Читать книгу Das einfache Leben - Ernst Wiechert - Страница 10

2

Оглавление

Tho­mas war eine Nacht und einen hal­b­en Tag ge­fah­ren, als er an der klei­nen Hal­te­stel­le aus­stieg. Er hol­te sein Fahr­rad aus dem Ge­päck­wa­gen, sah hin­ter dem Bahn­hofs­ge­bäu­de ein­mal in sei­ne Kar­te, mach­te den Ruck­sack fest und fuhr die bir­ken­ge­säum­te Stra­ße hin­un­ter, den Wäl­dern zu, die blau und groß im Sü­den die Welt ver­schlos­sen. Ob­wohl das Land nicht un­ähn­lich sei­ner mär­ki­schen Hei­mat war, schi­en es ihm doch, als sei er in der Nacht über frem­de und rie­si­ge Strö­me ge­fah­ren und als sei dies hier kei­ner Erde zu ver­glei­chen, die er wäh­rend sei­nes Le­bens be­tre­ten hat­te.

In­des er fast ge­räusch­los da­hing­litt, von ei­nem sanf­ten seit­li­chen Win­de je nach der Bie­gung der Stra­ße ge­hin­dert oder ge­trie­ben, ver­such­te er zu er­grün­den, wes­halb sein Atem leicht zu ge­hen schi­en in die­ser Land­schaft, ob­wohl sie doch im ers­ten An­schau­en streng, weit und nicht ohne Düs­ter­keit sich ihm dar­bot. Er be­merk­te, dass die Luft rau­er ging, dass Wachs­tum und Feld­be­stel­lung ge­gen sei­ne Hei­mat weit zu­rück­ge­blie­ben wa­ren, dass Häu­ser und Dör­fer ärm­li­cher, fast lieb­lo­ser in den um­ge­ben­den Raum ge­bet­tet wa­ren. Doch schie­nen wie­der­um Stra­ßen und Pfa­de men­schen­lee­rer, al­les Gerät ein­fa­cher und ver­brauch­ter, ja auch alle An­sprü­che be­schei­de­ner, als ob die Erde noch un­be­ding­ter hier herr­sche, den For­de­run­gen des Men­schen noch wi­der­wil­li­ger ver­schlos­sen als in an­de­ren Be­zir­ken des Rei­ches, und als ob der Mensch hier mehr auf ei­ge­ner Kraft und im eig­nen In­ne­ren be­ru­hen müs­se, ohne die ge­dan­ken­lo­se Un­ter­stüt­zung der Mas­se, die ihm wo­an­ders, zu­mal in den Städ­ten, so leicht und so ver­häng­nis­voll zu­fal­le.

Doch schi­en ihm vor al­lem der Him­mel über alle Ma­ßen groß und ge­wal­tig. Ge­schwa­der von Wol­ken zo­gen ru­he­voll an sei­ner Wöl­bung ent­lang, aber selbst sie mü­he­los ge­ord­net in dem un­er­mess­li­chen Raum, und ihre schwe­ren Schat­ten stie­ßen sich nir­gends auf den noch bräun­li­chen Fel­dern. Auf den Hü­geln der Äcker stan­den ein­zel­ne Bäu­me, das Ast­werk ohne Hin­der­nis aus­ge­brei­tet oder von im­mer we­hen­den Win­den nach ei­ner Sei­te ge­beugt, und da sie fast alle ohne Hin­ter­grund vor dem lee­ren Him­mels­raum stan­den, so tru­gen die Fel­der in al­ler Karg­heit ein Ge­sicht des Stol­zes, als lä­gen sie noch da wie zu Be­ginn der Schöp­fung und nie­mals sei an­de­res als Wind oder Re­gen oder eine küh­le Son­ne über sie hin­ge­gan­gen.

Auch der Schrei der Vö­gel dünk­te ihn hel­ler und wil­der zu sein, und nir­gends glaub­te er so vie­le Raub­vö­gel ge­se­hen zu ha­ben, die spä­hend über den Fel­dern hin­gen oder in Krei­sen sich un­ter die Son­ne scho­ben. Doch ver­knüpf­te ihr Bild sich ihm im­mer mehr mit der Er­schei­nung der großen Wäl­der, de­nen er zu­fuhr und die ihm als die ei­gent­li­che Hei­mat al­les des­sen er­schie­nen, was sich hier spie­lend oder beu­te­su­chend un­ter dem Him­mel be­weg­te.

