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Kapitel 3

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11. Predigtmärlein des 13. Jahrhunderts

Der neue Adam

Ein Eremit tadelte einstmals Adam und grollte ihm,

daß er ein so leichtes Gebot übertreten habe, anstatt

Mitleid mit ihm zu fühlen. Sein Gefährte wollte ihn

züchtigen; er legte eine Maus zwischen zwei Schüsseln

und sagte zu ihm: »Bruder, bis ich zurückgekehrt

bin, sollst du nicht nachsehen, was zwischen diesen

beiden Schüsseln verborgen ist.« Als jener fort war,

begann der andere nachzugrübeln: warum hat er mir

dieses Gebot auferlegt? ich muß doch einmal sehen,

was er zwischen die beiden Schüsseln versteckt hat.

Er hob die obere Schüssel auf, und die Maus entwich.

Als der Gefährte zurückkam und die Maus nicht mehr

fand, sagte er: »Du tadeltest Adam, weil er ein so

leichtes Gebot übertreten habe, und du hast ein noch

leichteres nicht gehalten.« Hierauf ließ der Eremit von

seiner Anmaßung ab und vertauschte seinen Groll mit

Mitleid.

Der Engel und der Waldbruder

Einst wurde ein Eremit vom Geiste der Lästerung versucht

und grübelte darüber nach, wie doch die Urteile

Gottes ungerecht seien, wie die Guten in Kummer und

die Schlechten in Freuden lebten. Da erschien ihm ein

Engel in Menschengestalt und sprach zu ihm: »Folge

mir, denn Gott schickt mich, daß du mit mir gehest

und ich dir den verborgenen Sinn seiner Urteile

zeige.« Und er führte ihn in das Haus eines biederen

Mannes, der sie wohlwollend und gastfreundlich aufnahm

und mit allem Nötigen bewirtete. Am anderen

Morgen aber entwendete der Engel ihrem Gastfreunde

einen Becher, welchen dieser sehr hoch schätzte.

Hierüber begann der Eremit zu murren, denn er

glaubte, jener sei nicht von Gott gesandt. Die nächste

Nacht verbrachten sie im Hause eines Mannes, der

ihnen ein schlechter Wirt war und der sie unfreundlich

behandelte. Diesem gab der Engel den Becher, den er

dem guten Gastgeber gestohlen hatte. Als der Eremit

solches sah, wurde er noch betrübter und begann eine

noch schlechtere Meinung von seinem Begleiter zu

bekommen. Von dort weitergehend nächtigten sie ein

drittes Mal im Hause eines guten Mannes, der sie mit

großer Freude empfing und ihnen reichlich mit allem

Notwendigen aufwartete. Am anderen Morgen gab er

ihnen einen jungen Mann, seinen Diener, mit, daß er

ihnen den Weg zeige. Diesen stürzte der Engel von

einer Brücke herab und ertränkte ihn im Wasser. Als

der Eremit solches sah, wurde er traurig und ärgerlich.

In der vierten Nacht nahm sie ein trefflicher Mann

aufs beste auf, brachte ihnen mit heiterer Miene reichliche

Speise und ließ ihnen geeignete Lagerstätten

herrichten. Aber das kleine Söhnchen des Gastwirtes,

das einzige, das er hatte, begann in der Nacht zu weinen

und hinderte sie am Schlafen. Da stand der Engel

nächtlicherweile auf und erwürgte den Knaben. Als

der Eremit solches sah, glaubte er, sein Gefährte sei

der Satan selber und wollte sich von ihm trennen.

Jetzt endlich redete der Engel und sprach: »Deshalb

hat mich der Herr zu dir geschickt, daß ich dir den

verborgenen Sinn seiner Urteile zeige, und damit du

erfahrest, daß nichts auf der Erde ohne Grund geschieht.

Jener wackere Mann, dem ich den Becher

fortnahm, liebte ihn zu sehr, bewahrte ihn neidisch

und dachte häufig an den Becher, wenn er an Gott

hätte denken sollen. Deshalb habe ich ihn ihm zu seinem

Heile genommen und jenem schlechten Wirte,

der uns in seinem Hause übel aufnahm, gegeben,

damit er seine Vergeltung noch in diesem Leben empfange,

denn im Jenseits wird ihm kein Lohn mehr zuteil

werden. Jenen Diener aber habe ich ertränkt, weil

er sich vorgenommen hatte, am folgenden Tage seinen

Herrn zu töten, und so habe ich unseren guten Gastgeber

vor dem Tode errettet, seinen Diener aber vor

einer Mordtat, damit er, ohnehin schon ein Mörder

dem Vorsatze nach, um etwas weniger in der Hölle

bestraft werde. Unser vierter Gastfreund endlich tat

viel Gutes, ehe er den Sohn hatte und bewahrte alles,

was er an Lebensmitteln und Kleidung erübrigte, für

die Armen auf; als aber sein Knabe geboren war, zog

er seine Hand von den Werken der Barmherzigkeit

zurück und bestimmte alles für seinen Sohn. Ich habe

ihm den Anlaß zur Habsucht genommen und gleichzeitig

die Seele des unschuldigen Kindes ins Paradies

gebracht.« Als der Eremit solches hörte, wurde er von

jeder Versuchung befreit und begann die Urteile Gottes,

deren Sinn verborgen ist, mit lauter Stimme zu

preisen.

Der Wolf in der Vorratskammer

Es wird erzählt, daß der Fuchs den mageren Wolf

überredete, ihm in eine Vorratskammer Stehlens halber

zu folgen. Der Wolf aber fraß so viel, daß er

durch die enge Öffnung, die ihm Einlaß gewährt hatte,

nicht mehr herauskonnte, und er mußte so lange fasten,

bis er seine ehemalige Magerkeit wieder erreicht

hatte. Er wurde indes überrascht und geprügelt und

mußte unter Zurücklassung seines Pelzes flüchten.

Der büßende Räuber

In einem Hause jenseits des großen Sees bei Neuenburg

in der Diözese Lausanne wohnte ein Geistlicher

namens Wilhelm, der wegen der Wunder, die Gott um

seinetwillen gewirkt haben soll, für heilig gilt. Ein

Ritter, der ihn besuchte, fragte ihn, warum er sich so

durch Fasten, Tränen und Bußhemden abtöte und abmühe.

Der Geistliche antwortete, es drohe ihm am

Tage des Gerichts ein Flammenmeer von der Größe

des Sees, und es bedürfe der ganzen Kraft seiner

Buße, um dem höllischen Feuer zu entgehen. Und er

erzählte als Beispiel, daß ein Räuber, der seinen Gegnern

entfloh, sich in Gestalt des Kreuzes zu Boden

warf, als er sah, daß kein Entrinnen mehr möglich sei,

und bekannte, er habe den Tod wohl verdient; weil er

Gott beleidigt habe. Er weinte darüber, gestand, daß

er ein Sünder sei und bat seine Verfolger, daß sie, um

Gott mit ihm zu versöhnen, seine Glieder der Marter

preisgäben. Einem Eremiten, der schon viele Jahre in

den Bergen büßend verbracht hatte, wurde offenbart,

wie Engel die Seele dieses Räubers unter Lobgesängen

in den Himmel trugen. Dafür wußte der Eremit

Gott keinen Dank, sondern er ärgerte sich und bedachte,

daß er, der sich allen Kasteiungen ausgesetzt

habe, auf gleichen Lohn für seine Buße Anspruch

habe. Als aber seine Tage gezählt waren, überschritt

er einen Bach, glitt von der Brücke und verschwand

in den Wogen, und Teufel trugen seine Seele zur

Hölle.

Der König und der Weise

Ein König hatte in seinem Lande einen weisen und

reichen Mann wohnen, fand aber keine Gelegenheit,

aus ihm Geld herauszupressen. Da richtete er drei

Fragen an ihn, die er lösen müsse, wenn er nicht eine

gewaltige Summe Geldes zahlen wolle. Die Fragen

aber schienen unlösbar zu sein. Die erste war: wo der

Mittelpunkt der Erde sei? Die zweite: wieviel Maß

Wasser das Meer enthalte? Die dritte: wie groß die

Barmherzigkeit Gottes sei? Am bestimmten Tage nun

wurde der Weise in Anwesenheit des gesamten Hofes

aus dem Kerker, in welchem er gefangen gehalten

wurde, herbeigeholt, um sich loszukaufen, wenn er

nicht die erwähnten Aufgaben löse. Da stieß er mit

dem Stab auf den Boden und sagte: »Hier ist der Mittelpunkt

der Welt. Widerlege es, wenn du kannst.

Willst du, daß ich das Maß des Meeres ausmesse, so

halte die Flüsse und alle Wasser an, damit sie nicht

ins Meer dringen, bis ich es ausgemessen und dir die

Zahl der Maße gesagt habe. Die dritte Aufgabe werde

ich lösen können, wenn du mir deine Gewänder abtrittst,

damit ich vom Thronsessel aus meine Antwort

gebe.« Hierauf, als er sich auf dem Thronsessel und in

königlichem Schmucke befand, sagte er: »So höret

und sehet die Erhabenheit von Gottes Erbarmung,

denn ich war eben ein Sklave, nun bin ich ein König

geworden, eben war ich arm, nun bin ich reich, eben

war ich in der Tiefe, nun bin ich erhöht, eben in Kerker

und Ketten, nun aber in Freiheit.« So ist der Mittelpunkt

der Barmherzigkeit Gottes überall im gegenwärtigen

Leben, seiner Gnaden ist keine Zahl und

seine Erhabenheit und Allgegenwart äußert sich darin,

daß der Sünder aus den Fesseln und Gefängnissen der

Sünde durch den Weg der Buße zum Himmelreiche

gelangt.

Crescentia

Wir lesen, daß ein römischer Kaiser eine wunderschöne

unde ngelreine Gemahlin hatte, welche er, da

er in Amtsgeschäften verreisen mußte, mitsamt seinem

Lande seinem Bruder zur Verwahrung übergab.

Der Bruder bedrängte sie, durch ihre Schönheit verlockt,

mit Versprechungen, Drohungen und Gewalt.

Da sie ihn aber verschmähte und sich tapfer gegen ihn

wehrte, so verklagte sie der Bruder nach der Rückkehr

des Kaisers bei diesem, indem er sein Verbrechen auf

sie zu wälzen trachtete. Der Gatte schenkte dem Verleumder

ohne weiteres Glauben, mißhandelte die

Frau, als sie ihm entgegeneilte, mit Füßen und Fäusten

und übergab sie zwei Sklaven, damit sie sie

heimlich in den Wald führten und enthaupteten. Diese

wollten ihr, durch ihre Schönheit verleitet, gerade Gewalt

antun, während sie sich aus Leibeskräften wehrte

und die Hilfe der heiligen Jungfrau, der sie ergeben

diente, mit lauter Stimme anrief, als ein fremder Edelmann

vorüberkam. Er hörte das Geschrei, lief herzu,

befreite sie und tötete die Sklaven. Sie selbst aber

nahm er mit sich und betraute sie mit den Obliegenheiten

einer Hausfrau, indem er ihr seinen Sohn zur

Pflege überließ. Unterdessen bedrängte sie der Bruder

ihres neuen Herrn. Da sie aber nicht einverstanden

war, sondern sich tapfer mit den Fäusten wehrte und

ihm blutige Striemen beibrachte, erwürgte dieser,

während sie schlief, den neben ihr ruhenden Sohn des

Bruders, um die ihm zugefügte Unbill zu rächen. Daraufhin

überlieferte sie ihr Herr einigen Schiffern, welche

sie in ewige Verbannung führen sollten. Diese

wollten sie vergewaltigen und dann ins Meer werfen,

setzten sie aber auf ihre Bitte hin auf einer Insel an

Land, wo ihr die selige Jungfrau erschien, die sie tröstete

und ihr ein gewisses Kraut zeigte, welches die

schlimmsten Krankheiten zu heilen vermochte, besonders

aber wurden die Aussätzigen durch diese Pflanze

geheilt, vorausgesetzt, daß sie ihre Sünden beichteten.

Das Gerücht von einer solchen Heilkraft drang bis zu

den Ohren ihres Herrn. Er führte seinen Bruder –

jenen, der ihr hatte Gewalt antun wollen und das Kind

getötet hatte und nun zur Strafe aussätzig geworden

war – zu ihr. Sie erkannte beide und sagte, selbst unerkannt,

daß es zu einer solchen Heilung zunächst der

Beichte des Kranken in Gegenwart seines Bruders bedürfe.

Da jener aber das vorher erwähnte Verbrechen

nicht erwähnte, so nützte die Medizin nichts. Nun

sagte sie vor allem Volke, daß der Kranke bisher eine

Sünde verheimlicht habe und daß infolgedessen die

Heilung verhindert werde. Da ermahnte ihn der Bruder

und beschwur ihn, alles zu gestehen, und jener

enthüllte sein Vergehen und wurde geheilt. Als der

Kaiser dieses Wunder erfuhr, ließ er sie, da sein Bruder

gleichfalls hochgradig aussätzig geworden war, zu

sich kommen und bat sie unter großen Ehrungen um

die Heilung seines Bruders. Sie entgegnete, daß sie

ihn nur dann heilen könne, wenn er seine Schuld vor

aller Welt bekenne. Da er anderes gestand, das, was

er gegen sie gefehlt hatte, aber verheimlichte, so

wurde er nicht eher geheilt, bis er auf das Drängen des

Kaisers hin das gegen sie begangene Verbrechen

beichtete. Der Kaiser war untröstlich, da er sie nicht

erkannte. Als der Bruder geheilt war, berief sie den

Kaiser zu sich und besänftigte seinen Zorn gegen

jenen. Er aber erkannte sie während der Unterredung

an gewissen Zeichen, nahm sie wieder auf, und aller

Schmerz wurde in Freude verwandelt. Die Kaiserin

wurde später Nonne und diente auf das Ergebenste

der seligsten Jungfrau Maria.

12. Cleomades und das hölzerne Pferd

Im Lande Afrika herrschten einst drei reiche Könige.

Ihre Länder waren benachbart und die Könige waren

einander freundschaftich zugetan. Sie waren aber alle

drei erfahren in der schwarzen Kunst und in der Sternkunde.

Melocandis und Baldigant waren weise, edel,

schön und ritterlich, aber den dritten, welcher Crompart

hieß, verunzierte ein Buckel, seine Augen lagen

tief im Kopf und das Kinn hing ihm auf der Brust.

Diese drei Könige hatten davon reden hören, daß

König Marcadigas von Spanien drei wunderschöne

Töchter besitze. Zu diesen hatte sie vom bloßen Hörensagen

Liebe ergriffen, und sie beschlossen, um ihre

Hand anzuhalten. Crompart, der schlaue, riet: »Ihr

Herren, Marcadigas ist wegen der gewaltigen Tapferkeit

seines Sohnes Cleomades weit und breit gefürchtet.

Wir werden guttun, wenn wir uns sein Wohlwollen

mit reichen Geschenken erkaufen.« Da verfertigte

Meliocandis eine Henne mit drei Küchlein aus lauterm

Gold, und diese Tierlein sangen so schön, daß

süßere Melodien niemals vernommen wurden. Baldigant

schuf einen Mann aus Gold, der eine Trompete

in der Hand hielt, und jedesmal, wenn jemand Verrat

oder Unbill plante, so blies der Trompeter, daß er ein

ganzes Heer erwecken mochte. König Crompart end-

lich ersann das kostbarste Geschenk. Es war ein Pferd

aus Ebenholz, das seinen Reiter überall hintrug,

wohin er wollte; wenn man einen der stählernen Zapfen

drehte, mit denen es an Stirn und Brust ausgestattet

war, so flog das Tier in die Luft oder zu Tal, zur

Seite oder geradeaus, und es durchschnitt die Luft so

schnell, daß niemand ihm mit den Augen folgen konnte.

