöne, so seid Ihr hier in guter Hut. Ich
will Euch zu meinem Herrn führen, der König in diesem
Lande ist, er ist jung und schön. Bei seiner Mutter
wird es Euch wohlergehen und an nichts fehlen.«
Der Profoß nahm die Jungfrau mit sich heim und
führte sie am anderen Tage nach Dondieu, wo der
König mit seiner Mutter weilte. Dieser saß gerade mit
zweiunddreißig seiner Barone bei der Tafel, als der
Profoß, die Jungfrau an der Hand haltend, eintrat.
»Herr,« sagte er, »eine schöne Beute bringe ich Euch
hier. Nehmt sie, die ein Schiff hertrieb, in Gnaden
auf!« Der König wandte sich liebevoll an die Fremde
und fragte sie nach ihrer Herkunft und ihrem Schicksal,
sie aber sagte, sie wolle lieber sterben, als ihr Unglück
erzählen. Da der König ihre Tränen sah, drang
er nicht weiter in sie, sondern führte sie seiner Mutter
zu. So blieb sie am Hofe und wurde bald ihrer Güte
und Schönheit wegen allgemein beliebt; da man aber
ihren Namen nicht wußte, nannte man sie die Manekine,
das heißt Einhand. Je länger sie am Hofe verweilte,
in desto höherem Maße kehrte ihre frühere Schönheit
wieder, und je schöner sie wurde, desto mehr
fühlte sich der junge König zu ihr hingezogen, bis die
Bande der Liebe, die ihn fesselten, so stark wurden,
daß er sie nicht mehr zerreißen konnte. Auch ihr Herz
war von Liebe erfüllt, aber keiner von beiden kannte
die Gefühle des anderen.
So verging ihnen ein ganzes Jahr unter schlaflosen
Nächten, aber der Königinmutter, welche das schlechteste
und listenreichste Weib von der Welt war, entging
es nicht, daß ihre Herzen Liebe zueinander trugen
und sie sprach zornig zu Manekine: »Es scheint
mir, daß mein Sohn dich von Herzen liebt. Ich verbiete
dir, wenn dir dein Leben lieb ist, ihm in Zukunft
Gesellschaft zu leisten. Ich werde dich töten lassen,
wenn er sich noch einmal mit dir sehen läßt.« Als am
dritten Tage der König wieder in ihr Zimmer trat, zitterte
die Jungfrau vor Furcht und weinte. Der König
merkte wohl, daß sie in Kummer war und er fragte sie
nach der Ursache ihres Grams. Da erzählte sie ihm
das Verbot der bösen Alten. »Freundin,« erwiderte er,
»beruhigt Euch! Ich will Euch vor ihr schützen und
will Euch nicht länger verheimlichen, was ich bisher
verborgen hielt. So wißt denn, mein süßes Lieb, daß
Ihr mein Herz und mein Leben seid, all mein Gut,
meine Gesundheit und meine Freude, daß ich heute
und immerdar Euch gehöre.« Die Jungfrau verbarg
ihre Freude über diese Worte und antwortete züchtig
und bescheiden, sie sei zwar zu niedrig für seine
Liebe, doch wage sie nicht, eine so große Ehre auszuschlagen.
Darauf küßte sie der König wohl zwanzigmal
auf den Mund, dann führte er sie in sein Schloß
und ließ den Kaplan rufen; dieser aber legte ihre
Hände ineinander und vermählte sie. Als die Mutter
dies erfuhr, sprach sie: »Verflucht sei er, wenn er sie
genommen hat, und jeder, der ihn noch als König achtet.