Kam er so auch nicht zu der ge­wünsch­ten Klar­heit sei­ner Ge­dan­ken und blieb die Ur­sa­che sei­nes Ge­fühls der Frei­heit ihm im Letz­ten noch ver­bor­gen, so nahm er doch mit Be­glückt­heit war, dass sein gan­zes We­sen vor­wärts ge­wen­det war. be­strebt, Kom­men­des und Neu­es in sich auf­zu­neh­men, und dass die grü­beln­den Ge­dan­ken der letz­ten Tage, ja noch der Nacht­fahrt wie ein Ne­bel hin­ter ihm ver­flo­gen wa­ren.

In­des­sen wuchs das Ge­sicht der Wäl­der im­mer nä­her und deut­li­cher in ihm auf, und es war ihm, als sei dort ei­gent­lich erst das ver­bor­gen, was den Sinn der Land­schaft aus­ma­che und dazu auch das, was zu su­chen er aus­ge­zo­gen sei.

Von fer­ne schon war zu er­ken­nen, dass der schwei­gen­de Ernst die­ses Rau­mes dort nicht von ei­ner Hei­ter­keit der Form ab­ge­löst wer­den wür­de, ja dass viel­mehr mit dem Zu­rück­blei­ben von Dorf, Feld und Ge­hölz sich al­les in eine ein­zi­ge, ge­sam­mel­te Er­schei­nung zu­rück­zie­hen wür­de, an Grö­ße nur dem Mee­re oder dem Hoch­ge­bir­ge zu ver­glei­chen, und nicht nur an Grö­ße, son­dern eben auch an Schwe­re und auf­ru­fen­der Ein­sam­keit.

Schon jetzt sah er die Gerad­heit grau­er, sehr ho­her Stäm­me, ohne Un­ter­bre­chung ne­ben­ein­an­der­ge­stellt, ohne Zier­lich­keit ver­bin­den­der Li­ni­en, und dar­über den lei­se ge­well­ten Saum der Wip­fel, ab­ge­run­det wie die Form des Gra­nits im Ur­ge­bir­ge. Zwar er­blick­te er, je nä­her er kam, ver­mit­teln­de Ein­zel­hei­ten, Fich­ten­scho­nun­gen etwa, die ei­nem in die Tie­fe ge­sun­ke­nen Wald­stück von fer­ne gli­chen, einen Weiß­bu­chen­hain oder einen Hang mit jun­gen Bir­ken, zwi­schen de­nen der Wa­chol­der dun­kel stand, aber gleich schloss die graue Wand sich wie­der zu und tat sich nur aus­ein­an­der, um die Stra­ße hin­ein­zu­las­sen, auf­zu­neh­men und gleich­sam so­fort zu be­gra­ben.

Hier war es na­tür­lich, dass Tho­mas ab­stieg und von der ho­hen Bö­schung den Blick noch ein­mal zu­rück­wen­de­te. Er saß auf ei­nem Baum­stumpf, um den schon die blau­en Ster­ne der Le­ber­blüm­chen stan­den, stopf­te lang­sam sei­ne kur­ze Pfei­fe, und in­des der Rauch mit dem lei­sen Wind in das Holz hin­ter ihm zog, nahm er die eben durch­fah­re­ne Land­schaft noch ein­mal in sich auf, ru­hi­ger nun, auch grö­ßer viel­leicht, da der Weg sich lang­sam ge­ho­ben hat­te und nun vie­les ne­ben­ein­an­der lag, was vor­her Stück für Stück auf­ein­an­der­ge­folgt war.