Mit diesen drei Geschenken kamen die afrikanischen

Könige in die große Stadt Sevilla, als gerade

König Marcadigas am Ersten des Monats Mai sein

Geburtstagsfest beging. Viele Barone hatten sich zum

Fest am Hofe versammelt und das Volk drängte sich

auf den Gassen, als die drei fremden Herrscher ihren

Einzug hielten. Cleomades, der Königssohn, ging

ihnen entgegen und begrüßte sie mit den geziemenden

Ehren, darauf wurden sie vor den König geleitet. Diesem

boten sie ihre Kleinodien dar, ohne ihm jedoch

den wahren Zweck ihrer Fahrt zu enthüllen. »Wir fordern

darfür«, sprach der listige Crompart, »nur eine

Gegengabe für uns alle drei.« »Und ich bewillige sie

euch,« erwiderte der König, »schont meiner Habe

nicht! Wählt unter meinen Burgen und Städten, unter

meinem Gold und meinen Edelsteinen, fordert kühn,

was euch gefällt, ich verspreche euch im voraus, daß

es euer ist.« Der Bucklige hub wieder an: »Herr, Ihr

macht uns froh, denn Ihr bewilligt uns reiche Gabe.

So wisset: um Eurer Töchter willen verließen wir

unser Land und sie verlangen wir von Euch. Ihr habt

uns unsere Bitte im voraus gewährt, nun nehmt die

Kleinodien, die wir Euch mitbrachten!« Marcadigas

sah, daß er hintergangen war und sein vorschnelles

Versprechen reute ihn wegen der Mißgestalt Cromparts,

aber ein König darf sein Wort nicht brechen.

Auch dem Königssohn mißfiel es, daß der Mann mit

dem Schweinsrüssel eine seiner Schwestern bekommen

sollte, er benachrichtigte die Jungfrauen und

diese spähten durch ein Loch in der Wand in den

Saal. Die beiden ersten gefielen ihnen nicht übel, aber

als sie den kleinen häßlichen Crompart sahen, da

fragten sie sich angstvoll, welcher von ihnen dieser

bestimmt werden sollte. Nachdem alles im Saale Platz

genommen hatte und Ruhe geboten war, nahm Melocandis

die goldene Henne und setzte sie mit ihren

Küchlein mitten in den Saal, und siehe, alle vier ließen

einen wunderlieblichen Gesang hören. Dem Könige

gefiel die Gabe sowohl wie der wohlgestaltete

Spender und auch Cleomades erklärte sich zufriedengestellt.

Melocandis verneigte sich vor dem König

und erhielt die älteste Tochter, die durch das Loch mit

Wohlgefallen den edlen Ritter betrachtete. Dann trat

Baldigant vor und überreichte dem König den Mann

aus Gold, indem er ihn dabei über dessen Eigenschaften

unterrichtete. Er erhielt die zweite Tochter und

neigte sich dankend vor dem Herrscher. Da geriet die

jüngste, welche Marina hieß, in große Not, denn ihr

blieb nur der häßliche Zwerg übrig. Cleomades, der

ihre Tränen sah, versprach, er wolle es so einrichten,

daß Crompart sie nicht zur Frau erhalten solle, und

über diese Worte wurde sie wieder ein wenig froh und

lächelte. Während sie solches in der Kammer besprachen,

hatte aber der Bucklige schon so geschickt mit

dem König geredet, daß dieser ihm seine Tochter zugebilligt

hatte. Cleomades verbarg seinen Zorn und

sprach leise zu seinem Vater: »Wollt Ihr Eure Tochter

ewiger Trauer überliefern, indem Ihr sie diesem mißgestalteten

Geschöpf zum Weibe gebt?« »Ich nahm

sein Geschenk und gab ihm mein Versprechen. Könige

lügen nicht.« »Herr,« wandte Cleomades ein,

»woher wißt Ihr, daß das Pferd die Eigenschaften besitzt,

die er an ihm rühmt? Erprobt zunächst die

Wahrheit seiner Worte und den Wert der Gabe!« Der

König war damit einverstanden und Cleomades setzte

dem Zwerg seine Zweifel auseinander. »Wenn Ihr das

Pferd besteigen wollt,« sagte Crompart mit hämischem

Lachen, »so sollt Ihr erfahren, ob ich log. Ertappt

Ihr mich auf Unwahrhaftigkeit, so mögt Ihr mit

mir machen, was Ihr wollt.« Der Treulose hatte wohl

gemerkt, daß Cleomades die Heirat hintertrieb, und er

suchte nach einer Gelegenheit, sich an ihm zu rächen.

Während der Bucklige diese Worte sprach, blies der

goldene Trompeter in sein Horn, weil gegen Cleoma-

des Verrat geplant wurde, aber niemand achtete auf

den Ton. Das Roß wurde in den Hof geführt und die

Menge drängte sich gaffend herum. Ein Sattel aus

Ebenholz deckte das Zauberpferd und seine Steigbügel

hatten die Eigenschaft, daß sie sich der Größe

eines jeden Reiters anpaßten. Cleomades, begierig,

das Geheimnis zu erfahren, bestieg den Rücken des

Tieres und drehte an einem Zapfen an dessen Stirn.

Wie der Sturmwind sauste das wunderbare Flugzeug

durch die Luft davon, und die Zurückbleibenden verloren

es alsbald aus den Augen. Der König wandte

sich zornig an Crompart: »Laßt das Pferd umkehren,

es ist schon zu weit fort. Mir scheint, es ist nun hinreichend

erprobt.« »Herr,« entgegnete der Verräter

mit unschuldiger Miene, »es steht nicht in meiner

Macht, das Roß zurückzurufen, denn ich vergaß,

Euren Sohn, als er aufstieg, zu lehren, wie er umkehren

könne. Erst als er fort war, fiel es mir ein. Es

schmerzt mich sehr, doch kann ich ihn Euch nicht

wiedergeben.« »Freund,« sprach der König, »du wirst

nicht das Licht des Tages sehen, bis ich meinen Sohn

wiederhabe. Wahrlich, übel war ich beraten, da ich

die Warnung des Bläsers nicht beachtete, und töricht

handelte ich, daß ich Euch nicht selber Euer Roß versuchen

ließ.« Der Zwerg suchte sich zu verteidigen,

aber das nützte ihm nichts; er wurde gebunden und

ins Gefängnis geworfen, wo er Gelegenheit hatte,

seine Hinterlist zu bereuen.

Den Königssohn indessen trug das Zauberroß in

kurzer Zeit so weit, daß er nicht mehr wußte, welche

Länder und Meere unter ihm vorübereilten. Wohl

merkte er, daß Crompart ihn hintergangen hatte, um

sich seiner zu entledigen, aber sein tapferes Herz verzagte

darum nicht. Er erinnerte sich, daß er den Buckligen

einen Zapfen an der Stirn des Rosses habe drehen

sehen, er tastete oben und unten und fand schließlich

einen Zapfen auf der rechten Seite des Tieres, den

er bewegte: da wandte sich das Pferd augenblicklich

nach rechts. Nun versuchte er einen Zapfen nach dem

andern, bis er wußte, wie er die Maschine, die durch

die Zapfen ihre Bewegung erhielt, steuern müsse.

Schließlich fand er auf der Brust des Holzpferdes

einen Zapfen, der veranlaßte, daß das Flugzeug sich

so sanft, wie ein Aprilregen auf die junge Saat fällt,

zur Erde herabließ und stille stand. Er wußte jetzt,

wie er in die Höhe und abwärts, wie er vorwärts und

rückwärts fliegen könne, und gar gern wäre er nach

Spanien zurückgekehrt, aber so weit hatte ihn das

Roß schon getragen, daß er nicht mehr wußte, welche

Richtung er einschlagen müsse, und zudem war er

müde und hungrig, denn er reiste nun schon einen Tag

und eine Nacht mit ungeheurer Geschwindigkeit. Er

gedachte also, zur Erde herabzugleiten, um sich auszuruhen.

Er blickte unter sich und gewahrte, daß er

über einer weiten Ebene schwebte, durch welche sich

ein Fluß schlängelte. Ein festes und schönes Schloß

lag unter ihm, umgeben von Wäldern, Weinbergen

und Wiesen. Von Konstantinopel bis Österreich hätte

man kein prächtigeres Schloß finden können. Hier

herrschte ein König mit Namen Carmans, der eine

wunderschöne Tochter besaß. Neben dem Tor des

Schlosses bemerkte der Jüngling einen hohen Turm,

der aus Marmorstein gehauen und mit Blei gedeckt

war. Auf diesen Turm zu nahm er seinen Flug und

steuerte seine Maschine so, daß er auf der Spitze desselben

landete. Er stieg vom Roß und erblickte ein

kleines Pförtchen, durch welches er in das Innere des

Schlosses dringen konnte. Er ließ also sein Flugzeug

oben auf dem Dache und eilte die Stufen hinab, denn

der Hunger trieb ihn. Durch eine Flucht von prächtigen

Sälen irrte er, bis er in einen Raum gelangte, in

welchem eine Tafel aus Ebenholz und verziert mit

kostbaren Steinen gedeckt war. Mancherlei Speisen

luden da zum Mahle, und in goldenen Pokalen funkelte

der Wein. Fleisch und Wein aber waren ein Opfer,

welches die Bewohner dieses Landes am ersten des

Mai ihren Göttern darbrachten, um von ihnen Fruchtbarkeit

zu erflehen. Der König und seine Großen hatten

ein wenig von den Speisen genossen, dann hatten

sie sich in einen anderen Saal begeben, wo böhmische

Flötenspieler und deutsche Geiger zum Tanze auf-

spielten. Dort war der ganze Hof bis Morgengrauen in

ausgelassener Lust versammelt und so blieb die Ankunft

des Fliegers unbemerkt. Cleomades wusch sich

seine Hände an einem Wasserstrahl, der aus dem

Maule eines silbernen Löwen hervorsprudelte und

setzte sich zum Mahl, während die Klänge der Fiedeln

und Harfen aus dem Tanzsaal herübertönten. Als

er sich gütlich getan hatte, wandte er sich zur offenen

Tür des Saales und trat in ein Gemach, in dem ein

Mann von riesenmäßigem Wuchse, doch ohne Bart,

angekleidet auf einem Lager schlief, das von Waffen

aller Art rings umgeben war. Der Jüngling schlich

sich an dem Schläfer vorbei und trat in einen Säulengang,

der einen Blumengarten umgrenzte. Er stand

still und sah sich um. Das Gärtlein zeigte keinen anderen

Ausgang als eine Pforte aus Ebenholz; zu dieser

wandte sich der Königssohn und drückte auf die Klinke,

worauf sich die Türe mühelos öffnete. Cleomades

trat in ein Gemach von undenklicher Pracht; dieses

hatten der König und die Königin für ihre Tochter

Clarmondine hergerichtet, welche sie über alles liebten.

Sie zu bewachen diente der riesenhafte Eunuch,

der vor dem Gärtlein schlief. Eine Unzahl von Kerzen

erhellte den Raum und durch die Fenster brach schon

der junge Tag. Drei Betten standen in der Kammer, in

welchen drei Jungfrauen ruhten, aber auf der rechten

Seite stand das schönste Lager, das je ein Mensch ge-

sehen. Es war von Gold, und Hyazinthen, Topase,

Rubinen und Saphire funkelten daran, weiße Felle

waren über die seidenen Decken gebreitet. In diesem

Bett ruhte die schöne Königstochter. Cleomades näherte

sich dem Lager, erblickte die anmutige Schläferin

und neigte sich über sie. Als er ihre Wangen aus

Milch und Purpur sah, faßte er sich ein Herz und

küßte sie, worauf sie erwachte und mit einem tiefen

Atemzug ihre Augen öffnete. Sie erschrak gewaltig,

als sie einen Mann vor sich stehen sah. Cleomades

ließ sich vor ihr auf die Knie nieder, um sie zu begrüßen,

und sie erwiderte ihm: »Lieber Herr, wie kommt

Ihr hierher? In dies Gemach darf kein anderer treten

als der Königssohn von Arkadien, mit dem ich in

meiner Kindheit verlobt wurde, ohne ihn je gesehen

zu haben. Sagt, seid Ihr der? Wenn nicht, so seid Ihr

des Todes, und wenn Euer Leben fünffache Kraft

hätte.« »Schöne Maid,« sprach der Königssohn, »ich

bin der, von dem Ihr spracht und werde alles tun, was

Euch gefällt.« »Wer führte Euch hierher?« »Niemand

weiß, daß ich kam. Die Sehnsucht nach Euch, meiner

Braut, trieb mich hierher. Nun, nachdem ich Euch gesehen,

will ich mich unverzüglich wieder entfernen,

denn um nichts in der Welt möchte ich Euch lästig

sein.« Die Jungfrau wurde froh, denn sie glaubte den

Worten des Jünglings, der ihr überaus wohlgefiel.

Seine Schönheit ergriff ihr Herz mit den Flammen der

Liebe und ebenso fühlte sich unser Held von Amors

Pfeil verwundet. Clarmondine weckte nun ihre Dienerinnen

und diese waren so sprachlos vor Verwirrung

über die Anwesenheit des Fremden, daß sie dessen

höflichen Gruß mit keinem Wort erwiderten. Cleomades

beschloß, das Gemach zu verlassen, bis die Prinzessin

sich erhoben hätte; doch versprach er nicht

eher zu gehen, als es ihr gefiele. Der Jüngling trat in

den Blumengarten, wo er sich liebeskrank niederließ

und den Duft der Blüten einsog. Clarmondine kleidete

sich indessen an und erzählte dabei ihren drei Gespielinnen

von dem jungen Ritter, den sie noch immer für

ihren Verlobten hielt. Als sie fertig waren, begaben

sie sich alle vier zu dem Königssohn in den Garten,

und dieser suchte zunächst in Erfahrung zu bringen,

in welchem Lande er eigentlich sei. Dabei sah er die

Jungfrau mit verliebten Augen an und die Liebe

schlug ihre Wurzeln in ihren Herzen. Schon lange

saßen sie so da in Gespräche und stumme Blicke vertieft,

da spähte der Riese, der die Königstochter behüten

sollte, durch ein kleines Fensterchen in den Garten.

Er erstaunte über die Maßen, als er den Ritter

sah, und er wußte nicht, wie er hineingekommen sei,

denn er glaubte alle Eingänge wohlverwahrt zu haben.

Sogleich eilte er zum König, um ihm Bericht zu erstatten.

Dieser geriet über solche Nachricht in grenzenlose

Wut. Eilends begab er sich an das Fenster

und gewahrte ein liebliches Bild: seine Tochter wand

aus Blüten einen Kranz, während ihre Gespielinnen

die Blumen dazu pflückten und der Jüngling die Seide

zusammenflocht, um den Kranz zu binden. Der

König, rasend darüber, daß ein Mann bei seiner

Tochter weile, ließ die älteste der Wärterinnen rufen,

um von ihr Rechenschaft zu fordern. Sie erzählte ihm

alles, was sie von Cleomades wußte, aber der König

merkte sogleich die Unwahrheit seiner Worte, denn

sein künftiger Schwiegersohn war ihm wohlbekannt.

Hastig trat er in das Gärtlein, und die Liebenden

sprangen erschrocken vor ihm auf. Der Jüngling begrüßte

den König, ohne Furcht zu zeigen, doch dieser

blieb ihm die Antwort schuldig und gebot, ihn augenblicklich

zu fesseln. Die Knechte legten Hand an den

Königssohn, der sich ohne Gegenwehr binden ließ.

Die Jungfrau aber kniete vor dem Vater nieder und

sprach: »Herr, dieser Mann tat mir kein Leid. Er ist

der arkadische Prinz, mein Verlobter, den Ihr mir

selbst zum Gatten bestimmt habt.« Der König sah an

den Mienen seiner Tochter, daß sie sich keiner Schuld

bewußt war. »Tochter,« sagte er, »es ist nicht der, den

Ihr meint. Nie sah ich diesen Mann. Wenn Euer Verlobter

ins Land käme, so sollten sich meine Schlösser

mit Scharen festlicher Gäste füllen. Doch dieser ist

ein Betrüger, der Euch Eure Ehre rauben will. Aber er

soll es büßen, denn ich will ihn lebendig schinden las-

sen, will ihm den Kopf abschlagen, ihn verbrennen,

hängen und lebendig begraben.« Cleomades erschrak,

weil man ihn auf einer Lüge ertappt hatte und ließ

sich gutwillig fortschleppen. Die Mutter suchte Clarmondine

zu trösten, aber ihr Herz war nicht in ihrem

Leib, sondern wanderte mit dem Königssohn in den

Kerker, und wo das Herz nicht ist, da ist jeder Trost

umsonst. Cleomades stand in Banden geschlagen und

von Bewaffneten umgeben im Hofe, als die Königin

zu ihm trat, und trotz seiner Erniedrigung schien er

ihr schön und liebenswert. Man fragte den Jüngling

nach Name und Heimat, aber er schwieg hartnäckig.