Gar zu niedrig hat er gehandelt, daß er eine Landstreicherin,
eine Hergelaufene geheiratet hat, eine
Frau mit nur einer Hand!« Vierzehn Tage darauf
wurde Pfingsten gefeiert, und an diesem Tage wollte
der König seine junge Gemahlin krönen lassen. Zu
dieser Feier berief er alle seine Vasallen aus Schottland,
Cornwall und Irland und die Nachricht von seiner
Vermählung verbreitete sich pfeilgeschwind im
ganzen Lande. Als die Nachtigallen sangen und die
Wiesen blühten, da füllten die Ritter, die Grafen und
Barone mit ihren Damen die Zelte, und drei Tage lang
wurde die Hochzeit gefeiert. Die Mutter des Königs
aber reiste am nächsten Tage voll Grimm auf ihr
Landgut, denn sie glühte vor Neid und Haß gegen die
junge Königin.
Fünf Monate mochten seitdem vergangen sein, da
sprach der König eines Tages zu seiner Gemahlin:
»Ich bitte Euch, liebe Freundin, daß Ihr mir um meiner
Ehre willen eine Reise gewährt: in Frankreich findet
ein großes Turnier statt, dem ich beiwohnen
muß.« »Diese Reise erschreckt mich,« erwiderte die
Manekine, »denn ich bin allein in diesem Lande und
Eure Mutter haßt mich.« »Ich werde Euch in solcher
Hut lassen, daß Ihr weder meine Mutter noch sonst jemanden
zu scheuen braucht.« Der König hatte einen
Seneschall, der sein treuester Ratgeber war, diesen
berief er nebst zwei anderen Rittern zu sich und
sprach: »Ihr Herren, ich gehe auf kurze Zeit in ein anderes
Land, um Ehre und Ruhm zu erwerben. Ihr werdet
bei der Königin bleiben und sie mit eurem Leben
schützen. Vor allem werdet ihr sie vor meiner Mutter
behüten, damit diese ihr kein Leids antut.« Darauf
nahm er Abschied von seiner Gattin und trat mit großem
Gefolge die Fahrt an.
Die Königin, welche ihn bis zum Meere begleitet
hatte, kehrte in Gesellschaft ihrer drei Hüter zurück.
Es gab nichts mehr auf der Welt, was sie erfreuen
konnte, seit sie den Anblick ihres Gemahls entbehren
mußte, doch sie tröstete sich, so gut sie es vermochte,
wegen der Leibesfrucht, die sie trug. Endlich gebar
sie den schönsten Knaben, den die Natur jemals ge-
bildet hat. Überall im Lande verbreitete sich die
Kunde, daß die Königin entbunden habe und der Seneschall
berief seine zwei Gefährten zu sich: »Ihr
Herren,« sagte er, »wir müssen unverzüglich einen
Boten an den König nach Frankreich schicken, der
ihm die erfreuliche Nachricht überbringe.« Darauf
nahm er ein Pergament, denn er verstand Romanisch
und Latein, und begann zu schreiben, wie folgt: »Dem
Könige von Schottland, seinem Herrn, dem Gott
Freude und Ehre gebe, entbietet Gruß und Freundschaft
der Seneschall, den er zurückließ, sein Land
und sein Weib zu schirmen. Ich tue Euch zu wissen,
daß meine Herrin mit einem Knaben niederkam, wie
ihn schöner kein Mensch je ersah, und Eure Liebste
ist bei guter Gesundheit. Das Kindlein aber heißt Johannes.
Solches tun wir Euch zu wissen. Aber kehrt
um Gottes willen, wenn es Euch gefällt, schleunigst
zurück, denn meine Herrin hat große Sehnsucht nach
Euch und vergeht schier vor Gram.« Darauf versiegelte
er den Brief und übergab ihn einem Boten. Dieser
machte sich auf den Weg und gelangte am zweiten
Tage nach Evoluic, wo die Mutter des Königs sich
aufhielt. Der Bote trat in ihr Haus, denn er wußte
nichts von dem Hasse, den sie gegen die junge Königin
trug. Die Alte begrüßte den Boten und fragte ihn,
wohin er gehe. Als sie den Zweck seiner Reise erfahren
hatte, ließ sie ihm einen starken Wein reichen,
und er trank so lange, bis er seiner Sinne nicht mehr
mächtig war. Da lachte die böse Alte, und während
der Trunkene schlief, durchsuchte sie seine Taschen,
bis sie die Kapsel mit dem Briefe fand, dann rief sie
ihren Schreiber und ließ sich den Brief vorlesen. Der
Inhalt mißfiel ihr und sie ließ einen anderen anfertigen,
in welchem zu lesen war, daß der Seneschall seinem
Herrn Gruß entbiete und daß er ihm voll Zorn
und Schmerz unfrohe Nachricht zu wissen tue: »Herr,
Eure Gattin hat entbunden, aber nie im Leben sah
man ein so scheußliches Geschöpf wie das, welches
sie unter ihrem Herzen trug. Es hat vier Füße, ist ganz
behaart und seine Augen liegen tief im dicken Kopf.