Wie­der kam ihm das Lee­re des großen Rau­mes be­ru­hi­gend und be­glückend ins Be­wusst­sein, die sanf­te, lang aus­ho­len­de und ab­klin­gen­de Schwin­gung der Li­ni­en, die Ar­mut an Sied­lun­gen, die Stil­le der Luft und das un­end­lich Ge­spann­te des Ho­ri­zon­tes. Er ver­such­te sich vor­zu­stel­len, wie der Wech­sel der Jah­res­zei­ten dies Bild ver­än­dern wür­de, wie er selbst in die­sem Wech­sel be­ste­hen oder un­si­cher wer­den wür­de und ob die Fri­sche des ers­ten Ein­druckes auch er­hal­ten blei­ben wür­de, wenn er nun aus ei­nem Wan­de­rer zu ei­nem Be­woh­ner und aus ei­nem Be­trach­ten­den zu ei­nem Tä­ti­gen wür­de.

Doch er­schi­en ihm, auch so an­ge­se­hen, das vor ihm aus­ge­brei­te­te Bild von im­mer glei­cher Kraft und Tröst­lich­keit er­füllt, und als er sich nun gar auf sei­nem Sitz wen­de­te und der Blick durch die Viel­heit der Stäm­me in das In­ne­re des Wal­des ging, wo die Son­ne schma­le Brücken auf Moos und Blau­beer­kraut leg­te, wo rot­be­schie­ne­ne Stäm­me im­mer tiefer zu­rück­wi­chen in eine bläu­li­che Däm­me­rung und nur das Klop­fen des Spech­tes das Schwei­gen nicht zer­brach, son­dern tiefer mach­te: da glaub­te er, auf der Höhe ei­nes viel­ge­prüf­ten Le­bens noch ein­mal Frie­den und Glück der Kind­heit vor sei­nen Hän­den aus­ge­brei­tet zu se­hen, als gel­te es nur, ver­trau­end zu­rück­zu­keh­ren, um mit der Ruhe der Land­schaft auch al­les wie­der­zu­ge­win­nen, was da­mals hei­ter, leicht und un­ver­än­der­lich er­schie­nen war. Und wie­wohl er wuss­te, dass kei­ne Rück­kehr die­ser Art dem Men­schen ver­gönnt sei, dass viel­mehr je­des Al­ter sei­nen ei­ge­nen Frie­den zu ge­win­nen habe, so gab er sich doch wil­lig für eine Wei­le je­ner träu­me­ri­schen Rück­schau hin, wohl wis­send, dass die nächs­ten Tage schon ihm for­dernd ent­ge­gen­kom­men wür­den.

Noch ein­mal hielt er an die­sem Tage inne, als er von ei­ner der Wald­hö­hen aus zum ers­ten Mal rechts und links der Stra­ße zwei der großen Ge­wäs­ser sich aus­brei­ten sah, auf de­nen an je­nem ver­gan­ge­nen Abend bei der Dre­hung sei­nes Glo­bus sei­ne Bli­cke an­hal­tend ge­ruht hat­ten. An­ders war nun das wirk­li­che Bild, aber noch tiefer als da­mals kam ihm das Ge­fühl zu­rück, hier an der Gren­ze nicht nur des Rei­ches zu ste­hen. Was sich hier in die Wäl­der hin­ein dehn­te, blau, in den Buch­ten noch von grau­em Eise be­deckt, von brau­nen Rohr­flä­chen ge­säumt, vom kla­gen­den Ruf der Hau­ben­tau­cher über­hallt, schi­en ihm nach den bren­nen­den und dann ver­fins­ter­ten Jah­ren wie ein Land, das au­ßer al­lem Ge­sche­hen ge­blie­ben war, als sei es von Eis­ber­gen be­deckt ge­we­sen und nun erst in ma­kel­lo­ser und stren­ger Klar­heit wie­der ans Licht ge­stie­gen. Es er­schi­en ihm un­ähn­lich al­len an­de­ren Län­dern des Rei­ches, nicht wie ein Blatt, auf dem die Hand des Men­schen ge­schrie­ben, ge­stri­chen, ge­löscht und wie­der ge­schrie­ben hat­te, son­dern als ein Un­be­rühr­tes, auf dem ein An­fang ge­sche­hen könn­te, kei­ne Wie­der­ho­lung, Ver­bes­se­rung oder Be­rich­ti­gung, son­dern eben ein An­fang, eine ers­te Fur­che, und die Vö­gel un­ter dem Him­mel wür­den sich über ihr ver­sam­meln und zu­se­hen, was nun hier un­ter der Hand des Men­schen zum ers­ten Male ge­sch­ehe.