Erst als der König ihm vorwarf, daß er der Ehre seines

Kindes nachgestellt habe, antwortete er hastig,

daß er nichts Böses gegen die Prinzessin im Schilde

geführt habe, und er erzählte eine halb wahre, halb erdachte

Geschichte, wie Feen ihn entführt, ihn auf ein

hölzernes Zauberpferd gesetzt und hier abgeladen hätten.

Er erklärte sich bereit, dem König das Roß, das

auf dem Turme stehe, zu zeigen. Dieser wurde neugierig

und begehrte, das Tier zu sehen; er schickte Cleomades

mit einer Schar Bewaffneter auf den Turm, sein

Flugzeug zu holen. Der Jüngling fand das Pferd im

nämlichen Zustand vor, wie er es verlassen hatte; er

brachte es dem König und dieser betrachtete es mit

Erstaunen. Die Königin hatte Erbarmen mit dem jungen

Mann und bat ihren Gemahl um Gnade. Dieser

hätte ihm gern verziehen, wenn ihn seine Lüge nicht

verdächtig gemacht hätte. Er wandte sich an seine

Ratgeber und fragte sie, was er mit dem Gefangenen

tun solle. Die Meinungen gingen weit auseinander,

aber schließlich einigte man sich dahin, daß er gehängt

werden solle. Da bedachte sich Cleomades und

sprach: »König, ich fürchte den Tod nicht, aber da ich

Euch nicht entgehen kann, bitte ich Euch um eine

Gnade: hängt mich nicht wie einen Straßenräuber! Ich

bin ein Ritter und verdiene einen ehrenvollen Tod.

Laßt mich mein Pferd besteigen und dann durchbohrt

mich mit Euern Pfeilen und Schwertern.« Der König

gestand ihm diese Gnade zu, denn es war ihm gleichgültig,

auf welche Weise er ums Leben käme. Rings

um das Roß versammelten sich die Knechte mit Spießen,

Lanzen, Pfeilen, Schwertern und Stöcken; große

Steinblöcke hielten sie im Schoß, um sie auf den Gefangenen

zu schleudern. Cleomades bestieg freudigen

Herzens sein Gefährt, als er aber oben saß, legte er

seine Hand an die Stirn des Tieres, drehte den Zapfen

und sogleich durchschnitt die Maschine die Luft, so

daß die Zurückbleibenden mit geöffneten Mäulern dastanden

und meinten, der Leibhaftige habe sie genarrt.

Cleomades nahm seinen Flug nach Spanien, wo er

mit größter Freude empfangen wurde. Seine erste

Bitte war, Crompart aus dem Gefängnis zu entlassen,

die Hand Marinas freilich habe er durch seine Treulo-

sigkeit verwirkt. Der Bucklige war sehr bekümmert,

als ihm der König seine Tochter verweigerte und er

verließ ihn voll Scham und Trauer ohne Abschied. Er

entließ sein Gefolge, das er in Sevilla zurückgelassen

hatte, er selber aber blieb in der Stadt, um eine günstige

Gelegenheit abzuwarten, daß er sich am König

und besonders an Cleomades rächen könne. Er kleidete

sich als Arzt und übte das Gewerbe eines Heilkünstlers

aus. Den Königssohn indessen ließ die

Liebe zu Clarmondine nicht rasten, und er glaubte

nicht eher Ruhe zu finden, bis er sie als seine Gattin

heimgeführt habe. Als drei Tage verstrichen waren,

nahm er von seinem Vater Abschied, um zu ihr zurückzukehren.

Er nahm denselben Weg, den er gekommen

war und ließ sein Flugzeug unter einer Ulme

in der Nähe von König Carmans' Schloß zu Boden

gleiten, um dort in Furcht und Hoffnung den Anbruch

der Nacht zu erwarten. Als der Mond aufgegangen

war, bestieg er sein Roß wieder und flog ruhig und

sicher in die Burg. Er ließ den Turm zur Seite liegen

und senkte sein Gefährt in das Blumengärtlein hernieder,

wo ihn der König letzthin überrascht hatte. Dort

stieg er ab und verbarg das Pferd in einer Mauernische.

Die Tür der Schlafkammer der Prinzessin stand

offen, um dem Duft der Blüten Eintritt zu gewähren,

und Cleomades gelangte ungehindert in das Gemach.

Er blieb einen Augenblick stehen und überzeugte sich

zunächst, ob alles schlief, dann trat er an das Bett der

Jungfrau und weckte sie mit einem Kuß. Sie schlug

mit einem Seufzer die Augen auf und sprach: »Ach,

wer hat mich geküßt?« Beim Licht der Kerzen erkannte

sie den Jüngling sogleich, aber sie wußte

nicht, ob sie schweigen oder schreien solle, denn sie

mißtraute dem Fremden, obwohl sie ihn liebte.

»Herr,« sagte sie, »ich sollte Euch zürnen, weil Ihr

neulich eine Lüge geredet habt.« »Jungfrau, ich

schwöre Euch, daß ich Euch heute die Wahrheit sagen

will. Cleomades heiße ich und mein Vater herrscht

über Spanien.« Bei diesen Worten jubelte Clarmondinens

Herz, denn der Ruhm seiner Heldentaten war

schon in ihr fernes Land gedrungen und vom Hörensagen

hatte sie den Vollbringer so vieler edler Taten

schon geliebt. Sie fragte ihn, warum er gekommen sei,

und er flüsterte ihr leise, leise, damit die Wärterinnen

nicht erwachten, seinen Plan ins Ohr und bat sie mit

aufgehobenen Händen, sie möge mit ihm in seine

schöne Heimat ziehen, um an seiner Seite als Königin

zu herrschen. »Herr,« sagte sie, »ich ergebe mich in

Euern Willen. Aber ich fürchte, mein Vater wird nicht

in diese Heirat einwilligen, denn er hat mich schon für

einen andern bestimmt.« Es bedurfte geringer Überredungskunst,

um sie zur Flucht mit ihm zu bewegen.

Darauf verließ Cleomades das Gemach, um sie im

Garten zu erwarten. Die Prinzessin weckte indessen

ihre Gespielinnen und erzählte ihnen, daß der berühmte

Ritter Cleomades gekommen sei, um sie mit

sich in sein Land zu führen. Die Jungfrauen, die

gleichfalls schon viel von der Tapferkeit des spanischen

Königssohnes gehört hatten, lobten ihre Wahl

und redeten ihr zu, mit ihm zu fliehen. Darauf traten

sie alle vier in das Gärtlein und die Wärterinnen trugen

dem Paar einen Imbiß auf und baten den Königssohn,

sie sobald als möglich in sein Land zu rufen.

Die Prinzessin aber war bekümmert, daß sie ihre Eltern

verlassen sollte, und Cleomades mußte ihr versprechen,

daß er ihr noch einmal Gelegenheit geben

wolle, sie zu sehen. Die Wärterinnen mahnten nun die

Liebenden, nicht länger mehr zu verharren, denn

König Carmans hatte die Gewohnheit, bei Tagesanbruch

sich zu erheben und sich mit seinem Gefolge im

Schloßpark zu ergehen. Schon dämmerte der Tag herauf

und die eine der Dienerinnen stieg auf den Turm,

von dem aus man den Park übersehen konnte. Da sah

sie, wie der König und die Königin sich mit einer

Schar von Damen und Rittern unter einer Pinie niedergelassen

hatten. Hurtig stieg sie wieder herab und

bat den Königssohn, unverzüglich seinen Plan auszuführen.

Der Jüngling hob Clarmondine auf sein Roß

und band sie fest, um sie vor dem Fallen zu bewahren,

die Mägde befestigten Körbe mit Speisen und

Wein an den Seiten des Flugzeugs und dann setzte er

sich selbst vor die Prinzessin auf das Zauberpferd; er

drehte den Zapfen, der den Flug nach aufwärts regelte,

und schwebte mit seinem Lieb dem jungen Tag entgegen.

Zunächst steuerte er ganz langsam und hielt sich

nahe am großen Turm, von wo man den Park, den die

ersten Strahlen der Sonne beschienen, überblicken

konnte. König Carmans lustwandelte dort mit seinen

Begleitern. Da hub Cleomades von seiner luftigen

Höhe aus zu reden an: »Herr, sucht Eure schöne

Tochter nicht, denn Euer Suchen ist umsonst. Ich

habe mich Eurer Tochter ergeben und sie hat mir ihre

Huld gewährt. Nun fliegen wir nach Spanien in mein

Heimatland, unser Hochzeitsfest zu halten. Und damit

Ihr wißt, wer Eure Tochter entführt: ich bin von edler

Art und weit in ferne Lande drang meines Namens

Ruhm, Cleomades heiße ich, mein Vater trägt die

Krone Spaniens.« Die Königin blickte in die Höhe

und rief: »Ach, mein Kind, wohin gehst du?« Dann

fiel sie bewußtlos vor Gram zu Boden. Während die

Herren und Damen des Hofes sich um die ohnmächtige

Königin bemühten, flog das Liebespaar in blitzschneller

Fahrt westwärts, der König Carmans aber

faßte sich an die Stirn und glaubte, ein schwerer

Traum habe ihn gequält.

Cleomades reiste mit der Prinzessin so lange durch

die Luft, bis an einem Dienstag Morgen die Sonne

vor ihren Augen die Türme Sevillas vergoldete. Da

sprach der Königssohn: »Nun freut Euch, süßes Lieb,

wir sind am Ziel!« »Herr,« sprach die Jungfrau, »ich

bitte Euch, Ihr wollet mich hier an einem geschützten

Orte absteigen lassen. Ich bedarf zunächst der Ruhe,

ehe ich vor Eure Eltern trete, denn ich zittere vor

Angst und Kälte.« Der Jüngling trug sie in einen Garten

von Pinien und Lorbeerbäumen, der sich außerhalb

der Mauern ausdehnte, und setzte sie unter einem

Olivenbaume ab. Die Jungfrau streckte sich ermattet

auf den grünen Rasen, und nachdem sie ein wenig geruht

hatte, begehrte sie zu essen. »Wenn es Euch nicht

mißfällt, Liebste,« sprach Cleomades, »so möchte ich

jetzt meine Eltern und meine Schwester aufsuchen

und sie bitten, Euch hier abzuholen.« »Holt sie, Herr,

und laßt mich indes hier ruhen. Die Glieder schmerzen

mich und ich kann mich so nicht vor dem Volke

zeigen.« »So erholt Euch, bis ich wiederkomme und

lauscht dem Sang der Vögel, die in den Zweigen zwitschern!

« Cleomades eilte in sein väterliches Schloß

und ließ die Jungfrau mit dem Pferd im Garten, die

sich mit Singen die Zeit vertrieb. Crompart, der Falsche,

hatte sich an diesem Morgen früh erhoben und

erging sich in dem nämlichen Garten, um Heilkräuter

zu sammeln. Er hörte das Lied der Jungfrau und

wandte sich der Gegend zu, aus der die Töne kamen.

Clarmondine erschrak, als sie das Scheusal erblickte;

sie verstummte augenblicklich und rief mit lauter

Stimme nach ihrem Geliebten. Crompart freute sich in

seinem treulosen Herzen, denn er glaubte, eine Gelegenheit

zur Rache gefunden zu haben. Überdies gefiel

ihm die Jungfrau, und er dachte, wenn er Marina nicht

bekommen könne, so wolle er wenigstens diese zu

seiner Liebsten machen. Als er sie nach Cleomades

rufen hörte, erriet er den Zusammenhang. »Erschreckt

nicht,« sagte er, »ich will Euch kein Leid tun!« »Herr,

mir graut vor Euch! Bitte, geht, denn gleich wird

Cleomades zurückkehren, dem ich angehöre.« »Eben

dieser ist es, der mich sendet,« entgegnete der Zwerg

listig, »er befiehlt Euch, daß Ihr zu ihm kommt; ich

werde Euch auf dem Roß zu ihm tragen, denn er lehrte

mich, es zu behandeln, und daran mögt ihr erkennen,

daß ich sein Vertrauter bin.« Die Jungfrau glaubte

den Worten des Schurken und erhob sich. Der

Bucklige setzte sie auf das Zauberpferd und band sie

fest, dann hing er Fleisch und Wein an die Seite des

Tieres und stieg selber auf. Hurtig drehte er den Zapfen,

und in rasender Fahrt erhob sich das Flugzeug in

die Wolken.

Hier müssen wir unser Liebespaar seinem Schicksal

überlassen und geben es dem Leser anheim, sich

selber auszumalen, welche Gefahren und Abenteuer

die Liebenden noch zu bestehen hatten, bis sie endlich

wieder miteinander vereinigt wurden.

13. Altfranzösische Marienlegenden

Der Tänzer Unserer lieben Frau

Es war einmal ein Gaukler, der tanzend und springend

von Ort zu Ort zog, bis er der ewigen Wanderfahrt

und aller Weltlust müde ward. Da gab er all seine

Habe hin und trat in das Kloster zu Clairvaux ein.

Der neue Laienbruder war zwar schön und stattlich

von Gestalt, doch die Bräuche und Sitten des Klosters

kannte er nicht. Er hatte ja seine ganze Zeit mit Springen,

Tanzen und Räderschlagen verbracht und nie

hatte ein Mensch den Gedanken gehabt, ihm das Vaterunser,

das Ave oder gar das Kredo zu lehren. Voll

Demut staunte er alles im Kloster an, er sah, wie die

Brüder nie ihr frommes Schweigen brachen, und so

ging auch er wie ein Stummer umher, bis er von den

Brüdern verlacht und mit Zwang zum Reden gebracht

wurde. Er sah, wie jeder auf seine Weise dem Herrn

diente, wie die Priester am Altar ihr heiliges Amt

vollzogen, wie die Diakonen die Evangelien lasen,

wie die Klosterschüler im Chor den Psalter sangen,

und wie selbst der kleinste von ihnen ohne Zaudern

das Vaterunser aufsagen konnte. Da stand er beschämt:

ach er allein, er konnte nichts! Oft stand er

lauschend vor den Zellen und hörte Klagen und We-

herufe von drinnen hervortönen, und wie er den

Grund des Weinens reiflich überlegte, fand er, daß die

da drinnen Gott für ihre Schuld um Gnade anflehten.

»Ach,« sprach er, »was tue ich hier? Ich kann nichts

als müßig stehen und gaffen! Ich bin das Brot nicht

wert, das man mir gibt. Ach, wenn man es merkt, so

werden sie mich mit Schande verjagen, weil ich zu

gar nichts nütze bin!« In seinem Gram flüchtete er aus

des Tages Licht in eine unterirdische Kapelle, wo

zwischen Kerzen das Bild der Gottesmutter stand.

Dort verkroch er sich sorgenvoll in einen Winkel.

Plötzlich klang tief und voll die Münsterglocke, welche

die Brüder zur Messe lud. Er hob das Haupt und

sprang auf: »Soll ich hier liegen, während alle andern

wetteifern, Unsere Frau zu loben? Was säum' ich

noch? Bin ich nicht auch in mancherlei Künsten erfahren?

Nach Kräften dient ihr ein jeder, so will auch

ich tun, was ich kann!« Rasch warf er die lange Kutte

beiseite und gürtete sich sein dünnes Jäckchen um die

Lenden. Dann trat er demutsvoll vor das Bild der

Gottesmutter und sprach: »Dir, Königin ob allen Königinnen

befehle ich Seele und Leib! Zu dir komme

ich voll Vertrauen, oh nimm mit meinem Eifer vorlieb!