Sobald es geboren war, entschlüpfte es wie eine
Schlange seinen Wärterinnen, und diese wagten
kaum, es wieder zu ergreifen. Alle Eure Untertanen
sind in Schrecken und Verwunderung. Nun tut uns
Euren Willen kund, was mit einem solchen Erben geschehen
soll.« Darauf versiegelte sie den Brief wieder,
legte ihn in die Kapsel und trug diese wieder dahin,
wo sie sie gefunden hatte. Als der Bote ausgeschlafen
hatte, machte er sich wieder auf den Weg, und die
böse Alte befahl ihm, auf dem Rückwege wieder bei
ihr vorzusprechen.
Der Bote gelangte nach Frankreich, suchte seinen
Herrn auf und übergab ihm den Brief. Der König
brach das Siegel auf und fast schwanden ihm die
Sinne, als er den Inhalt des Schreibens las. Damit die
Leute seine Verwirrung nicht bemerken sollten, zog er
sich in sein Gemach zurück und las den Brief immer
wieder von neuem. Er raufte seine Haare, zerriß sein
Gewand, und Tränen entströmten seinen Augen. Als
er sich ein wenig beruhigt und mit seinen Begleitern
Rats gepflogen hatte, nahm er Pergament und Tinte
und schrieb: »Der König von Schottland gebietet den
dreien, denen er seine Geliebte in Hut gab, daß diese
in ihrem Wochenbette gut gepflegt werde. Wenn
ihnen ihr Leben lieb ist, sollen sie seine teure Gattin
und das, was sie geboren hat, so wert halten wie ihren
eignen Leib. Zu Fasten wird der König zurückkehren
und dann seinen weiteren Willen kundtun.« Darauf
versiegelte er den Brief und übergab ihn dem Boten,
welcher sogleich den Rückweg antrat.
Als die böse Alte ihn kommen sah, war sie sehr
froh; sie erwiderte freundlich seinen Gruß und fragte
ihn nach dem Wohlergehen des Königs. Darauf ließ
sie ihm wieder starken Wein auftragen, und er trank
so lange, bis er vor Trunkenheit in Schlaf verfiel. Als
die dunkle Nacht gekommen war, schlich sich die
Alte in die Kammer des Boten, nahm ihm den Brief
und ließ ihn sich von ihrem Schreiber vorlesen. Als
sie hörte, daß der König seine Heimkehr zu Fasten in
Aussicht stellte und daß bis dahin die Manekine gut
gepflegt, bedient und geehrt werden sollte und ihre
Leibesfrucht mit ihr, da wurde sie mißmutig und ließ
sogleich ein anderes Schreiben aufsetzen. Der Schreiber
mußte antworten, daß der König seinem Seneschall
gebiete, er solle unverzüglich die Königin zum
Feuertode führen, sobald sie ihr Wochenbett verlassen
habe, und mit ihr das, was sie geboren habe. Denn er
habe wenig erfreuliche Neuigkeiten über die Manekine
erfahren, wohl wisse er, warum sie nur eine Hand
habe und nicht umsonst sei sie so verstümmelt. »Verbrennt
sie ohne Zaudern, wenn Euch Euer Leben lieb
ist!« so schloß das Schreiben. Als es vollendet war,
legte der Schreiber das Wachs wieder auf, ohne daß
das Siegel verletzt wurde und verschloß den Brief in
die Kapsel des schlafenden Boten.