Er dach­te an sein Kind und wie es dort auf­wach­sen muss­te, be­hü­tet, aber in­mit­ten der Bil­der des Ver­falls und des Rau­sches; wie er es für ein paar Jah­re zu­rück­las­sen muss­te, aber wie er hier mit ihm ein­mal ste­hen woll­te, hier oder an ähn­li­cher Stel­le, um ihm zu zei­gen, wo­für man le­ben müss­te, über­all auf der Erde, wo die Men­schen sich noch Mühe ga­ben.

Um die Däm­me­rung erst kehr­te er ein, in ei­nem Wald­krug, den er an der Stra­ße fand und den auch sei­ne Kar­te an­ge­zeigt hat­te. Kaum in sei­nem Le­ben hat­te er Ar­mut und Ver­fall so nahe ge­se­hen, doch schi­en ihm das ers­te eine gute und nütz­li­che Ein­lei­tung zu die­ser Rei­se zu sein, die ja, wie er hoff­te, nicht nur eine Rei­se blei­ben soll­te. Und da er sein klei­nes Zim­mer sau­ber fand, mit dem frei­en Blick auf abend­li­che Scho­nun­gen, war er es al­les zu­frie­den und bat nur, bis zur Be­rei­tung des Es­sens am Feu­er in der Kü­che sit­zen zu dür­fen, was ihm nach ei­ni­gem Wi­der­stre­ben auch ge­währt wur­de.

Eine schweig­sa­me Frau schaff­te am Her­de, zwei Kin­der, ein Kna­be und ein Mäd­chen, in Joa­chims Al­ter etwa, sa­hen mit großen Au­gen von der Holz­bank aus ihm zu, in­des der Mann hin­ter dem Tisch ste­hen­blieb, den Rücken ge­gen das Fens­ter ge­wen­det, und erst auf be­son­de­ren Zu­spruch hin sei­ne Ar­beit an ei­nem klei­nen Netz wie­der auf­nahm, durch das er mit ei­ner höl­zer­nen Na­del neue Ma­schen zog. Er war ge­klei­det wie die Men­schen, die Tho­mas un­ter­wegs ge­se­hen hat­te, in hohe Stie­fel und hart­ge­web­tes grau­es Zeug, und auch in der Wär­me des Rau­mes hat­te er sein Hals­tuch nicht ab­ge­nom­men, das in zwei Zip­feln ihm über den Kra­gen hing. Die Ge­sich­ter schie­nen Tho­mas schwer, müde und gleich­sam schon von den großen Ebe­nen mit­ge­formt, die sich hin­ter die­sen Wäl­dern und Seen nach Asi­en hin er­streck­ten.

Ja, er sei zur See ge­fah­ren, sag­te Tho­mas auf die ers­te un­ge­schick­te Fra­ge hin, sein gan­zes Le­ben lang, als Steu­er­mann auf ei­nem großen Damp­fer. Aber da es nun da­mit zu Ende sei, es ihm auch in den en­gen Städ­ten nicht ge­fie­le, wo der Wind nur Staub und Pa­pier­fet­zen vor sich her­trei­be statt des sal­zi­gen Schau­mes der See, so habe er be­schlos­sen, sich in die­ser Land­schaft um­zu­tun, ob er nicht et­was wie eine Fi­sche­rei­pacht fän­de, von der man bei har­ter Ar­beit doch sein Brot habe und zum min­des­ten sein Es­sen, wenn das be­druck­te Geld schon im­mer schnel­ler in den Rauch­fang stie­ge.

Das kön­ne wohl mög­lich sein, mein­te der Mann lang­sam, und wenn er auch hier in der Ge­gend nichts wis­se, viel­mehr al­les in fes­ten Hän­den sei, so kön­ne er ihm doch hier und da einen Na­men an den Seen sa­gen, wo er Be­scheid und wohl auch Rat fin­den wer­de. Denn es sei viel Un­ru­he in der Land­schaft, nicht nur we­gen der Angst vor den Po­len, son­dern es sei über­all auch wie bei ih­nen selbst, dass die jun­gen Leu­te den Dienst auf­sag­ten, nicht nur, weil es ih­nen zu ein­sam sei, son­dern auch weil sie mein­ten, die Ar­beit wer­de nun ab­ge­schafft oder min­des­tens de­nen auf­ge­legt, die bis­her nach ih­rer Mei­nung nicht ge­ar­bei­tet hät­ten. So sei­en auch sie al­lein ge­blie­ben, und Knecht und Magd sei­en des We­ges ge­gan­gen, in die Haupt­stadt der Pro­vinz, wo sie nun wahr­schein­lich schon auf ei­nem gol­de­nen Thro­ne sä­ßen.