Die schönsten Spiele, die ich kann, wähle ich dir

zur Lust, so wie ein Böcklein auf der Heide vor seiner

Mutter hüpft und springt. Du verschmähst nie, was

dir ein Herz aus Liebe bietet, sieh, was ich habe,

bring ich dir!« Und während droben die Hymnen erschollen,

beginnt er mit vollen Kräften zu tanzen,

bald vor- und bald rückwärts, auf und nieder, er geht

auf den Händen durch die Kapelle und überschlägt

sich in der Luft, alle Arten von Tänzen springt er mit

kunstgerechtem Schwung, und nach jedem Tanz verneigt

er sich vor dem Bilde: »Das tu' ich nur für dich,

daß sich dein Auge daran erfreue, erfreust du doch die

ganze Welt!« Und wiederum hebt er an, die Hand auf

die Stirn gelegt, mit kleinen Schritten zierlich in der

Runde zu gehen, dabei weint er und betet: »O Frau,

dir singe ich Ehre und Preis mit Herz und Leib, mit

Hand und Fuß. Da droben singen sie Lobeshymnen:

laß mich dein treuer Tänzer sein und gib mir in deinem

himmlischen Palast eine kleine Wohnung, denn

dein bin ich ganz und gar.« Solange der Sang von

oben klingt, tanzt er ruhelos, bis ihm der Atem vergeht

und die Glieder den Dienst versagen: da sinkt er

in Ohnmacht taumelnd zu den Füßen der Himmelskönigin

nieder. Und siehe: die Strahlende neigt sich mit

gütigem Lächeln hernieder und fächelt ihn mit ihrem

Tüchlein, und mit ihrer süßen Gnadenhand kühlt sie

das Feuer seiner Schläfen.

Ein Mönch hatte von draußen diese Vorgänge mit

angesehen und heimlich den Abt geholt. Dieser ließ

am anderen Tage den Laienbruder vor sich laden. Der

Arme erschrak zu Tode, denn er glaubte, er solle

wegen seines Müßiggangs vertrieben werden. Er fiel

also voll Zagen vor dem Abt auf die Knie und sprach:

»O Herr, ich weiß, ich kann hier nicht bleiben, doch

ich will tun, was ihr befehlt. Ich will hinaus ins Elend

gehen!« Doch der Abt neigte sich voll Ehrfurcht,

küßte ihn und bat ihn, zu Gott für ihn und die Brüder

zu beten, damit sie einst von seinen Gnaden erben

möchten. Da ward der Arme vor Freude krank und

kam zu sterben. Als aber sein letztes Stündlein gekommen

war, da trugen der Engel Scharen den Tänzer

Unserer lieben Frau zum allerhöchsten Sternenzelt.

Der Judenknabe

Die Juden, die überall in der Welt verstreut sind, hatten

sich wie in jeder anderen guten Stadt, so auch in

Bourges niedergelassen und lebten dort nach ihrem

Gesetz. Nun geschah es, daß die schöne Osterzeit

nahte, und alle Welt feierte mit Glockentönen und Gesängen

die Auferstehung des Herrn. Männer, Frauen

und Kinder eilten in freudiger Hast zum Münster und

siehe, ein kleiner Judenknabe folgte den Gespielen in

das Gotteshaus, wie er ihnen sonst zum Spiele nachlief.

Er trat in den hohen Dom, da glänzten die Bilder,

gleißend von Gold, da funkelten die Gefäße, da glühten

die Kerzen, und Freude ergriff das Büblein, das

zuvor nie solches sah. Er tat den anderen Kindern

alles nach: bald schlug er sich an die Brust, bald bekreuzte

er sich und dann warf er sich nieder in den

Staub. Zwischendurch betrachtete er die Bilder und

besonders gefiel ihm eines: das war eine hoheitsvolle

Frau, die einen lächelnden Knaben an ihrer Brust

hielt. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging alt und

jung zum heiligen Abendmahl, und jeder schlug sich

demütig vor dem Sakrament für seine Missetaten an

die Brust und flehte aus Herzensgrund um Erbarmen.

Das Kind trat mit den andern Christen vor und empfing

den Leib des Herrn, ohne zu wissen, was es tat.

Dabei kam es ihm vor, als ob das Bild der glorreichen

Jungfrau und Mutter aus seinem Rahmen heraustrete

und hinter dem Priester hergehend die Speise austeilen

helfe.

Indessen machten sich Vater und Mutter auf die

Suche nach dem Knaben, überall auf den Straßen

fragten sie nach ihm und jammerten, denn sie glaubten,

er sei ihnen genommen worden. Während noch

der Schmerz ihr Herz zerriß, traten die Christen, das

Herz voll Festesfreude, aus dem Gotteshaus. Das Judenbüblein

eilte heim und lief seinen Eltern entgegen.

Da fragte der Vater mit bösem Blick, wo es gewesen

sei, und das Knäblein antwortete furchtsam, es sei mit

den andern Kindern im Dom des Herrn gewesen und

habe vor dem goldenen Altar mit den andern gespeist.

Als der Vater hörte, daß das Kind die Kommunion

empfangen habe, da knirschte er vor Wut mit den

Zähnen. Ganz in der Nähe stand ein Glasofen mit loderndem

Feuer. Der Vater packte den Knaben unter

den Armen und warf ihn in die Flammen, dann versperrte

er den Ofen von außen, damit der Körper zu

Asche werde. Die Mutter des Knäbleins aber raufte

vor Schmerz ihre Haare und schrie, so daß das Volk

zusammenströmte und nach der Ursache ihres wilden

Gebarens fragte. Da erzählte sie den Leuten die Missetat

ihres Mannes. Die Leute öffneten den Ofen mit

Gewalt und blickten in die flackernde Glut und siehe:

der Knabe war heil und unversehrt. Zwar züngelten

die Flammen an ihm herauf, von allen Seiten umleckte

ihn das Feuer, aber er spielte mit den Funken, als

seien es Blümlein auf grüner Au. Da faßte die Menge

freudiges Staunen, und sie fragten das Knäblein, wie

ihm bei der Marter zumute gewesen sei? »Marter?«

erwiderte er, »ich fühlte keine! Als sich der Ofen

schloß, da erschien die hehre Frau, die ich dort im

Münster bei den Christen geschaut, wie sie dem Priester

half, die Speise auszuteilen. Sie stand neben mir

und hielt einen lächelnden Knaben an ihrer Brust,

mitten im Feuer stand sie, und mit ihrem weiten Mantel

wehrte sie die Flammen von mir ab. Ich habe

weder Schmerz noch Pein gefühlt. Wie durch einen

blühenden Garten schritt sie durch die Glut, wahrhaftig,

das muß eine gute und heilige Frau sein!« Als die

Leute dieses hörten, da lobten sie Gott und seine glorreiche

Mutter. Der alte Jude wurde in den Ofen geworfen

und zu Asche verbrannt, wie er es verdient

hatte, die Mutter aber ließ sich nebst ihrem Söhnlein

taufen, und das gleiche taten viele Juden um der seligsten

Jungfrau Maria willen, die den Judenknaben vor

dem Feuertod gerettet hatte.

Die Nonne und der Ritter

Einst lebte in einer Abtei, deren Sakristanin sie war,

eine Nonne von heiligmäßigem Wandel; ihr ganzer

Sinn war auf gute Werke gerichtet, sie betete fleißig

und ehrte Gott und seine Heiligen, vor allem aber verehrte

sie Tag und Nacht die Mutter Gottes. Jedesmal,

wenn die gewohnte Stunde gekommen war, kniete sie

allein vor dem Bilde Unserer lieben Frau nieder und

bat sie um Vergebung für ihre Sünden. Der Dienst

Mariens war ihre einzige Speise, und um die Dinge

dieser Welt sorgte sie sich nicht. Ihre guten Werke

würdigten sie so, daß sie eine Freundin Gottes und

der heiligen Jungfrau, der sie diente, wurde. So groß

war ihre Begnadung, daß die Kranken zu ihr kamen

und Genesung fanden, wenn ihre Hand sie berührte.

Lange Zeit verharrte sie so im Wohltun, bis der Teufel,

der das Gute wo er kann vernichtet, sie versuchte

und schließlich zu Fall brachte. Ein Ritter entführte

sie aus dem Kloster und verlockte sie durch Versprechungen,

daß sie sich ihm ganz zu eigen gab. Sie vergaß

ihren Eid und warf ihr Ordensgewand vor dem

Bild der Himmelskönigin beiseite, sie floh das Licht

und tauchte in die Finsternis. Wie ein Wanderer, dem

die Kerze verlöscht, auf nächtlichen Pfaden in den

Abgrund stürzt, so wandelte sie die finsteren Wege

der Welt, die ins endlose Feuer führen.

Zwei Jahre verharrte sie in sündiger Fleischeslust,

aber dann erinnerte sie sich plötzlich ihrer Meisterin

und Freundin, der heiligen Jungfrau, welche sie feige

verlassen hatte. Sie ward freudenlos und krank, als sie

ihrer Untreue gedachte. Es kam ein Tag, da ihr Geliebter

sie mit harten Worten tadelte, sie eine entlaufene

Nonne schalt und ihr aus Eifersucht ihren Fehl und

ihren Wandel vorhielt. Schmerzbewegt erwiderte sie

ihm: »Ihr redet wahr! Ich bin noch schlechter, als jemand

mich schelten könnte. Nun ist mir recht geschehen,

wohl habe ich Tadel verdient, da ich mich von

Gott und der erhabenen Herrin abgewendet habe, die

mich würdigte ihre Ärztin zu sein. Aber Gott ist nicht

tot. Wenn ich mich bemühe, ihm wieder zu dienen

und meine Sünden bereue, so kann mir vielleicht Vergebung

werden, denn Gott verheißt dem reumütigen

Sünder Erbarmen.«

Wie eine Irrsinnige eilte sie von hinnen und lief so

lange, bis sie zu ihrer Rechten den Turm einer weißen

Abtei gewahrte. Dorthin wandte sie sich und traf zufällig

den Abt vor der Tür, der sich, als er sie in Tränen

sah, vor ihr erhob. Sie warf sich ihm zu Füßen, er

aber richtete sie auf und vergoß Tränen des Mitleids.

Weinend bekannte sie ihm ihren Kummer und ihre

Schuld. Der gute Abt sah durch ihr Antlitz in ihr Herz

und sprach: »Schwester, oft wählt man den unrechten

Weg und Gott läßt es zu, daß der strauchelt, den er

liebt, damit er sich neu gestärkt erhebe. So müßt auch

Ihr Euch erheben und Buße tun, durch die Ihr die Verzeihung

Gottes und seiner Mutter finden werdet, die

mit freigebiger Hand ihr Erbarmen dem reuigen Sünder

spenden.« »Herr, ich bin bereit, meinen armseligen

Leib zu geißeln, meinen Leib, der der Urgrund

meiner Sünden ist. Ach, wenn es sein könnte, daß ich

wieder Gottes Freundin würde, nie wollte ich ihn wieder

erzürnen.« »Liebe Freundin, ich werde Euch

sagen, wie Ihr Buße tun sollt. Ich befehle Euch im

Namen Gottes, daß ihr wieder in Euer Vaterhaus zurückkehrt

und dort in Einsamkeit und Buße lebt. Je

mehr Ihr aber leidet, desto größere Gnade werdet Ihr

erlangen. So sehr sollt Ihr Euch demütigen, daß Ihr

Eure Schwestern um Verzeihung bittet.« »Herr, das

kann ich nicht! Lieber lasse ich mich zerstückeln! Ich

bin eine Edeldame dieses Landes, und mein Vater

würde mich töten, wenn er mich wiedersähe. Die Gemeinen

würden mit Fingern auf mich weisen und

überall würde meine Schandtat bekannt. Gebt mir,

Herr, eine Buße, die meinen Leib mehr quält und mir

mein Leben härter macht!« »Liebe Freundin, Ihr müßt

dies tun, Gott wird Euch trösten und stärken. Eine andere

Buße kann ich Euch nicht geben, geht in Frieden,

und ich sage Euch, daß sich Eure Missetat zum Guten

wenden wird.« »So werde ich Eurem Befehle nach-

kommen, Herr! Ich lege mein Leben in Gottes und der

heiligen Jungfrau Hand. Möge ihr Erbarmen über mir

Unwürdigen erscheinen, und sende mir Gott baldigen

Tod!« Sie ging und zerraufte sich mit den Händen das

Haar. Einsame Wege wanderte sie und sprach weinend

ihr Gebet: »Herrin, Königin der Majestät, süße

Herrin! Im Tempel deiner Jungfrauschaft weilte Gottes

Sohn und wollte sich nicht von dir trennen, denn

wie eine süße Blume duftet deine Reinheit. Bewahre

meinen Leib und meine Seele, den Leib vor Schmach

und Tod, die Seele vor Sünde! Ich bereue meine

Schuld und gebe mich ganz in dein Erbarmen. Hab'

Gnade, Herrin, dein bin ich ganz und gar!« So ging

sie in Verzweiflung und wanderte so lange, bis sie zu

einer Hütte kam, die neben dem Kloster, in welchem

sie gedient hatte, lag. Eine gute alte Frau, die in der

Abtei beschäftigt war, bewohnte das Häuslein. Hier

wurde sie aus Nächstenliebe beherbergt, und sie speiste

mit der Alten zu Abend. Nach dem Essen plauderten

sie über dies und jenes, und schließlich redete die

Nonne ohne Schleier ihre Hausfrau folgendermaßen

an: »Wirtin, Eure Sakristanin, welche mit so großem

Eifer im Kloster diente und die Kranken zu heilen

pflegte, wo ist sie? Ich habe viel Übles von ihr reden

hören: daß ein Mann sie entführt habe, dem sie sich in

sündiger Lust hingab. Um Gottes willen, sagt mir,

was Ihr davon wißt!« Die Alte erschrak über das Ge-

hörte und antwortete zornig: »Frau, Ihr seid toll, daß

Ihr so von unserer Sakristanin redet, Ihr verleumdet

die beste, die heiligste, die meistgeliebte Frau, die je

auf Erden lebte. Ihr braucht nicht lange nach ihr zu

suchen, denn erst heute habe ich sie gesehen und ihren

Segen empfangen da, wo sie ihren Dienst wie eine

Heilige und ohne Fehl versieht. Ihr seid nicht bei Sinnen,

daß Ihr so von ihr redet. Seht, auf der Straße harren

an zwanzig Kranke: Lahme, Blinde und Besessene,

die alle den nächsten Tag erwarten, damit sie die

Heilige mit einem Zeichen ihrer Hand heilen möge.

Schweigt mit Eurer Torheit, denn übel könnte es Euch

ergehen, wenn Euch andere Leute hören.« Als die Büßerin

solches hörte, verwunderte sie sich sehr und

wußte nicht, was sie davon halten solle. Sie verbrachte

die Nacht schlaflos in Gedanken, und sobald die

Morgenglocke läutete, erhob sie sich, kleidete sich an

und ging in das wohlbekannte Kloster. Eine milde

Frau öffnete ihr, die Verlorene wich zurück und

sprach: »Herrin, um Gott, wer seid Ihr?« »Sagt mir

zuerst, liebe Freundin, wer Ihr seid,« fragte die Pförtnerin.

»Herrin, mit Schmach gesteh ich's ein. Ich war

Sakristanin in diesem Kloster und gut tat ich meine

Pflicht, bis der Teufel mich überwand und mich all

meiner Schätze beraubt in die Schande stieß. Ich bin

die, von der Gott sich abwandte, weil ich um der

Sünde des Fleisches willen ihn und seine Mutter ver-

ließ. Um meine Meisterin, der ich mich weihte, gräme

ich mich am meisten, denn sie berief mich zu großen

Ehren. Nun bin ich durch eigene Schuld ihre Widersacherin

geworden, und kaum wage ich, sie um Verzeihung

anzugehen. Ich bin verflucht und ausgestoßen,

von der Liebe Gottes ausgelöscht. Um Gnade und Erbarmung

zu erflehen komme ich her, aber schwerlich

werde ich für meine rasende Lust Vergebung finden.