Nach dreimonatlicher Abwesenheit kehrte der Bote
nach Dondieu zurück und überreichte dem Seneschall
das Schreiben. Die drei Beschützer erkannten das Siegel
des Königs und erbrachen den Brief, als sie ihn
aber gelesen hatten, da verwunderten sie sich sehr und
weinten und seufzten. Dann berieten sich die drei Getreuen
untereinander und sprachen: »Den Willen unseres
Herrn müssen wir erfüllen, wenn wir auch Kummer
und Mitleid im Herzen tragen.« Die Nachricht,
daß der König befohlen habe, sein Weib und sein
Kind zu verbrennen, verbreitete sich bald im Lande
und alles Volk verwunderte sich und fluchte dem
König. Der Königin aber verheimlichte man den Be-
fehl, bis sie ihr Wochenbett, das einen vollen Monat
dauerte, verlassen hatte. Eines Tages rief sie den Seneschall
zu sich und sprach: »Seneschall, mein Herz
ist gramerfüllt über das lange Ausbleiben meines geliebten
Herrn. Ist der Bote noch nicht zurück? Wisset,
daß mein Herz schlimme Nachricht ahnt. Ich werde
nie mehr froh sein, bis ich meinen Herrn wiedersehe.
Oh, sagt es mir, wenn Ihr etwas von ihm wißt!« Der
Seneschall antwortete mit Tränen in den Augen: »Oh,
liebe Frau, es ist so weit gekommen, daß der König
Euch haßt, wenn ich auch nicht weiß, warum. Lange
haben wir es Euch verheimlicht, aber einmal müßt Ihr
es erfahren. Unser Herr hat uns wissen lassen, daß
wir, wenn uns unser Leben lieb ist, Euch und Euren
Knaben auf dem Scheiterhaufen verbrennen müssen.
Da er zu den Fasten zurückkehrt und Euch dann nicht
mehr lebend vorfinden will, so muß innerhalb dreier
Tage sein Befehl vollzogen sein.« Da erschrak die
junge Königin und ihr Herz krampfte sich zusammen.
»Was habe ich getan, großer Gott,« klagte sie, »daß
ich so harten Tod erleiden soll? Womit hat es mein
Kind verdient, daß es sterben muß?« Dann fiel sie vor
dem Seneschall auf die Knie und bat ihn, ihr Kind zu
schonen, wenn er auch mit ihr täte, was er wolle. Der
Seneschall versprach ihr, sich mit seinen beiden Gefährten
zu beraten. Da besprachen sie sich miteinander,
und der Seneschall riet, sie wollten die Manekine
so ziehen lassen, wie sie gekommen sei, auf einem
mast- und segellosen Schiff, und sie der Hut Gottes
anheimstellen. Ferner wollten sie Bilder aus Holz
schnitzen lassen, die der Königin und ihrem Söhnlein
glichen und diese vor allem Volke verbrennen, damit
sie sich vor Strafe bewahrten. Als diese Vorbereitungen
beendet waren, hießen sie die Königin mit ihrem
Kind auf einen Zelter steigen und führten sie in die
Verbannung. Am dritten Tage kamen sie an das Ufer
des Meeres, wo das Schiff bereit stand. »Lieber
Herr,« sagte die Königin, »ich danke Euch, daß Ihr
mich vor dem Feuer bewahrt habt. Ich bitte Euch,
grüßt meinen Herrn, den König, und sagt ihm, daß ich
ihn immer noch über alles auf der Welt liebe. Gott
vergebe ihm seine Schuld und schenke ihm Ehre und
Glück. Sehet, die Liebe der Menschen ist eitel, so verleihe
mir Gott seine Huld, die unwandelbar ist und
ohne Haß.« Der Seneschall führte sie weinend in das
Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen Jungfrau
und stieß den Nachen ins Meer.