Nur ei­nes schei­ne ihm be­denk­lich, dass der Herr bei al­ler schwe­ren Ar­beit auf See doch so zar­te Hän­de be­hal­ten habe und dass es ihm viel­leicht nicht leicht fal­len könn­te, bei al­lem gu­ten Wil­len, an dem er nicht zweifle, dies har­te Hand­werk zu er­grei­fen.

Dar­über be­ru­hig­te ihn Tho­mas nun, schrieb sich auch die Na­men in sein Ta­schen­buch, die der Mann ihm nann­te, und bat schließ­lich, dass er zu­sam­men mit ih­nen hier in der Kü­che es­sen dürf­te, wo es warm sei, er ih­nen Mühe er­spa­re und er sich schließ­lich auch gleich zu Be­ginn an die Welt ge­wöh­ne, in der er doch nun sich ein­rich­ten wol­le.

Beim Es­sen, vor dem die Frau ein Ge­bet ge­spro­chen hat­te, er­fuhr er, dass sie ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft an­ge­hör­ten, die in der Ge­gend weit ver­brei­tet sei, dass sie mit Sor­gen auf den Gang der Zeit blick­ten und ei­ni­ge von ih­nen so­gar der Mei­nung sei­en, dass die Ge­sich­te des hei­li­gen Jo­han­nes sich nun bald er­fül­len wür­den.

Dem wi­der­sprach nun Tho­mas, mein­te, dass das deut­sche Volk auch aus die­sen Zei­ten der Wirr­nis sich wie­der­auf­rich­ten wer­de, und be­rich­te­te auch von sei­nem Be­such bei dem Pfar­rer, der ihn recht ei­gent­lich auf die­sen Weg ge­bracht habe und bei dem er wie­der ge­lernt habe, wie ge­fähr­lich es sei, gan­ze Klas­sen oder Stän­de oder Be­ru­fe leicht­hin ab­zu­ur­tei­len, da wir ja doch nie mehr als ein­zel­ne Men­schen un­ter ih­nen kenn­ten.

Dann ging das Ge­spräch auf sei­ne Fahr­ten und die See­schlach­ten des Krie­ges und wie­der zu­rück zu Schick­sa­len und Ge­bräu­chen die­ser Land­schaft, in­des sie ihre kur­z­en Pfei­fen rauch­ten, die Frau ihr Strick­zeug in den Hän­den hielt und die Kin­der atem­los auf sei­ne Rede lausch­ten, als sei Sind­bad der See­fah­rer aus den ver­trau­ten Kie­fern­wäl­dern auf­ge­stan­den, um sei­nen Glanz über ihr Le­ben zu le­gen.

Und als Tho­mas ih­nen gute Nacht bot und die schma­le Trep­pe zu sei­nem Schlaf­raum hin­auf­stieg, ein Licht in der Hand, schi­en das Gan­ze ihm als ein schö­nes Tor zu sei­ner neu­en Welt, voll gu­ter Vor­be­deu­tung und von al­lem Ge­wohn­ten und Ver­gan­ge­nen wie durch Jahr­zehn­te ge­schie­den.

Im­mer tiefer nahm das Land ihn nun auf. Tag für Tag fuhr er an den Seen ent­lang und von Dorf zu Dorf, mit­un­ter ver­wei­lend, wenn ihn et­was zu hal­ten schi­en. Die Wit­te­rung wech­sel­te in den Zei­ten der Nacht- und Tag­glei­che, Stür­me und Re­gen fie­len über das Land, und ei­nes Abends trieb so­gar der Schnee in wei­ßen Strei­fen zwi­schen den grau­en Stäm­men hin. Dann aber ge­wann die Son­ne wie­der das Feld, trock­ne­te Stra­ßen und Pfa­de, das Eis in den Buch­ten schmolz, und über der jun­gen Saat hin­gen hoch im Blau die sin­gen­den Ler­chen. Im­mer aber gin­gen die großen Wäl­der mit ihm mit, wech­selnd zwi­schen Laub- und Na­del­holz, auf­blau­end, er­glü­hend und sich wie­der ver­dun­kelnd mit dem Gang der Son­ne, und mit ih­nen die stren­ge und rei­ne Luft, die das At­men leicht mach­te und die sor­gen­lo­sen Jah­re wie­der her­aufrief, als er hoch über Se­geln und Meer im Mast­korb ge­ses­sen hat­te.