Herrin, nun habe ich Euch gesagt, wer ich bin. Um

des Erlösers willen bitte ich Euch, sagt mir jetzt

Euren Namen!« »Ich will ihn dir nennen: ich bin

Maria, die Gott gebar. Du hast meine große Güte

schlecht vergolten. An deiner Statt habe ich die Zellen

gefegt, die Glocken geläutet, die Türen geöffnet, die

Lampen entzündet, und jedermann glaubte, du seiest

hier. Niemand weiß um deinen Fehltritt, denn dafür,

daß du mir so treu gedient, habe ich deine Schmach

verhüllt. Ich vergebe dir deine Sinnenlust, aber hüte

dich, ein zweites Mal zu sündigen. Nun geh zu meinem

Altar, dort findest du dein Ordenskleid, bekleide

dich damit und fürchte nichts!« Außer sich vor Freude

warf sich die Sünderin zu Füßen der Gottesmutter in

den Staub, doch diese entschwebte, und sie hielt nur

die Erde umfaßt, die sie küßte, weil die Sohlen der

Himmelskönigin sie berührt hatten. Dann wandte sie

sich zum Altar, bekleidete sich mit ihrem Nonnengewand

und machte sich daran, ihren Dienst zu verse-

hen, wie sie es früher getan hatte. Niemand aber ahnte

etwas von dem, was sie verschuldet hatte. Mit Beten,

Fasten, Kasteiung und guten Werken brachte sie ihre

Jahre dahin, um die versäumte Zeit wieder einzuholen,

bis Gott der Herr ihre Seele zu sich in sein Reich

nahm.

Vom Dieb, der sich jedesmal, wenn er zum

Stehlen ging, Unserer Frau empfahl

Es war einmal ein Dieb, der eine sonderbare Gewohnheit

hatte: sein Sinn war so ganz und gar vom Gedanken

an die süße Mutter des Königs der Glorie erfüllt,

daß er sich jedesmal, wenn er zum Stehlen ging, in

ihre Hut empfahl. Und wenn er sich ihr empfohlen

hatte, ging er ruhigen Herzens zum Raub, als ob er

dazu beauftragt gewesen wäre. Niemals aber bestahl

er die Armen und Bedrängten, vielmehr tat er ihnen

Gutes wo er konnte, aus Liebe zur Gottesmutter.

Eines Tages wurde er beim Diebstahl überrascht, und

jedermann war sich darüber einig, daß er hängen

müsse, denn er war weithin berüchtigt. Man legte ihm

den Strick um den Hals und knüpfte ihn an den Galgen.

Da rief er in seinem Herzen zu Unserer lieben

Frau, diese aber, die nie einen der ihrigen vergißt,

kam ihm alsbald zu Hilfe. Ihre weißen Hände breitete

sie unter seine Füße und hielt ihn so zwei Tage lang,

so daß er weder Schmerz noch Qual empfand. Am

zweiten Tage kamen seine Henker, um nach ihm zu

sehen. Als sie ihn lebendig und gesund fanden, sprachen

sie: »Wir haben getrunken, ehe wir diesen Dieb

hängten; schlecht haben wir gearbeitet, der Strick mag

nicht recht gebunden sein.« Sie ergriffen ihre Schwer-

ter und wollten ihn in die Gurgel stechen, aber sie

konnten ihm kein Leids tun, denn die Mutter des Erlösers

hielt ihre Hände schützend vor ihn. Da rief der

Dieb: »Flieht, flieht, vergebens müht ihr euch, denn

wißt, daß meine Herrin, die heilige Maria, mir zu

Hilfe kam. Sie ist es, die mich stützt und ihre weiße

Hand vor meine Kehle breitet. Die süße Herrin neigt

sich zu mir und läßt nicht zu, daß ihr mir wehe tut.«

Als die Henker diese Worte hörten, banden sie ihn los

und sagten dem Himmelskönig und seiner Mutter für

dieses Wunder Dank. Der Sünder aber trat am selbigen

Tage als Mönch in ein Kloster und diente von

nun an in Demut Unserer lieben Frau.

Vom König, der den Sohn seines Seneschalls

verbrennen wollte

Ein König von Ägypten hatte einen Seneschall, der

ihm lange gedient und dafür reichen Lohn verdient

hatte. Diesem Seneschall war ein Sohn erwachsen, der

das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte. Der

Knabe war verständig für sein Alter, und all sein Sinnen

war auf die Liebe zu Gott und der hl. Jungfrau gerichtet.

Es geschah aber, daß sein Vater krank wurde

und zu sterben kam. Der König erfuhr davon, suchte

den Kranken auf und setzte sich an sein Lager.

»Herr,« sprach der Seneschall, »von Eurer Kindheit

an habe ich Euch treu gedient, mehr als fünfunddreißig

Jahre lang war ich Euer Knecht. Ich fühle, daß

mein Ende naht, aber zuvor möchte ich Euch, lieber

Herr, um eine Gnade bitten, die ihr mir um Gottes

Willen gewähren mögt. Wenn ich tot bin, so nehmt

Euch meines Sohnes an und wollet an ihm meine treuen

Dienste vergelten!« Der König versprach dem

Sterbenden, er wolle seinen Sohn stets um sich halten

und ihm Land und Lehen geben. Darauf hauchte jener

seine Seele aus.

Der König hielt sein Versprechen. Er bestellte dem

Jüngling einen Lehrmeister und zog ihn zusammen

mit seinem eigenen Sohne auf. Täglich kam er, die

Knaben zu sehen und ihnen Geschenke zu bringen; er

hatte beide sehr lieb, und auch die jungen Leute

waren einander in inniger Freundschaft zugetan. Der

Lehrmeister aber war voll Zorn und Neid darüber,

daß der König den Fremdling so schätzte, und er

sagte in seinem treulosen Herzen: »Der König ist

nicht weise, daß er einen hergelaufenen Burschen so

wert hält wie seinen eigenen Sohn. Mir sollte er wohltun

und mich achten, denn ich bin an mancherlei Künsten

reich, statt dessen verschwendet er seine Liebe an

einen, der sie nicht verdient. Aber ich will ihn auslöschen

aus der Liebe des Königs.«

Eines Tages wandte er sich an den Knaben und

sprach tadelnd zu ihm: »Mein Sohn, wenn der König

wieder herkommt und dich in seine Arme nimmt, so

wende dein Haupt ab, denn dein Atem ist ihm nicht

angenehm.« Bald darauf kam der König, die Knaben

zu besuchen, und schloß beide in seine Arme; da

wandte der Sohn des Seneschalls, welcher an nichts

Arges dachte, sein Gesicht ab, um den König nicht zu

belästigen. Dies tat er fünf oder sechsmal, bis der

König es merkte und den Lehrmeister fragte, was das

bedeuten solle. Der Treulose antwortete: »Herr, ich

möchte Euch die Wahrheit sagen, wenn ich nicht

fürchten müßte, Euch zu erzürnen. So wißt denn: der

Knabe hat mir gestanden, daß er Euern Atem nicht ertragen

kann.« Der König erschrak über diese Rede; er

haßte von nun an den Knaben und schwur, ihm nicht

mehr wohltun zu wollen, ja, er wollte ihn überhaupt

nicht mehr sehen und beschloß, sich seiner zu entledigen.

Der Verräter aber freute sich in seinem Herzen.

Der König ließ einen Förster kommen und befahl

ihm, daß er im Walde ein großes Feuer entzünde;

welchen er, der König, aber als ersten dorthin senden

werde, den solle er ergreifen und in das Feuer werfen.

So lieb ihm sein Leben sei, solle er diesen Befehl

vollziehen und die Ausführung geheim halten. Der

Förster versprach zu tun, wie ihm befohlen sei, er

kehrte heim und zündete das Feuer mit eigener Hand

an. Darauf ließ der König den Burschen rufen und

gebot ihm, sogleich sein Pferd zu besteigen, um eine

Botschaft zu überbringen. Dabei trug er ihm auf,

wohin er reiten und was er dem Förster sagen solle.

Der Jüngling stieg sogleich zu Roß und ritt eilends

davon. Auf dem Wege empfahl er sich Gott und der

heiligen Jungfrau und betete, sie möchten ihm vor Gefahr

bewahren. Während er so in frommen Gedanken

befangen war, hörte er das Glöcklein eines Einsiedlers

läuten und sprach: »Ich will in die Kapelle gehen,

um meine gewohnten Gebete zu sprechen und wenn

möglich eine Messe zu hören. Mein Geschäft ist nicht

so dringend, und bald wird der Gottesdienst beendet

sein.« Er wandte sein Pferd nach rechts, ritt den

Hügel, auf welchem die Klause des Eremiten stand,

hinauf und betrat die Kapelle, während der heilige

Mann die Messe sang. Als aber die Wandlung vollzogen

wurde und der Jüngling unter Tränen an seine

Brust schlug, siehe, da schwebte eine weiße Taube

hernieder, welche einen Brief in ihrem Schnabel trug.

Diesen ließ sie auf den Altar niederfallen. Nachdem

der Einsiedler den Gottesdienst beendet hatte, küßte

er das Schreiben dreimal und öffnete es sodann. Der

Brief gebot dem Eremiten, er solle den Jüngling zurückhalten,

bis die Mittagsstunde vorüber sei, denn

Gott und die heilige Jungfrau, welche ihn in ihrer Hut

hätten, wollten ihn aus Gefahr retten. Der Einsiedler

trat auf den Jüngling, der schon sein Roß wieder besteigen

wollte zu und bat ihn, bis Mittag bei ihm zu

verweilen. Nach längerem Zögern willigte dieser ein

und ließ sein Roß grasen; der heilige Mann jedoch

hielt ihn mit freundlichen Worten so lange fest, bis

die Sonne im Mittag stand.

Der Lehrmeister, welcher nicht wußte, was aus dem

Knaben geworden sei, begab sich unterdessen zum

König, und dieser befahl ihm, unverzüglich in den

Wald zu reiten und den Förster zu fragen, ob er des

Königs Gebot erfüllt habe. Der Meister ritt in den

Wald und sprach zum Förster: »Der König wünscht

zu wissen, ob sein Wille geschehen ist.« »Nein,« versetzte

jener, »noch nicht, aber gleich soll er geschehen.

« Mit diesen Worten packte der Förster den

Schurken und warf ihn ins Feuer, wo er alsbald zu

Asche verbrannte.

Alsbald kam der Knabe zu dem Feuer; diesem rief

der Förster von weitem entgegen: »Ich weiß wohl,

was Ihr wollt! Geht, und sagt dem König, daß ich seinem

Befehle nachgekommen bin.« Sogleich wandte

der junge Mann sein Roß, um dem König diese Botschaft

zu überbringen. Als dieser die Wahrheit erfahren

hatte, liebte er den Knaben noch inniger als früher

und ließ ihn zu großen Ehren gelangen.

Von der Königin, die ihren Seneschall tötete

In Ägypten lebte einst ein König, der war jung, schön

und reich. Gar sehr liebte er Hunde und Falken und

trieb oft mit ihnen seine Lust. Eines Tages war er zum

Jagen in den Wald gegangen; als er aber die Spur

eines Hirsches verfolgte, brach ein furchtbares Unwetter

los. Jeder suchte sich einen Unterschlupf, und der

König blieb ganz allein; er ritt in ein Unterholz und

verbarg sich dort so lange, bis das Wetter sich verzogen

hatte. Der König ritt nun durch den Wald und

suchte seine Begleiter, aber er hörte weder Horn noch

Hund und wußte nicht, welchen Weg er nehmen sollte.

Schon brach die Nacht herein, da fand er einen

Pfad, der, wie er glaubte, ihn zu einer Herberge führen

müsse. Und wirklich, wie er aus dem Walde trat,

erblickte er einen Strom und ein Schloß darüber, und

er dankte Gott, der ihm den Weg gewiesen hatte.

Müde klopfte er an die Pforte der Burg, die Zugbrükke

wurde herabgelassen, und der Schloßherr ging dem

späten Gast, den er alsbald als seinen Lehnsherrn erkannte,

entgegen, um ihn zu bewillkommnen. Im Saal

begrüßten ihn die Gattin und die Tochter des Ritters,

eine Jungfrau von außergewöhnlicher Anmut. Als der

König die Maid erblickte, wurde sein Herz bewegt,

und er hielt ihre Schönheit für wertvoller als alle seine

Schätze. »Wenn sie meine Liebe nicht zurückweist,«

sagte er zu sich selber, »so werde ich sie zur Königin

machen. So soll es sein! Ich will sie besitzen!« Das

Abendessen wurde aufgetragen, und die Jungfrau, die

den Funken der Liebe in ihres Herren Herzen entzündet

hatte, saß dem König gegenüber. Nach einer

schlaflosen Nacht trat der junge König vor den

Schloßherrn und trug ihm seinen Wunsch vor. Dieser

warf sich ihm zu Füßen und dankte ihm die Ehre

unter Tränen; darauf wurde allsogleich die Verlobung

gefeiert. Kaum war die Feier beendet, so drang das

Gefolge des Königs, das ihn den ganzen Tag gesucht

hatte, in das Schloß, und alle freuten sich, ihn gesund

zu finden.

Der König hatte einen Seneschall, der alle seine

Geschäfte besorgte, aber der war ein habgieriger

Mann und von niedriger Gesinnung. Sein Herr, der

ihm in allem vertraute, erzählte ihm seine Verlobung

mit der Tochter des Ritters. Er ließ seine Braut rufen,

und als der Seneschall sie erblickte, erstaunte er über

ihre Anmut und lobte gar sehr den Entschluß seines

Herrn. Bald darauf nahm der König Urlaub, nachdem

er zuvor seiner Liebsten versprochen hatte, er wolle

über drei Tage wiederkommen, doch nur im geheimen

und unter vier Augen. Da beging die Jungfrau eine

Torheit, die sie viel Tränen kosten sollte, sie zeigte

nämlich ihrem Geliebten, wie er heimlich in ihr Ge-

mach gelangen könne und gab ihm den Schlüssel zu

einer verborgenen Pforte. Während des Heimrittes gestand

der König seinem Seneschall, was er vorhabe.

Dieser tadelte ihn, daß er sich und die Jungfrau der

Schande aussetzen wolle und drang so lange in ihn,

bis er versprach, die Sache auf sich beruhen zu lassen

und den Schlüssel seinem Seneschall überantwortete.

Als der Treulose das Schlüsselein in der Hand hielt,

keimte in ihm der verbrecherische Gedanke, er wolle

zugreifen und das seltene Glück, das sich ihm biete,

genießen. Er begab sich also zur verabredeten Zeit,

geschützt vom Dunkel der Nacht, in das Schlafgemach

der Ritterstochter und bestieg mit dieser, die

nichts Böses ahnte, das Lager. In dieser Nacht verlor

sie ihre Jungfrauschaft. Dann schlief der Schurke ein

und begann zu stöhnen wie ein alter Mann. Da wunderte

sich die Maid und sagte sich, daß der König ein

junger Mann sei, während sie diesen groß und plump

fand. Leise erhob sie sich vom Bett und entzündete

eine Kerze, da erkannte sie den Schläfer und sprach:

»Ich habe hier einen schlechten Freund, so will ich

ihm auch eine schlechte Geliebte sein, er soll sich

nicht rühmen, bei mir gelegen zu sein.« Sie ergriff das

Schwert des Seneschalls und schnitt ihm damit das

Herz entzwei. Alsdann holte sie ihre Base, und die

beiden schleppten die Leiche hinaus und warfen sie in

einen wasserlosen Brunnen, in welchen sie Erde und

Schutt häuften, so daß niemand ahnen konnte, was die

Tiefe barg. Der König ließ im ganzen Lande seinen

Seneschall suchen, aber nichts verlautete von ihm,

und schließlich wurde der Tote vergessen, wie denn

das Leben den Lebenden gehört.

Einer Versammlung seiner Barone und Bischöfe

trug der König seinen Heiratsplan vor, und es wurde

beschlossen, daß die Hochzeit bald darauf im Schlosse

des Königs stattfinden solle. An diesem Tage bat

die junge Königin ihre Base, sie möchte in der ersten

Nacht bei dem Könige ruhen, damit dieser den Verlust

ihrer Jungfrauschaft nicht bemerken solle. Diese

war damit einverstanden, und als es Nacht geworden

war, bestieg sie mit dem König das Brautbett. Um

Mitternacht entschlummerten beide, da trat die Königin

an das Bett, zupfte ihre Base an den Zehen und

wollte sie wecken, um den Platz wieder mit ihr zu tauschen,

aber die Treulose sprach: »Ich werde mich

nicht von der Stelle rühren. Ich will den König zum

Gatten haben, denn ich habe diese Ehre wohl verdient.