Am neunten Tage landete die Barke am Ufer des
Tiber. Ein Senator nahm die Manekine mit ihrem
Kinde auf. Als der König heimkehrte, erfuhr er den
Betrug und ließ seine Mutter lebendig einmauern,
dann machte er sich auf die Suche nach seiner Frau.
Nach siebenjähriger Wanderung gelangte er nach
Rom und der Trauring führte das Wiedererkennen
zwischen den beiden Gatten herbei. In Rom fand sich
auch Joiens Vater ein, welcher, von Gewissensbissen
gequält, beim Papst Vergebung für seine Sünden suchen
wollte. Schließlich fand die Königin durch ein
Wunder in einer Quelle ihre abgehauene Hand, welche
auf das Gebet des heiligen Vaters sich wieder mit
ihrem Arm vereinigte.
10. Der Fischfang des Wolfes
Ihr Herren! Es war um jene Zeit, da der Sommer zu
Ende geht, um dem rauhen Winter Platz zu machen.
Reinhart der Fuchs war in seinem Bau; er hatte nichts
zum Beißen und zum Brechen und wußte nicht, woher
er etwas nehmen sollte. Der Not gehorchend machte
er sich also auf den Weg und strich durch ein Binsengestrüpp
zwischen dem Wald und dem Fluß, bis er
die Landstraße erreichte. Dort angekommen duckte er
sich hinter eine Hecke und wartete auf Abenteuer.
Siehe, da kamen Kaufleute, welche Fische vom Meere
her brachten. Sie hatten eine Ladung frischer Heringe,
denn letzte Woche war der Wind zum Fischfang günstig
gewesen, und auch andere Arten guter Fische:
von Neunaugen und Aalen waren ihre Körbe voll.
Reinhart war noch einen Bogenschuß weit von ihnen
entfernt. Als er den mit Fischen beladenen Wagen erblickte,
lief er ein wenig voraus, doch so, daß die
Kaufleute ihn nicht bemerkten, denn er wollte sie täuschen.
Dann legte er sich mitten auf den Weg und
stellte sich tot: er kniff die Augen zu, biß die Zähne
zusammen und hielt den Atem an. Der eine Kaufmann
sah ihn und rief seinem Gefährten zu: »Sieh, ist das
ein Fuchs oder ein Köter?« »Es ist ein Fuchs,« entgegnete
jener, »pack ihn geschwind, den Hurensohn,
damit er uns nicht entwischt, denn er ist schlau. Er
soll uns seinen Pelz lassen!« Die Kaufleute liefen –
der eine hinter dem andern her – auf Reinhart zu. Sie
fanden ihn am Boden hingestreckt und drehten und
wendeten ihn nach allen Seiten ohne Furcht, daß er
sie beißen möchte. Sie schätzten den Rücken und den
Hals, der eine sagte, er sei drei Groschen wert, doch
der andere erwiderte: »Bei Gott, er ist mindestens
viere wert und das ist noch billig! Wir haben nicht
viel geladen; werfen wir ihn auf unseren Karren! Seht
nur, was für eine saubere, weiße Kehle er hat!« Mit
diesen Worten warfen sie ihn auf das Wägelchen und
fuhren weiter.
Reinhart aber machte sich über die Körbe her. Mit
den Zähnen öffnete er den einen und entnahm ihm
mehr als dreißig Heringe: da war der Korb leer. Er
fraß sie mit Genuß ohne Salz und Salbei, dann öffnete
er den anderen Korb. Er steckte seine Schnauze hinein
und zog drei Netze voll Aale hervor. Der Schlaumeier
packte die Stricke mit den Zähnen, warf sich die
Netze auf den Rücken und überlegte sich nun, wie er
wieder vom Wagen herunterkommen sollte. Erst kniete
er und spähte, dann schnellte er sich los und sprang
mit einem Satz vom Wagen herab auf die Straße,
während er um den Hals geschlungen seine Beute
trug. Nachdem er seinen Sprung getan hatte, rief er
den Kaufleuten zu: »Gott behüte euch! Dieser Haufen
Aale ist mein, den Rest könnt ihr behalten.« Als die
Kaufleute solches hörten, erschraken sie und riefen:
»Seht den Fuchs!« Sie sprangen vom Wagen herab
und hofften Reinhart noch zu erwischen, aber umsonst.