Der Rat des Man­nes aus dem Wald­krug hat­te sich als nütz­lich er­wie­sen, ei­ni­ge An­ge­bo­te fand er gut und so­gar ver­lo­ckend, doch hielt er die Zu­sa­ge noch hin, weil ihm das Letz­te noch zu feh­len schi­en, die jähe Zu­stim­mung des Her­zens, von der er mein­te, dass sie ein­mal kom­men wer­de, und die ihm wich­ti­ger schi­en als Ver­stand und küh­le Be­rech­nung.

So kam er am spä­ten Nach­mit­tag des zehn­ten Ta­ges zu ei­nem Mei­len­stein an ei­ner brei­ten Land­stra­ße, von dem ein schma­ler Weg zu ei­ner Förs­te­rei ab­bog, und da der Wald ihm schö­ner schi­en als je­der an­de­re, den er bis­her durch­fah­ren hat­te, von Bir­ken­scho­nun­gen und al­ten Ei­chen durch­setzt, so ließ er den brei­ten Weg und mein­te, er wer­de zur Nacht schon un­ter­kom­men, wenn nicht im Forst­haus, so doch we­nigs­tens in ei­ner Feld­scheu­ne oder in ei­nem der Wild­heu­hau­fen, die er hier und da in den Scho­nun­gen an­ge­trof­fen hat­te. Die Luft war mil­der ge­wor­den, ein süd­li­cher Wind ging durch den Wald und brach­te den schwe­ren Duft des Sei­del­bas­tes mit, der an den son­ni­gen Hän­gen blüh­te.

Der Förs­ter trat aus dem Hof­tor, als Tho­mas das Ge­höft er­reich­te. Er war ein großer, ge­beugt ge­hen­der Mann, die Schlä­fen un­ter dem Hut schim­mer­ten schon weiß, und der Blick sei­ner ganz hel­len Au­gen ging durch Tho­mas hin­durch, als sehe er gar nicht ihn, son­dern hin­ter ihm einen an­de­ren, der un­be­merkt in sei­nen Spu­ren stän­de. So ein­sam schi­en er Tho­mas vor dem schwei­gen­den Ge­höft, dass er mein­te, es sei nicht recht, ihn an­zu­spre­chen und sei­ne Bit­te vor­zu­tra­gen, so­dass er stumm da­stand, die Hän­de auf der Lenk­stan­ge des Ra­des und den Fuß schon wie­der auf dem lin­ken Pe­dal, als sei er so­fort be­reit, um­zu­keh­ren, wenn je­ner den Wunsch dazu zu er­ken­nen gebe.

Doch trat der Förs­ter wi­der Er­war­ten auf ihn zu, hob die Hand grü­ßend an den Hut und frag­te ihn mit lei­ser Stim­me ohne Vor­be­rei­tung, ob er ein See­mann sei. Und als Tho­mas das mit ei­ni­ger Ver­wir­rung be­jah­te, nahm der an­de­re ihn sanft beim Arm, bat ihn, ein Stück We­ges mit ihm mit­zu­kom­men, und mein­te dann, als der Wald sie schon wie­der auf­ge­nom­men hat­te, er dür­fe nicht ver­wun­dert sein, es habe je­der har­te Be­ruf sei­ne Kenn­zei­chen und wäre es hier auch nur eine be­stimm­te Hel­lig­keit der Au­gen und die Schär­fe der Li­ni­en von den Na­sen­flü­geln zum Mun­de. Zu­dem ken­ne er sich et­was aus un­ter See­leu­ten, da sein Sohn selbst ei­ner ge­we­sen sei, und es freue ihn, hier in sei­nem Wal­de einen wie­der­zu­se­hen, der wahr­schein­lich auch »da­bei­ge­we­sen« sei.