« Die junge Königin wurde von Verzweiflung

ergriffen und legte Feuer an die Bettstatt, nachdem sie

zuvor ihre Base mit einem Schleier gefesselt hatte.

Das Feuer fand reiche Nahrung am Stroh und verbreitete

sich rasch. Sobald der König fühlte, wie die

Flammen an seinen Fersen leckten, sprang er vom

Lager und trachtete so sehr danach, sich zu retten, daß

er seine Frau vergaß. Als er die Königin draußen gesund

fand, freute er sich sehr, die andere aber verbrannte

in ihrem Bett, so daß keine Spur von ihr zurückblieb.

Während der Hochzeitsfeierlichkeiten blieb die Königin

still und traurig, denn in ihrem Herzen trug sie

die Erinnerung an die Mordtaten, die sie begangen.

Um ihre Schuld zu sühnen, ließ sie zu Ehren der Gottesmutter

ein Münster bauen und setzte einen Kaplan

dorthin, der der Allerseligsten Tag und Nacht dienen

sollte. Gar oft hörte sie selbst unter Gebeten und

Reuetränen die heilige Messe und lobte die heilige

Jungfrau. Zwei Jahre lang schleppte sie ihr Geheimnis

mit sich herum, endlich aber entschloß sie sich, es zu

beichten. Der Kaplan war ein scheinheiliger Heuchler;

als sie ihr Geständnis beendet hatte, sprach er zu ihr:

»Für diese Tat habt Ihr den Tod verdient; wenn der

König davon erfährt, wird er Euch verbrennen lassen.

Ich will Euch aber das Leben retten, wenn Ihr Euch

mir hingeben wollt.« Die Frau erschrak und antwortete:

»Falscher Priester! Ich suchte Buße und Trost bei

dir, und du verlangst eine größere Übeltat von mir,

als die ist, die ich begangen habe. Ich will lieber im

Feuer verbrennen, als den Eid brechen, der mich an

meinen Herren bindet.« Darauf ging der Kaplan zum

König und erzählte ihm, was die Königin gebeichtet

hatte. Der König ließ sogleich in dem Brunnen nach-

forschen, und da die Leiche des Seneschalls gefunden

wurde, war auch ihr zweites Verbrechen erwiesen.

Eine Versammlung der Großen des Landes trat zusammen

und verurteilte die Königin zum Tod auf dem

Scheiterhaufen. Da betete die Frau zur Mutter des Erlösers

und sprach: »Herrin, die Angst packt mich ans

Herz, und aus der Tiefe meiner Not schreie ich zu dir!

Du, die du Weg und Leben bist, Herrin, Freundin! ich

flehe dich um Erbarmung an, erlöse mich vom Flammentod,

oder wenn ich sterben muß, rette meine Seele

vor Verdammnis!«

Am nächsten Tage wurde die Königin, nur mit

einem Hemde bekleidet, zum Scheiterhaufen geführt,

Scham und Reue erfüllte ihr Herz, aber sie vertraute

auf Gottes Erbarmung. In der Nähe des Schlosses

hauste, wie ein Vogel in seinem Bauer, ein mehr als

hundertjähriger Einsiedler. Diesem erschien in der

Nacht die Mutter Gottes und befahl ihm, er solle sich

morgen in aller Frühe erheben, sich ins Schloß aufmachen

und dem König entbieten, er dürfe sein Weib

nicht anrühren lassen, denn er werde ein Wunder erleben,

das ihm zeigen solle, daß ihr vergeben sei. Als

der Einsiedler seinen Auftrag ausgerichtet hatte, ließ

der König die Sünderin vor sich führen, und diese erschien

mit gefesselten Händen, verbundenen Augen

und aufgelösten Haaren, den weißen Leib mit einem

dünnen Hemdlein bedeckt. Der fromme Klausner

konnte sich der Tränen nicht enthalten, als er dies

Frauenbild sah; aber sobald die Königin dem heiligen

Manne gegenüber trat, fielen ihr die Ketten von den

Händen, und vom Himmelszelt hernieder schwebte

ein Purpurmantel, der sich um ihre Schultern schlang,

während ein wallender Schleier ihr Haupt bedeckte.

Da wußte der König, daß sein Weib eine Freundin

Gottes sei, und er dankte dem Erlöser und seiner

süßen Mutter. Der falsche Priester wurde dem Scheiterhaufen

überliefert, der König aber diente seiner

Gattin und hielt sie treu und wert, während diese nie

der Wohltat vergaß, die ihr Gott und die heilige Jungfrau

hatten angedeihen lassen.

14. Prosanovellen des 13. Jahrhunderts

Aucassin und Nicolette

Aucassin, der Sohn des Grafen von Beaucaire, liebte

eine Jungfrau, welche Nicolette hieß. Sie hatte blonde,

dichtgelockte Haare, blaue, lachende Augen, ein

längliches Angesicht, eine hohe wohlstehende Nase,

Lippen von zarterem Rot als Kirschen und Rosen zur

Sommerszeit und kleine weiße Zähne. Ihre Brüstlein

waren hart und hoben ihr Gewand nicht höher als es

zwei Walnüsse getan hätten. Sie war schlank um die

Lenden, daß ihr sie mit euren beiden Händen hättet

umspannen können, und die Maßliebchen, die, von

ihren Zehen geknickt, ihr auf den Reihen des Fußes

fielen, waren geradezu schwarz gegen ihre Füße und

Beine: so weiß war das Mägdlein. Nicolette war aber

eine Gefangene, die aus fremden Landen hergeführt

war. Von Sarazenen hatte sie der Vizegraf gekauft, er

hatte sie aus der Taufe gehoben und zu seinem Patenkinde

gemacht. So kam es, daß der Graf, Aucassins

Vater, unter keinen Umständen eine Verbindung seines

Sohnes mit der Jungfrau dulden wollte. Diesen

hatte sein Liebesgram so niedergedrückt, daß er sich

aller ritterlichen Übungen enthielt und nur seinen Gedanken

an Nicolette nachhing. Nicht einmal die ewige

Seligkeit kümmerte ihn mehr: »Was habe ich im Paradiese

zu tun?« sagte er. »Ich will gar nicht hinein,

wenn ich nur Nicolette habe, mein süßes Mädchen,

das ich von Herzen liebe. Ins Paradies kommen nur

jene alten Pfaffen und jene alten Krüppel und Lahmen,

die Tag und Nacht vor den Altären und in den

alten Grüften hocken, die mit den alten abgeschabten

Kapuzen und den alten Lumpen angetan, die nackt

sind und barfuß und ohne Hosen, und vor Hunger und

Durst, Frost und Elend sterben. Die kommen ins Paradies;

mit denen habe ich nichts zu tun. Aber in die

Hölle will ich gehen! Denn in die Hölle kommen die

weisen Meister und die schönen Ritter, die in Turnieren

und in gewaltigen Kriegen gefallen sind, die guten

Knappen und die freien Männer. Mit diesen will ich

gehn! Auch kommen dahin die schönen höfischen

Damen, die neben ihrem Herrn zwei oder drei Freunde

hatten. Auch kommt dahin das Gold und das Silber,

Pelz und Grauwerk und Harfner und Spielleute

und die Könige der Welt. Mit diesen will ich gehn;

aber Nicolette, mein süßes Lieb, muß bei mir sein.«

Indessen bedrängte ein feindliches Heer die Burg

des Grafen, und dieser suchte Aucassin durch die Versprechung,

daß er Nicolette, welche in einen Turm

eingeschlossen war, sprechen und küssen dürfe, zur

Teilnahme am Kampfe zu bewegen. Diese Aussicht

veranlaßte auch wirklich den Jüngling, in die Schlacht

zu ziehen. Glaubt aber ja nicht, daß er daran dachte,

Ochsen, Kühe oder Ziegen zu rauben oder mit einem

Ritter Hiebe zu wechseln. Nein, durchaus nicht! Er

war so in Gedanken an Nicolette, sein süßes Lieb,

verloren, daß er ganz der Zügel vergaß und alles dessen,

was er hätte tun sollen. Das Roß aber, das die

Sporen gefühlt hatte, trug ihn ins Gedränge und stürzte

sich mitten unter die Feinde. Diese legten Hand an

ihn von allen Seiten, entrissen ihm Schwert und

Lanze, führten ihn spornstreichs als Gefangenen fort

und berieten sich schon, welchen Tod sie ihn sterben

lassen wollten. Da aber bedachte sich Aucassin, daß

er sein süßes Liebchen nicht mehr küssen könne,

wenn ihm der Kopf abgeschnitten würde, er legte

Hand ans Schwert, richtete um sich her ein Blutbad

an und sprengte im Galopp zurück.

Nicolette fühlte sich indessen vor den Nachstellungen

des Grafen in ihrem Turme nicht mehr sicher und

beschloß, zu fliehen. An Bettlinnen und Handtüchern

ließ sie sich herab, durchquerte unter großer Mühe

und Drangsal den Burggraben und flüchtete sich in

einen Wald. Ohne Säumen schritt sie dann / durch

den tiefen dichten Tann / auf verwachsnem Steige

fort, / bis sie kam an einen Ort, / wo sich in der Wildnis

Mitten / sieben Waldespfade schnitten. / Sie hält

hier am Kreuzweg inne / und gedenkt des Freundes

Minne, / ob sich die so wahr erprobt, / wie sein Wort

es ihr gelobt. / Und aus frischem Stechpalmgrün, / aus

den Lilien, die dort blühn, / bildet sie mit schwankem

Dach / ein geflochtnes Laubgemach. / Und sie

schwört bei Gottes Gnade: / »Kommt mein Freund

auf diesem Pfade, / ohne daß sein Herz ihm kündet, /

wer dies blum'ge Haus gegründet, / und er mir die

Liebe tut, / daß er hier ein Weilchen ruht, / dann ist

falsch, was er verspricht, / und wir sollen länger nicht

/ Lieb und Liebchen heißen!« Und wirklich traf Aucassin,

als er einst auf einem Ritt durch den Wald Erholung

und Zerstreuung suchte, auf Nicolettes Blumenlaube:

»Ha, bei Gott,« rief er aus, »hier war Nicolette,

mein süßes Lieb, und das baute sie mit ihren

schönen Händen. Um ihrer Huld und Liebe willen

werde ich absteigen und hier die Nacht über ruhen.«

Die Liebenden beschlossen nun, in ein anderes

Land zu ziehen, Aucassin nahm die Jungfrau vor sich

auf sein Roß, und sie ritten zum Gestade des Meeres,

wo sie Kaufleute trafen, die sie willig in ihr Schiff

aufnahmen. Doch als sie auf hoher See waren, erhob

sich ein großer, gewaltiger Sturm und trieb sie von

Land zu Land, bis sie an eine fremde Küste kamen.

Sie liefen in den Hafen einer Burg ein und fragten,

was das für ein Land sei, und man sagte ihnen, es sei

das Land des Königs von Torelore. Aucassin fragte,

welch ein Mann das sei und ob er Krieg führe. »Ja,

einen großen Krieg.« Da nahm er Abschied von den

Kauffahrern, und diese befahlen ihn Gott. Er stieg auf

sein Roß, sein Schwert umgegürtet und sein Liebchen

vor sich, und ritt, bis er in die Burg kam. Er fragte

nach dem König, und man sagte ihm, er liege im

Kindbett. »Und wo ist denn seine Frau?« Man erwiderte,

sie sei auf der Heerfahrt und mit ihr alle Leute

des Landes. Als Aucassin das hörte, verwunderte er

sich gar sehr. Er kam in den Palast und stieg ab, sowohl

er als sein Liebchen. Sie hielt sein Roß; er aber

stieg in den Palast hinauf, das Schwert umgegürtet,

und kam in das Zimmer, wo der König lag. Aucassin

war ganz allein; / in die Kammer drang er ein / und

gelangte bis zur Stätte, / wo der König lag im Bette. /

Er blieb stehn, als er ihn sah: / »Sag, du Narr, was

machst du da?« / Nun vernehmt, was der gesprochen:

/ »Herr, ich liege in den Wochen! / Wenn mein Monat

ist dahin / und ich ganz genesen bin, / werd' ich in die

Messe gehn, / wie's von altersher geschehn. / Aber

dann mit großem Schall / schlag ich meine Gegner all,

/ lasse nicht vom Kriege.« Als Aucassin den König

also reden hörte, nahm er alle Decken, die auf ihm

lagen, und schüttelte sie auf den Boden. Er sah hinter

sich einen Stock, ergriff ihn und schlug damit so auf

den König los, daß er ihn fast umbrachte. »Ach, lieber

Herr,« rief der König, »was wollt Ihr von mir?

Seid Ihr verrückt, daß Ihr mich in meinem eigenen

Hause schlagt?« »Beim Herzen Gottes,« sprach Au-

cassin, »armseliger Wicht, ich schlage Euch tot, wenn

Ihr mir nicht gelobt, daß in Eurem Lande kein Mann

mehr im Kindbett liegen soll!« Er gelobte es ihm, und

als dies abgetan war, sagte Aucassin: »Herr, nun führt

mich zu Eurer Frau ins Heer!« »Gerne Herr,« sprach

der König. Er stieg auf ein Roß und Aucassin auf das

seine und Nicolette blieb in den Gemächern der Königin.

Der König und Aucassin ritten zur Königin ins

Feld, wo eben mit gerösteten Holzäpfeln, Eiern und

frischen Käsen eine Schlacht geliefert wurde. Aucassin

schaute das mit an und verwunderte sich höchlichst.

Auf dem Sattel vorgeneigt, / hält der Jungherr,

staunt und schweigt. / Vor ihm wogte weit und breit /

dieser Heere heißer Streit, / die mit Äpfeln, mürbgekochten

/ und mit frischen Käsen fochten. / Durch die

Luft in hohem Bogen / große Wiesenschwämme flogen.

/ Wer mit Lärm am lautsten tobt, / wird als erster

Held gelobt. / Aucassin, der tapfre Mann / sah die

seltne Schlacht mit an / und begann zu lachen. Als

Aucassin dieses wunderliche Schauspiel sah, ging er

zum König und redete ihn an: »Herr, sind das Eure

Feinde?« »Ja, Herr!« sagte der König. »Und wollt Ihr,

daß ich Euch an ihnen rächen soll?« »Ja,« sprach

jener, »gerne!« Da legte Aucassin Hand ans Schwert,

stürzte sich mitten unter sie, begann nach rechts und

links um sich zu hauen und tötete viele. Doch als der

König sah, daß er sie totschlug, fiel er ihm in den

Zügel und rief: »Ach, lieber Herr, tötet sie mir nicht

so ohne weiteres!« »Wie?« sprach Aucassin, »wollt

Ihr denn nicht, daß ich Euch räche?« »Herr,« sprach

der König, »das habt Ihr schon zuviel getan. Es ist

unter uns nicht Brauch, daß wir einander totschlagen.

« Die Feinde wandten sich zur Flucht, und der

König kehrte mit Aucassin ins Schloß Torelore zurück.

Die Leute des Landes aber rieten dem König, Aucassin

aus seinem Reiche zu jagen und Nicolette für

seinen Sohn zurückzubehalten; denn sie scheine eine

Frau von hohem Stande. Als Nicolette das hörte, war

sie nicht sehr froh darüber und sprach: »Komm ich,

Herr von Torelor, / Eurem Volk so närrisch vor, / daß

ich solche Wünsche hätte?« / sprach die holde Nicolette.