»Wehe!« sagten sie und rangen die Hände,
»das ist ein schöner Schaden! Wir Toren haben Reinhart
geglaubt! Nun hat er uns die Körbe aufgebunden,
hat sich satt gefressen und nimmt uns noch drei Netze
voll Aale mit. Möge er daran platzen!« »Ihr Herren!
Wozu der Lärm? Ihr könnt reden, was ihr wollt. Ich
bin Reinhart und werde schweigen.«
Als die Kaufleute die Verfolgung aufgegeben hatten,
ging Reinhart geradeswegs in seine Burg, wo ihn
seine Angehörigen, die der Hunger quälte, mit Ungeduld
erwarteten. Hermeline, seine treffliche Gattin,
sprang ihm entgegen, und die Brüder Percehaie und
Malebranche eilten auf ihren Vater zu, welcher in kurzem
Trab, dick, vollgefressen und heiter daherkam,
die Aale um seinen Hals geschlungen. Reinhart trat in
seinen Bau und sperrte vorsorglich die Türe ab von
wegen der Aale. Seine Kinder putzten ihm indes die
Stiefel ab und häuteten die Fische, dann schnitten sie
dieselben in Stücke und steckten diese auf kleine
Bratspieße aus Haselgerten. Hierauf wurden die Kohlen
angeblasen und die Fische auf die Glut gelegt.
Während die Aale brieten, siehe, da kam Herr
Ysengrin, der Wolf, des Weges, welcher schon seit
dem frühen Morgen umhergelaufen war, ohne nur das
geringste gefangen zu haben. Hungrig schlich er sich
durch das Holz auf Reinharts Bau los; denn er sah aus
der Küche, in welcher die Aale am Spieße gedreht
wurden, Rauch aufsteigen. Ysengrin witterte den
Duft, der ihm fremd war: er kräuselte die Nase und
leckte sich den Bart; darauf trat er zu einem Fenster,
um zu erspähen, was es da gäbe. Die Frage war nur,
wie er dahinein gelangen könne, denn gegen Bitten
pflegte Reinhart unempfänglich zu sein. Der Wolf lief
unstät umher, hier und da einen sehnsüchtigen Blick
nach der Burg werfend, welche ihm unzugänglich
blieb. Schließlich beschloß er, seinen Gevatter zu bitten,
er möge ihm um Gottes willen ein wenig von seinem
Fleische abgeben. Er rief also durch ein Loch:
»Herr Gevatter, öffnet mir die Tür! Ich bringe Euch
gute Nachricht!« Reinhart hörte und erkannte ihn
wohl, dennoch hatte er taube Ohren für ihn. Ysengrin
stand betrübt draußen und sprach: »Öffnet, lieber
Herr!« »Wer seid Ihr?« fragte Reinhart lächelnd. »Ich
bin es!« versetzte jener. »Wer ich?« »Euer Gevatter!«
»Ach so, wir glaubten, Ihr wäret ein Landstreicher.«
»Nein,« sprach Ysengrin, »öffnet!« »Ihr werdet Euch
einen Augenblick gedulden müssen,« sagte Reinhart,
»bis die Mönche gespeist haben, die sich gerade zum
Essen niedersetzen!« »Wie? sind das Mönche?«
»Vielmehr,« entgegnete jener, »eher Canonici. Sie
sind vom Orden St. Benedikts und ich habe mich
ihnen angeschlossen.« »Um Gottes willen,« sprach
der Wolf, »redet Ihr die Wahrheit?« »Bei der heiligen
Barmherzigkeit!« »Aber, sagt mir, eßt Ihr Fleisch?«
»Das ist verpönt,« sagte Reinhart. »Was essen denn
die Mönche?« »Sie essen Weichkäse und Fische. So
empfiehlt es St. Benedikt!« Ysengrin sprach: »Davon
wußte ich nichts. Aber gewährt mir Gastfreundschaft.