Ja, da­bei­ge­we­sen sei er al­ler­dings, er­wi­der­te Tho­mas.

Das habe er ge­dacht, mein­te der Förs­ter, und er brau­che nun vor sei­nem Hau­se nicht um­zu­keh­ren, sei als Gast will­kom­men und müss­te ihn zu­erst nur auf den Sch­nep­fen­zug be­glei­ten, da er gern zu­nächst al­lein mit ihm sein möch­te. Et­was wun­der­lich sei sei­ne Frau, ja viel­leicht so­gar sehr wun­der­lich, wie nach dem Krie­ge ja über­haupt selt­sa­me Men­schen üb­rig­ge­blie­ben sei­en, als habe der Tod sie nicht ge­wollt nach all dem jun­gen Blut, das er ge­trun­ken habe.

Zu­erst schwieg Tho­mas, auf eine merk­wür­di­ge Wei­se er­grif­fen von der Art die­ses Man­nes, der wie nach ei­ner lan­gen Krank­heit sprach, lei­se, ei­lig, als wis­se er nicht ge­nau, ob die Ge­s­pens­ter des Fie­bers noch um ihn stän­den oder ob er schon vol­ler Ver­trau­en zu den Wa­chen­den und Ge­sun­den von den Ge­sich­tern sei­ner Träu­me spre­chen dür­fe. Dann aber be­gann er zu er­klä­ren, wer er sei – im­mer noch der Steu­er­mann auf großen Damp­fern –, und wes­halb er hier sich um­se­he. Auch dass er ei­gent­lich vor­ge­habt habe, der großen Stra­ße bis zur Stadt zu fol­gen, und nur et­was nicht Be­wuss­tes ihn ver­an­lasst habe, zur Förs­te­rei zu fah­ren. Wahr­schein­lich, weil der Wald ihm so gut und ver­traut vor­ge­kom­men sei, oder auch nur, weil der Süd­wind ihn müde ge­macht habe.

Der Alte nick­te dazu, auf eine si­che­re Wei­se, als wis­se er das bes­ser, und mein­te, sie wür­den eine gute Nach­bar­schaft hal­ten. Er sei des­sen ge­wiss, denn er zweifle nicht dar­an, dass hier das Ziel des Gas­tes er­reicht sei; doch woll­ten sie erst spä­ter dar­über spre­chen, jetzt aber ih­ren Stand ein­neh­men.

Sie wa­ren un­ter­des an den Rand nied­ri­ger Scho­nun­gen ge­kom­men, gin­gen einen gras­be­wach­se­nen Weg hin­aus, bis sie über ei­nem klei­nen Bruch stan­den, in des­sen Was­ser­blän­ken der Abend­him­mel sich spie­gel­te, und blie­ben dann zwi­schen ein paar Wa­chol­der­bü­schen, der Förs­ter auf sei­nem Sitz­stock und Tho­mas auf ei­nem der brei­ten Baum­stümp­fe, die die Son­ne des Ta­ges ein­ge­so­gen hat­ten.

Noch nie mein­te Tho­mas den Wald so groß und un­be­rührt ge­se­hen zu ha­ben, fast dass er zum Fürch­ten hät­te sein kön­nen, wäre nicht das hun­dert­fäl­ti­ge Lied der Dros­seln ge­we­sen und der frem­de Ton ho­her Zug­vö­gel, die mit dem Win­de über den Wald zo­gen. Auch gin­gen sei­ne Ge­dan­ken im­mer wie­der zu dem Wort von der Nach­bar­schaft zu­rück, und von Zeit zu Zeit be­trach­te­te er un­auf­dring­lich den et­was vor ihm Sit­zen­den, der zwar das Ge­wehr über den Kni­en hielt, aber des­sen Auge und Ohr weit von al­ler Jagd ent­fernt zu sein schie­nen, zu den Abend­wol­ken auf­ge­ho­ben, die schmal, lang und rot­ge­säumt in den nörd­li­chen Ho­ri­zont fuh­ren, ein schwei­gen­des Ge­schwa­der, das den Schau­platz ver­ließ.