/ »Wenn, von meinem Reiz beglückt, / mich

mein Liebster an sich drückt, / nenn' ich alle Wonnen

mein. / Ball und Tanz und Ringelreihn, / Fiedel, Geig'

und Harfenspiel, / und was sonst der Welt gefiel, / gilt

mir nichts dagegen.«

Aucassin lebte auf der Burg Torelore herrlich und

in Freuden; denn er hatte Nicolette, sein süßes Liebchen,

bei sich. Doch als er in diesen Wonnen

schwamm, kam ein Schiffsheer Sarazenen übers Meer

daher, lief die Burg an und nahm sie im Sturm. Sie

raubten das Gut und schleppten Männer und Weiber

gefangen fort. Auch Nicolette und Aucassin ergriffen

sie, banden dem Jungherrn Hände und Füße und warfen

ihn in ein Schiff und Nicolette in ein anderes. Da

erhob sich ein Sturm über dem Meere, der sie trennte.

Aucassin landete beim Schloß Beaucaire und erfuhr,

daß seine Eltern, während er in Torelore war, gestorben

seien. Die Bürger führten ihn in sein Schloß und

huldigten ihm, und er hielt sein Land im Frieden. Das

Schiff aber, darin Nicolette war, gehörte dem König

von Karthago, und der war ihr Vater. Sie wurde also

mit großer Freude im Sarazenenlande aufgenommen

und sollte einem Heidenkönig zur Frau gegeben werden;

aber sie hatte keine Lust, sich zu vermählen. Sie

verlangte eine Fiedel und lernte darauf spielen, und

als man sie eines Tages einem mächtigen Sarazenenfürsten

vermählen wollte, schlich sie in der Nacht

davon, färbte sich Haupt und Antlitz, daß sie ganz

dunkel wurde, ließ sich Rock und Mantel, Hemd und

Hosen machen und kleidete sich so in die Tracht eines

Spielmanns. Dann nahm sie die Fiedel, ging zu einem

Schiffsmann und verhandelte mit ihm, daß er sie in

sein Schiff nahm. Sie spannten die Segel aus und fuhren

durch die hohe See, bis sie nach dem Lande Provence

kamen. Dort stieg Nicolette aus und wanderte

fiedelnd durch das Land, bis sie zum Schloß von

Beaucaire kam, wo Aucassin wohnte. Sie trat vor Aucassin

und sang ihm ein Lied, das von Nicolettes

Abenteuern seit ihrer Trennung von ihrem Liebsten

handelte. Als die Jungfrau sah, daß Aucassin sie noch

liebte, salbte sie sich mit einem Pflänzlein, Schellkraut

geheißen, und wurde wieder so schön, als sie je

gewesen, dann ließ sie Aucassin durch die Vizegräfin,

ihre Pflegemutter, benachrichtigen, daß Nicolette, sein

süßes Lieb, aus fernen Landen gekommen sei, ihn

aufzusuchen. Als nun Aucassin vernommen, / daß

sein Lieb ins Land gekommen, / ward er aller Sorgen

bar, / fröhlich, wie er niemals war, / und in ungeduld'ger

Hast / eilt er in der Frau Palast. / In die Kammer

trat er ein, / und das holde Mägdelein / sprang

empor mit flinken Füßen, / um ihn jubelnd zu begrüßen.

/ Aucassin, der sel'ge Mann / zog mit Armen sie

heran, / hielt sie zärtlich fest umfangen, / küßt ihr

Augen, Mund und Wangen. / Also ließen sie's die

Nacht; / aber als der Tag erwacht, / führt der Graf in

stolzer Schar / die Geliebte zum Altar, / und das Kind

in Glanz und Ehre / ward zur Dame von Beaucaire – /

und sie lebten sonder Klage / lange wonnenreiche

Tage. / Alles Glück, das sie begehrt, / war den beiden

voll beschert. – / Mehr zu melden weiß ich nicht: /

somit endet mein Gedicht, / endet Sang und Sage.

Vom Kaiser Constans

Einst lebte in der Stadt Byzanz ein heidnischer Kaiser,

welcher in der Sternkunde unterrichtet war und

den Lauf der Planeten und des Mondes kannte; er sah

die Wunder des Himmels und glaubte an die Offenbarungen

des bösen Feindes. Dieser Kaiser, welcher

Moslin hieß, ging eines Nachts bei hellem Mondlicht

unerkannt mit einem Ritter durch die Straßen der

Stadt. Da hörte er, wie in einem Hause, an dem sie

vorbeigingen, ein Christenweib in Kindsnöten lag.

Der Mann dieses Weibes aber betete zu Gott; bald

betete er, daß sie entbinden möge und bald wieder,

daß sie nicht entbinden möge. Da verwunderte sich

der Kaiser und sprach zu dem Manne: »Sage mir, du

Schurke, warum bittest du das eine Mal deinen Gott,

daß er deine Frau entbinden lasse und das andere Mal

wieder, daß er sie nicht entbinden lasse?« »Herr,«

entgegnete der Mann, »ich verstehe viel von jener

Wissenschaft, die man Astrologie nennt, ich kenne

den Lauf der Fixsterne und Planeten und weiß wohl,

daß das Kind, wenn es zu unrechter Stunde geboren

wird, ein grausamer Tod erwartet.« »Sage mir,«

sprach der Kaiser, »was dir die Sterne künden!« »So

wisset, Herr, daß dieser neugeborene Knabe dereinst

die Kaiserstochter, welche vor acht Tagen das Licht

erblickte, heiraten wird, und er wird Kaiser und Herr

dieser Stadt und der ganzen Welt werden.« Darauf

ging der Kaiser mit dem Ritter weiter, und er befahl

seinem Begleiter, das Kind heimlich wegzunehmen,

so daß es niemand bemerke. Der Ritter ging in das

Haus, wo gerade zwei Frauen mit der Wartung der

Wöchnerin beschäftigt waren, während das Kind in

Tüchlein gewickelt auf einem Sessel lag. Der Ritter

ergriff das Kind, legte es auf eine Schüssel und brachte

es dem Kaiser, ohne daß man es merkte. Da ließ

der Kaiser mit einem Messer den Leib des Knäbleins

vom Magen bis zum Nabel aufschneiden, und er sagte

zu seinem Begleiter, nun würde dieser Hundesohn

seine Tochter nicht mehr heiraten und nicht mehr Kaiser

werden. Darauf wollte der Kaiser dem Kinde das

Herz aus dem Leibe reißen, aber der Ritter wehrte es

ihm und sprach: »Herr, um Gottes willen, was wollt

Ihr tun? Das schickt sich nicht für Euch, und wenn

man es erführe, würde man Euch tadeln. Laßt ihn nur,

er ist mehr als tot. Wenn Ihr aber wollt, daß noch ein

übriges geschehe, so will ich ihn ins Meer werfen und

ertränken.« »Ja,« sprach der Kaiser, »werft ihn hinein,

denn ich hasse ihn über die Maßen.« Der Ritter wikkelte

das Kind in eine seidene Decke und trug es zum

Meere. Als er aber am Ufer stand, fühlte er Mitleid

mit dem Kinde und sagte, es solle nicht ertränkt werden;

er ließ es also in seiner Hülle auf einem Misthau-

fen vor dem Tore eines Mönchsklosters liegen, in

welchem die Mönche gerade ihre Morgenmesse sangen.

Als die Mönche ihren Gottesdienst beendet hatten,

fanden sie das schreiende Kind und trugen es zu

ihrem Abt. Dieser sah, daß es ein schöner Knabe war

und beschloß, es aufzuziehen. Er ließ es auskleiden

und gewahrte, daß sein Leib vom Magen bis zum

Nabel gespalten war. Daher ließ er, als es Tag geworden

war, die Ärzte rufen und fragte sie, um wieviel

Gold sie das Kind heilen wollten. Sie forderten hundert

Byzantinermünzen. Darauf ließ der Abt das Kind

taufen und nannte es Constans, weil es soviel gekostet

hatte. Die Ärzte aber bemühten sich so lange um das

Kind, bis es geheilt war, denn sein zartes Fleisch

wuchs bald wieder zusammen, wenn auch die Narbe

blieb. Der Abt ließ den Knaben von einer Amme ernähren

und dieser wuchs heran und gelangte zu großer

Schönheit. Mit sieben Jahren schickte ihn der Abt in

die Schule und bald übertraf er seine Gefährten an

Fleiß und Wissen. Da der Abt bemerkte, wie stattlich

der Knabe heranreifte, ließ er ihn auf allen seinen Reisen

mit sich reiten. Einst geschah es, daß der Abt von

Amts wegen eine Unterredung mit dem Kaiser hatte,

welcher gerade auf einem Schlosse außerhalb der

Stadt verweilte. Der Abt begab sich mit seinen Kaplänen,

seinen Schildknappen und seinem Gefolge dort-

hin, und auch Constans befand sich darunter. Während

der Abt mit dem Kaiser redete, mußte ihm der

Jüngling seinen Filzhut halten. Der Kaiser betrachtete

den Knaben und bemerkte, daß er so schön war, wie

er nie zuvor einen gesehen hatte. Er fragte den Abt

nach der Herkunft des Kindes, und dieser erzählte,

wie es die Mönche vor fünfzehn Jahren mit zerschnittenem

Leib auf dem Miste liegend gefunden hätten.

Als der Kaiser dieses hörte, da wußte er, daß er der

Knabe sei, dem er einst den Bauch gespalten hatte,

um sein Herz herauszureißen, und er bat den Abt, er

möge ihm den Burschen überlassen. Der Abt antwortete,

er müsse zuerst den Konvent befragen, dann

solle er ihn gern haben. Die Mönche rieten, man

möge den Knaben nur schnell dem Kaiser schicken,

damit er sich nicht erzürne. Nach kurzer Zeit wurde

der Jüngling also dem Kaiser überliefert und dieser

empfing ihn voll Zorn, daß solch ein hergelaufener

Landstreicher seine Tochter heiraten solle; er überlegte

aber in seinem Herzen, wie er ihn mit List aus der

Welt schaffen könne, ohne daß es ruchbar würde.

Der Kaiser hatte um diese Zeit an den Grenzen seines

Landes zu tun, er nahm Constans mit sich, und

als sie am Ziele waren, schrieb er folgenden Brief an

den Burggrafen von Byzanz: »Ich, der Kaiser von Byzanz

und Herr von Griechenland, tue zu wissen, daß

der, welcher an meiner Statt das Reich beschützt, so-

bald er diesen Brief zu Gesicht bekommt, den Überbringer

desselben auf der Stelle tötet oder töten läßt,

so ihm sein Leben lieb ist.« Solches stand in dem

Briefe zu lesen, den Constans nach Byzanz tragen

mußte, doch dieser wußte nicht, daß er seinen Tod

trug. Der Jüngling nahm also den verschlossenen

Brief, machte sich auf den Weg und gelangte nach

vierzehn Tagen in die Hauptstadt. Als er durch das

Tor ritt, war es gerade Mittagszeit, und er dachte bei

sich, er wolle mit dem Überbringen des Briefes warten,

bis der Burggraf gespeist hätte. Und da es gerade

um St. Johannis und sehr heiß war, so trat er in einen

Garten, ließ sein Roß weiden und legte sich in den

Schatten eines Baumes, wo er alsbald einschlummerte.

Es geschah aber, daß die schöne Kaiserstochter, als

sie vom Mahle aufgestanden war, selbviert mit ihren

Gefährtinnen in den Garten ging, und sie begannen

einander zu haschen, so wie die Mägdlein es bisweilen

der Kurzweil halber zu tun pflegen. Dabei gelangte

sie zu dem Baume, unter welchem Constans schlief,

und seine Wangen leuchteten purpurn wie Rosen. Als

die Jungfrau ihn erblickte, betrachtete sie ihn mit

Wohlgefallen und glaubte, daß sie nie in ihrem Leben

ein so schönes Menschenbild gesehen habe. Dann rief

sie ihre Vertraute und hieß die anderen den Garten

verlassen. Die schöne Kaiserstochter nahm ihre Ge-

spielin bei der Hand und führte sie dahin, wo der

Schläfer lag. »Siehe,« sprach sie, »das ist der schönste

Jüngling, den ich jemals sah, und er trägt einen

Brief. Ich wüßte gar zu gern, was darin geschrieben

steht.« Die beiden Mägdlein näherten sich dem Burschen

und nahmen ihm seinen Brief fort, den die Kaiserstochter

sofort aufbrach. Als sie ihn aber gelesen

hatte, begann sie zu weinen und sagte: »Das sind

traurige Sachen! Aber wenn ich wüßte, daß du

schweigen kannst, so würde ich diese traurige Nachricht

in eine freudige verwandeln.« Die Gespielin

mußte schwören, daß sie nichts ausplaudern wollte,

und dann nahm die Kaiserstochter ein Pergament, auf

dem das kaiserliche Siegel eingeprägt war und schrieb

wie folgt: »Ich, König Moslin, Kaiser von Griechenland

und Herr der Stadt Byzanz entbiete meinem

Burggrafen Gruß. Ich befehle Euch, daß Ihr dem

Überbringer dieses Briefes meine schöne Tochter unverzüglich

nach unserer Sitte zur Gattin gebt, denn

ich habe für wahr erfahren, daß er von hohem Range

ist und durchaus würdig, meine Tochter zu ehelichen.

Die ganze Stadt und das ganze Land soll feiern und es

sich wohlergehen lassen.« So schrieb die Kaiserstochter,

und als sie fertig war, ging sie wieder in den Garten

und schob den Brief in die Kapsel des schlafenden

Boten. Darauf begann sie mit ihren Gespielen zu singen

und zu lärmen, um ihn zu erwecken. Er erwachte

alsbald und erschrak, als er sich von den Mägdlein

umringt sah, die Kaiserstochter aber begrüßte ihn

freundlich und fragte ihn, wohin er wolle. Sie erbot

sich alsdann, ihn zum Burggrafen zu geleiten und

führte ihn an der Hand ins Schloß, wo viele Leute

versammelt waren, die sich alle von ihren Sitzen erhoben.

Sie trat mit dem Jüngling in das Gemach des

Burggrafen, öffnete die Kapsel und küßte Brief und

Siegel ihres Vaters. Darauf zog sie sich mit dem

Burggrafen in ein Nebenzimmer zurück, entfaltete den

Brief und las ihn dem Burggrafen vor, dabei tat sie,

als ob sie über die Maßen erstaunt wäre. »Herrin,«

sagte der Graf, »wir müssen den Willen Eures gnädigen

Vaters erfüllen, sonst werden wir gar sehr getadelt

werden.« »Oho,« erwiderte die Jungfrau, »wie

kann ich in Abwesenheit meines Vaters verheiratet

werden? Das wäre doch sonderbar und ich bin ganz

und gar nicht damit einverstanden!« »Euer Vater befiehlt

so,« sagte der Graf, »da gibt es keine Widerrede!

« Dann besprach sich der Burggraf mit den Baronen

und zeigte ihnen den Brief, sie aber rieten alle,

daß der Befehl des Kaisers alsogleich vollzogen

werde. So heiratete also der Jüngling die Kaiserstochter

und die Hochzeit dauerte vierzehn Tage; es

herrschte große Freude in Byzanz, und in der ganzen

Stadt tat man nichts als essen, trinken und Kurzweil

treiben.

Der Kaiser blieb lange fern, als er aber sein Geschäft

beendet hatte, kehrte er in die Hauptstadt zurück.

Als er auf zwei Tagereisen herangekommen

war, kamen ihm Boten aus der Stadt entgegen, die

fragte er, wie es drinnen stehe. Da sagten sie ihm, daß

es nichts gebe als Freude und Kurzweil. »Warum

das?« fragte der Kaiser. »Warum, Herr? Wißt Ihr

denn das nicht?« »Ich weiß von nichts, so rede doch!«

Da berichtete der Bote, was sich in der Abwesenheit

des Kaisers zugetragen habe. Dieser erschrak und

fragte, wieviel Zeit schon seit der Hochzeit verstrichen

sei. »Herr,« sagte der Bote, »es ist möglich, daß

Eure Tochter schon schwanger ist, denn er hat sie

schon vor mehr als drei Wochen geheiratet.« »Da es

sich nun einmal so verhält,« versetzte der Kaiser, »so

müssen wir es hinnehmen, zumal da wir nichts mehr

daran ändern können.« Und als er in die Stadt kam,

legte er seine Hände auf das Haupt seiner Kinder und

segnete sie, dann ließ er seinen Schwiegersohn zum

Ritter schlagen und vermachte ihm nach seinem Hinscheiden

sein ganzes Reich.