Es ist spät und ich weiß nicht, wohin ich mich noch
wenden soll.« »Gastfreundschaft?« sagte Reinhart,
»redet nicht davon! Nur ein Mönch oder ein Eremit
kann bei mir Unterkunft finden. Geht anderswo hin!«
Ysengrin sah ein, daß er unter keinen Umständen eingelassen
werden würde; trotzdem fing er wieder an:
»Fische? Ist das gutes Fleisch? Gebt mir doch einen
Brocken, nur um zu verkosten!« Der schlaue Fuchs
nahm drei Stücke Aal, die auf den Kohlen brieten und
inzwischen gar geworden waren. Ein Stück aß er
selbst, die anderen brachte er dem Wolf und sprach zu
ihm: »Gevatter, tretet ein wenig näher und empfangt
aus Nächstenliebe von unserer Speise. Aber wir erwarten,
daß Ihr auch in unseren Orden eintreten werdet!
« »Ich weiß es noch nicht, aber es ist möglich!«
versetzte Ysengrin, »jedoch, lieber guter Meister, gebt
mir geschwind das Essen!« Ysengrin erhielt es und
verschlang es in einem Happ. »Wie dünket Euch
darum?« fragte Reinhart. Der Feinschmecker zitterte
und brannte vor Gier. »Es möge Euch tausendmal
vergolten werden, Herr Reinhart!« sprach er, »aber
gebt mir nur noch ein einziges Stück, süßer, lieber
Gevatter, nur zum Anbeißen; dann will ich auch
Eurem Orden beitreten.« »Ich rate Euch sehr, Mönch
zu werden,« antwortete der listige Reinhart, »denn bei
Euren Anlagen werdet Ihr es noch vor Pfingsten zum
Prior oder Abt bringen.« »Hätte ich dann Fische
genug?« »Soviel Ihr essen wollt; aber zuvor müßt Ihr
Euch Haar und Bart scheren lassen.« Ysengrin begann
zu brummen, als er vom Scheren reden hörte.
»Wenn es sein muß, Gevatter, so schert mich geschwind!
« Reinhart erwiderte: »Sogleich werdet Ihr
eine große und breite Tonsur haben, nur muß erst das
Wasser warm sein.« Der Fuchs stellte Wasser aufs
Feuer und ließ es kochen; dann kam er wieder und
hieß den Wolf seinen Kopf durch ein Loch neben der
Türe stecken. Ysengrin reckte den Hals vor und Reinhart
goß ihm das kochende Wasser über den Schädel.
Der Wolf biß die Zähne zusammen und fuhr zurück:
»Reinhart!« schrie er, »ich bin hin. Das war ein
schlechter Streich, Ihr habt mir eine zu große Platte
geschoren.« Reinhart streckte die Zunge einen halben
Fuß weit aus dem Maul: »Herr, so ist es im Kloster
der Brauch,« sagte er, dann fuhr er fort: »Der heilige
Orden erheischt es, daß wir in der ersten Nacht eine
Probe bestehen. Wir wollen fischen gehen.« Ysengrin
entgegnete: »Gern werde ich alles tun, was die Regel
verlangt.« Reinhart schlüpfte durch einen Spalt und
trat zu Ysengrin, der noch immer über seine Platte
klagte, auf der keine Haut und kein Fell mehr geblieben
war. Beide gingen von dannen, Reinhart voraus
und der andere hinterher, bis sie zu einem Weiher gelangten.
Es war wenig vor Weihnacht, um die Zeit, da man
die Schinken in Salz legt. Der Himmel war klar und
sternenhell, und der Teich, in welchem Ysengrin fischen
sollte, war fest zugefroren. Nur ein Loch war
offen geblieben, welches die Bauern geschlagen hatten,
um ihr Vieh zu tränken, und neben dem Loch war
ein Eimer stehen geblieben. Reinhart ging vergnügt
auf den Eimer zu, sah seinen Gevatter an und sprach:
»Herr, diesen nehmt! Hier gibt es eine Menge Fische,
und auf diese Weise pflegen wir sie zu fangen.« »Bruder
Reinhart!« erwiderte Ysengrin, »bindet mir diesen
Eimer fest an den Schwanz!« Der andere nahm ihn
und band ihn so fest er konnte. »Bruder,« sagte er
dann »jetzt haltet Euch ruhig, damit die Fische kommen.
« Dann drückte er sich unter ein Gebüsch und
steckte die Schnauze zwischen die Füße, um zu beobachten,
was jener anstellen würde. Das Wasser begann
zu gefrieren und der Eimer an Ysengrins
Schwanze fror mit ein, so daß der Schwanz fest an
das Eis geheftet wurde. Nach einer Weile glaubte der
Wolf, es sei nun genug, und er versuchte, den Eimer
herauszuziehen. Lange zerrte er vergebens, dann rief
er nach Reinhart, denn der Tag begann schon zu dämmern.
Reinhart erhob den Kopf, öffnete die Augen
und blickte sich um: »Bruder,« sprach er, »laßt Eure
Arbeit stehen, gehen wir heim, lieber Freund! Wir
haben genug Fische gefangen.« »Reinhart, es sind zuviel!
« rief ihm Ysengrin zu. »Ich habe so viel gefangen,
daß ich den Eimer gar nicht wieder herausziehen
kann!« Reinhart antwortete lachend: »Wer zuviel begehrt,
verliert alles.«
Die Nacht war vorüber, der Tag brach an, und die
Sonne erhob sich im Osten. Alle Wege waren weiß
vom Schnee. Herr Constant von Granches, ein behäbiger
Ritter, hatte in der Nähe des Teiches genächtigt
und sich nun samt seinem Jagdgefolge zufriedenen
Gemütes erhoben. Er nahm sein Horn, rief den Hunden
und ließ sich seinen Sattel bringen, während der
Jagdtroß lärmte und schrie. Reinhart hörte es und
floh, bis er seinen Bau erreicht hatte. Ysengrin hingegen
mußte bleiben, er zog und zerrte mit solcher Wut,
daß ihm fast die Haut barst. Während der Wolf sich
so abquälte, kam ein Bursche des Weges, der zwei
Hunde an der Leine führte. Er erblickte Ysengrin, der
mitsamt seinem Glatzkopf auf dem Eise angefroren
war und schrie: »Hoho! Der Wolf! Herbei, herbei!«
Die Jäger sprangen samt den Hunden aus dem Hause.
Herr Constant sprengte auf seinem Rosse hinterdrein
und rief: »Laßt los, laßt die Hunde los!« Die Hundeführer
koppelten die Hunde ab, und diese stürzten
sich auf den Wolf, der sich nach Kräften wehrte. Herr
Constant zog sein Schwert und schickte sich an, den
Wolf gut zu treffen. Dieserhalb stieg er vom Pferde
und ging über das Eis hinüber auf ihn los. Von hinten
wollte er ihn treffen, aber er verfehlte ihn, kam durch
den Schwung ins Gleiten und fiel so heftig hin, daß
ihm der Kopf blutete. Mit Mühe erhob er sich und
ging zornig wieder auf den Wolf los. Er gedachte ihn
auf den Kopf zu treffen, aber der Schlag ging daneben:
das Schwert traf nur den Schweif und schnitt ihn
da, wo er angewachsen war, ratzibutz ab. Ysengrin
fühlte sich frei, er sprang davon, von den Hunden verfolgt
und gebissen, den Schwanz jedoch mußte er zu
seinem Schmerz als Pfand zurücklassen. Er floh einen
Abhang hinauf, und als er droben war, blieben die
Hunde ermüdet stehen und kehrten um. Ysengrin aber
eilte weiter, bis er den schützenden Wald erreicht
hatte. Dort hielt er inne und schwur, er wolle sich an
Reinhart blutig rächen.