Amicus und Amelius

In einem deutschen Schlosse wurde zur Zeit des Frankenkönigs

Pippin, einem edlen und frommen Ritter,

ein Sohn geboren. Weil das Kind ihr einziges war, so

versprachen die Eltern Gott und dem heiligen Petrus

und Paulus, sie wollten es in Rom vom Papste taufen

lassen, wenn sie am Leben blieben. Zur selben Zeit

hatte der Graf von Antwerpen ein Gesicht während

der Schwangerschaft seiner Frau, in welchem er sah,

wie der Heilige Vater in Rom viele Kindlein taufte

und im Glauben stärkte. Diesen Traum deutete man

ihm dahin, daß er einen Sohn bekommen werde, den

er vom Papste taufen lassen müsse. Das Kind wurde

geboren und mit Sorgfalt auferzogen, als es aber zwei

Jahre alt war, da trug es sein Vater nach Rom. In der

Stadt Lucca traf er den deutschen Ritter, welcher zum

gleichen Zwecke nach Rom zog, und sie taten sich zusammen;

die Kindlein aber schlossen innige Freundschaft

und aßen und schliefen miteinander. Die Knaben

wurden in der Kirche des Heilandes vom Papste

getauft und der Grafensohn erhielt den Namen Amelius,

während der Ritterssohn Amicus genannt wurde.

Nach der heiligen Handlung ließ der Papst zwei mit

Gold und Edelsteinen verzierte Holzbecher bringen,

welche einander völlig gleich waren, die gab er den

Kindern und sprach: »Nehmt diese Gabe zur Erinnerung

daran, daß ich euch in der Kirche des Heilandes

getauft habe!« Dann kehrten die Eltern wieder voll

Freude heim, jeder in sein Land.

Dem deutschen Ritterssohn gab Gott große Weisheit,

und als er das Mannesalter erreicht hatte, da raffte

ein Fieber seinen Vater hinweg. Nach dem Tode

des Vaters taten ihm seine Neider aus Haß mancherlei

Unrecht, doch er trug geduldig, was man ihm antat.

Schließlich trieben sie es so weit, daß sie ihn samt

seinen Getreuen vom väterlichen Erbe verjagten, und

er sprach zu seinen Begleitern: »Aus Haß haben mich

meine Neider von meinem Erbe vertrieben, aber ich

baue auf die Hilfe Gottes. Gehen wir an den Hof des

Grafen Amelius, der mein Freund und Gefährte

wurde. Dieser wird uns mit seiner Habe reich machen.

Tut er das nicht, so ziehen wir zu Hildegard, der Königin

und Gattin des Frankenkönigs Karl, welche gewöhnlich

die Enterbten unterstützt.« Sie begaben sich

also an den Hof des Grafen, doch sie fanden ihn nicht,

denn er war nach Deutschland gegangen, um seinen

Freund über den Tod des Vaters zu trösten. Als der

Graf denselben nicht antraf, ging er voll Unmut fort

und beschloß, nicht eher heimzukehren, bis er seinen

Gefährten Amicus gefunden habe. Ebenso suchte dieser

seinerseits den Grafen ohne Unterlaß. Dabei kam

er mit seinen Begleitern in das Haus eines Edelman-

nes, wo er beherbergt und bewirtet wurde. Der Edelmann

aber sagte zu den Getreuen des Ritters: »Bleibt

bei mir, ihr Herren, ich will eurem Herrn um seiner

großen Weisheit willen meine Tochter geben und

euch alle will ich reich an Gold und Gut machen.«

Dieser Rat gefiel ihnen und sie feierten mit großen

Festen die Hochzeit des Amicus.

Als sie ein Jahr und ein halbes dort verweilt hatten,

sprach Amicus zu seinen Getreuen: »Wir haben übel

gehandelt, daß wir es solange unterlassen haben,

Amelius zu suchen.« Und er ließ zwei seiner Gefolgsleute

und seinen Becher zurück und machte sich auf

gen Paris. Der Graf aber hatte Amicus ohne Unterlaß

zwei Jahre lang gesucht und zog gleichfalls nach

Paris. Auf dem Wege dorthin traf er einen Pilger, den

fragte er nach Amicus, dem Landflüchtigen. Obwohl

ihm der Pilger keine Auskunft geben konnte, schenkte

er ihm doch seinen Mantel und bat ihn, für den Erfolg

seines Suchens zu beten. Am nämlichen Abend traf

Amicus den Pilger und fragte ihn nach dem Grafensohn

von Antwerpen. »Spottet Ihr meiner,« sprach da

der Pilger voll Unmut, »Ihr selbst seid doch Amelius

und habt mich erst heute nach Eurem Gefährten Amicus

gefragt!« So ähnlich sahen die Freunde einander.

Am anderen Morgen war Amelius wieder von Paris

aufgebrochen und saß mit seinen Rittern in einer blühenden

Wiese am Seinefluß beim Mahl. Als sie aber

Amicus mit seinen bewaffneten Begleitern heranreiten

sahen, da sprangen sie auf, waffneten sich und ritten

ihnen entgegen. Indessen sprach Amicus zu seinem

Gefolge: »Ich sehe fränkische Ritter, welche in Waffen

auf uns zukommen. Kämpft tapfer und verteidigt

euer Leben!« Dann gingen beide Teile mit gefällten

Lanzen und entblößten Schwertern aufeinander los,

aber ehe sie zusammenprallten, fügte es Gott, daß sie

ihre Rosse anhielten. »Wer seid Ihr, Ritter,« sprach

Amicus, »da Ihr Amicus, den Verbannten, und seine

Begleiter töten wollt?« Jetzt erkannte Amelius seinen

Gefährten und gab sich ihm zu erkennen. Sie stiegen

beide vom Rosse, umarmten einander und dankten

Gott, daß er sie endlich zusammengeführt habe. Darauf

gingen sie an den Hof des Frankenkönigs Karl;

dieser empfing sie freundlich und machte Amicus zu

seinem Schatzmeister, Amelius aber zu seinem Seneschall.

Nach dreijährigem Aufenthalt am Hofe zu Paris

sprach Amicus eines Tages zu seinem Freund: »Lieber

Gefährte, mich verlangt danach, meine Frau zu

besuchen, welche ich daheim zurückließ. Ich werde

zurückkehren, sobald ich es vermag. Bleibe du am

Hofe, aber hüte dich, die Königstochter zu berühren

und nimm dich vor dem treulosen Ardri in acht!«

Aber als Amicus fort war, warf Amelius seine Augen

auf die schöne Königstochter und vergaß das Gebot

seines Gefährten. Und das war nicht weiter merkwürdig,

denn er war weder heiliger als David noch weiser

als Salomo. Unterdessen kam der treulose Ardri, der

ihn beneidete, zu ihm und sprach: »Du weißt also

nicht, daß Amicus geflohen ist, weil er den Schatz des

Königs bestohlen hat?« So drängte er sich an ihn, daß

Amelius mit ihm Freundschaft schloß und ihm sein

Geheimnis enthüllte. Eines Tages, als der Graf dem

König das Wasser zum Händewaschen reichte, sprach

der falsche Ardri zu Karl: »Nehmt kein Wasser von

diesem Schurken, mein Herr und König, denn er ist

des Todes mehr wert als des Lebens, weil er der Königstochter

die Blüte der Jungfrauschaft genommen

hat.« Bei diesen Worten des Verräters fiel Amelius

zitternd zu Boden und konnte kein Wort hervorbringen.

Der König jedoch hob ihn wohlwollend auf und

sprach: »Erhebe dich, Amelius und fürchte dich nicht,

sondern verteidige dich gegen diesen Vorwurf!« Da

erhob sich der Graf und sprach: »Mein Herr und

König, glaubt nicht den Lügen des falschen Ardri. Ich

weiß, daß Ihr ein gerechter Richter seid, darum bitte

ich Euch, mir Frist zu gewähren, daß ich mich mit

meinen Freunden beraten kann. Dann will ich mich

gegen diesen Vorwurf verteidigen und mit dem Verräter

vor dem ganzen Hofe kämpfen.« Der König gewährte

beiden eine Frist bis zum Abend, und als die

Frist abgelaufen war, da wies Ardri einen Grafen Her-

bert vor, der für ihn bürgen wollte, aber Amelius fand

keinen Fürsprecher. Er bat daher um eine neue Frist

und sie wurde ihm auf Bitten der Königin gewährt,

doch unter der Bedingung, daß Hildegard für immer

vom Bette ihres Gemahls geschieden bleiben sollte,

wenn Amelius nicht rechtzeitig zurückkehrte, denn sie

schien mitschuldig an dem begangenen Unrecht.

Amelius ritt aus der Stadt und traf auf seinen Freund,

welcher gerade an den Hof zurückkehren wollte. »Ich

habe dein Gebot schlecht befolgt,« sprach er zu ihm,

»denn ich habe mich der Königstochter wegen dem

Tadel ausgesetzt und habe einen Zweikampf gegen

den treulosen Ardri angenommen.« »Tauschen wir

unser Gewand!« erwiderte Amicus, »du gehst in mein

Haus und ich will für dich gegen den Verräter Ardri

kämpfen.« Sie tauschten ihre Kleider und ihre Rosse,

und Amicus ging in der Gestalt des Amelius an den

Königshof, während letzterer in der Gestalt des Gefährten

in dessen Haus zog. Als das Weib des Amicus

ihren vermeintlichen Gatten zurückkommen sah, da

lief sie ihm entgegen und wollte ihn umarmen, er aber

stieß sie von sich und sprach, er trage Kummer im

Herzen. Abends bestiegen sie das gemeinsame Lager,

aber Amelius legte sein Schwert zwischen sich und

die Frau und sprach zu ihr: »Hüte dich, mich anzurühren,

sonst stirbst du von diesem Schwert!«

Der für den Zweikampf angesetzte Zeitpunkt war

gekommen und die Königin erwartete Amelius mit

Ungeduld. Schon frohlockte der Verräter, da trat Amicus

in der Gestalt seines Gefährten vor den König und

sprach: »Gerechter Richter, ich bin bereit, gegen den

falschen Ardri zu kämpfen, um mich, die Königin und

ihre Tochter von dem Makel, mit dem man uns befleckt

hat, zu reinigen.« »Wenn du im Kampfe siegst,

Graf,« sagte der König, »so werde ich dir meine

Tochter zur Frau geben.« Am andern Tage traten

Amicus und Ardri bewaffnet in die Schranken in Gegenwart

des Königs und des gesamten Hofes. Die Königin

aber und ihre Frauen beteten für den Kämpfer

der Königstochter. Darauf schwur Ardri, daß sein

Gegner die Königstochter geschändet habe, dieser

aber schwur dawider, er habe sie nie berührt. Sie

kämpften von der dritten bis zur neunten Stunde, dann

wurde Ardri besiegt und Amicus hieb ihm das Haupt

ab. Der König freute sich, daß seine Tochter von diesem

Vorwurf gereinigt war und er gab sie dem Sieger

nebst vielem Silber und Gold und einer Stadt am

Meer, in welcher sie wohnen sollten. Amicus ritt zu

seinem Weibe und Amelius feierte Hochzeit mit der

Königstochter und zog mit ihr in jene Stadt am Meer.

Bald darauf geschah es mit Zulassung Gottes, daß

Amicus aussätzig wurde und das in solchem Grade,

daß er sein Lager nicht mehr verlassen konnte, denn

Gott züchtigt, wen er liebt. Sein Weib begann ihn zu

hassen und suchte ihn zu erdrosseln, daher rief Amicus

zwei seiner Diener zu sich und sprach: »Nehmt

mich von meiner Frau fort, packt meinen Becher ein

und bringt mich auf mein Schloß in Deutschland!«

Als sie aber dorthin kamen, trieb man sie mit Schlägen

von hinnen. Nun bat Amicus Gott um den Tod

und befahl seinen Dienern, ihn nach Rom zu führen.

Dort verweilten sie der Jahre drei, dann aber brach in

Rom Hungersnot und Seuche aus und die Diener

wollten nicht mehr bei ihrem Herrn verharren. Da bat

sie dieser, sie sollten ihn in jene Stadt tragen, wo

Amelius wohnte. Vor dem Hause des Grafen begann

Amicus mit seiner Klapper zu schlagen, wie es die

Sitte der Aussätzigen ist. Als Amelius den Ton hörte,

befahl er seinem Diener, dem Kranken Brot und

Fleisch zu bringen und einen Becher Wein. Der Diener

kam zurück und sprach: »Bei Gott, Herr, wenn

ich Euren Becher nicht in der Hand hielte, so würde

ich glauben, der Kranke hätte ihn genommen, so ähnlich

sah ihm der seinige.« Sogleich ließ Amelius den

Kranken hineinführen und erkannte seinen Freund,

welcher ihn vor dem Tode gerettet und ihm die Königstochter

verschafft hatte. Man bettete den Kranken

auf ein weiches Lager, und er blieb bei ihnen, und sie

pflegten ihn, bis Gott seinen Willen an ihm ergehen

ließe.

Eines Nachts lagen Amicus und Amelius in einer

Kammer, da schickte Gott seinen Engel Rafael zu

Amicus und hieß ihn reden wie folgt: »Amicus,

schläfst du?« Jener glaubte, sein Gefährte rede zu

ihm, und er erwiderte: »Ich schlafe nicht, mein

Freund!« »Mit Recht nennst du dich Freund der

Himmlischen,« hub der Engel wieder an, »denn du

gleichst Job und Tobias an Geduld. Wisse, ich bin

Rafael, der Engel des Herrn, der mich sendet, dir das

Heilmittel für dein Leiden zu verkünden, denn er hat

dein Gebet erhört. Du sollst Amelius, deinem Gefährten,

sagen, er möge seine beiden Kinder töten und

dich mit ihrem Blute waschen, auf daß du die Gesundheit

des Leibes wiedererlangst!« Nach diesen

Worten verschwand der Engel, Amelius aber hatte im

Schlaf die Worte gehört, er erwachte und sprach:

»Wer hat mit dir geredet?« »Niemand,« versetzte

Amicus, »ich habe nach meiner Gewohnheit zu Gott

gebetet.« »Das war es nicht, sondern es hat jemand zu

dir gesprochen!« Nun erzählte der Kranke dem Freunde

unter Tränen, was der Engel von ihm verlangt

habe. Der Graf war zuerst zwar unmutig und erschrocken,

dann aber bedachte er bei sich, wie Amicus

einst an seiner Statt am Königshofe dem Tode getrotzt

habe, und er beschloß, ihn zu retten. Sobald

seine Gemahlin in die Frühmesse gegangen war,

nahm er sein Schwert und trat in die Kammer, in der

die Kinder schliefen. Er warf sich über sie und sprach

weinend: »O, meine Kinder, ich bin Euer Vater nicht

mehr, sondern Euer Mörder!« Die Kinder erwachten

von den Tränen ihres Vaters und lächelten ihn an. Er

aber hieb ihnen die Köpfe ab und wusch seinen

Freund mit ihrem Blute. Da wurde Amicus von der

Miselsucht geheilt und die Freunde gingen in den

Dom, um Gott zu danken, und die Glocken begannen

von selbst zu läuten. Die Gräfin war freudig erstaunt,

als sie den Gast gesund sah, sie ließ ihn in prächtige

Gewänder hüllen und dann setzten sie sich zum Mahl.

Um die dritte Stunde wollte die Gräfin ihre Kinder

sehen, um mit ihnen zu scherzen, doch der Gatte

wehrte es ihr und sprach: »Laß die Kinder schlafen,

Frau!« Und er schlich sich allein in ihre Kammer, um

über ihren Leichen zu weinen. Aber siehe: sie lagen

gesund im Bett und lachten ihm entgegen. Nur die

Schnittstelle wand sich rings um den Hals wie ein

roter Faden. Da nahm sie der Graf auf den Arm und

trug sie zu ihrer Mutter: »Freut Euch, Frau, denn Eure

Kinder, die ich auf das Gebot des Engels getötet

hatte, sind am Leben, und von ihrem Blut ist Amicus

geheilt!«


Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten

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