Als dann end­lich die Dros­seln ver­stumm­ten, eine nach der an­de­ren, und zu­letzt nur noch aus dem schwarz ge­wor­de­nen Hoch­wald auf der an­de­ren Sei­te ab und zu ein Flö­ten­ton in das Schwei­gen fiel, mein­te Tho­mas, sei­ner Ju­gend­jah­re sich er­in­nernd, dass es nun Zeit sei, alle Sin­ne auf die Jagd zu rich­ten und auf den Ruf der Sch­nep­fe zu war­ten, der bei al­ler Sanft­heit so er­re­gend in das Herz des Jä­gers fällt.

Aber ge­ra­de da, als er lei­se auf­ste­hen woll­te, be­gann der Förs­ter zu spre­chen, und es war aus dem Klang sei­ner Stim­me un­schwer zu er­ra­ten, dass sei­ne Ge­dan­ken die gan­ze Zeit nicht bei der Jagd ge­we­sen wa­ren.

Beim Ska­ger­rak sei er viel­leicht auch da­bei­ge­we­sen, frag­te er be­hut­sam. Und auf Tho­mas’ be­ja­hen­de Ant­wort, ob so­gar viel­leicht auf ei­nem der Pan­zer­kreu­zer? Der »Seyd­litz« etwa?

Nicht ge­ra­de dort, aber auf ei­nem Schwes­ter­schiff, er­wi­der­te Tho­mas und be­gann zu ah­nen, wor­über er Rede und Ant­wort zu ste­hen ha­ben wer­de. Doch war nun ge­ra­de der Ruf der ers­ten Sch­nep­fe zu hö­ren, über die Scho­nun­gen sich nä­hernd, über den klei­nen Bruch, im­mer nä­her und deut­li­cher, bis das graue, lei­se schwan­ken­de Bild aus dem Hin­ter­grund des Abends sich lös­te, der im Su­chen sich hin und her wen­den­de Kopf mit dem lan­gen Schna­bel ge­ra­de über ih­nen, der sanf­te, wie tief aus der Keh­le drin­gen­de Ton … und nun al­les vor­über war, schon hin­ter ih­nen, im­mer lei­ser wur­de und ver­schwand.

Tho­mas war auf­ge­sprun­gen und hat­te die Hand nach dem vor ihm Sit­zen­den aus­ge­streckt, doch ließ er sie be­schämt wie­der sin­ken, als er von der Sei­te das Ge­sicht sah, das ei­nem fer­nen Vor­gang zu­ge­wen­det schi­en, ei­nem Vor­gang, der weit hin­ter der Er­schei­nung des Vo­gels sei­ne Um­ris­se in den Abend­him­mel zu zeich­nen schi­en.

»Sa­hen Sie … das Feu­er?« frag­te die lei­se Stim­me.

»Ja.«

»Aus dem vor­de­ren Turm?«

»Ja, alle sa­hen es.«

»Eine hohe Säu­le?«

»Hö­her als die Mas­ten … aber nie­mand hat Schmerz ge­lit­ten dort, nie­mand. Es muss ge­we­sen sein wie un­ter ei­nem Blitz­schlag, vor­bei, ehe man ahnt, dass es trifft.«

»So sa­gen sie, und so schrie­ben sie auch, aber kei­ner ist da­bei­ge­we­sen, den es nur ver­sengt hät­te, nur das Haar und die Au­gen­brau­en, und er hät­te es dann er­zäh­len kön­nen …«

Nun leg­te Tho­mas doch lei­se die Hand auf die ge­beug­te Schul­ter vor ihm. »Man soll das nicht aus­den­ken«, sag­te er. »Wie soll­ten wir le­ben, tap­fer und or­dent­lich, wenn wir das tä­ten?«

»Ja, ja … auch ich sage so, zu ihr, die dar­über wun­der­lich ge­wor­den ist … nur … er fürch­te­te sich so vor dem Feu­er, ver­ste­hen Sie? Da war so eine schreck­li­che Ge­schich­te in sei­ner Kind­heit … wir hat­ten den Back­ofen ge­heizt, zum Brot­ba­cken. Die Glut war schon her­aus­ge­nom­men und dann auch die Bro­te. Der Back­ofen stand al­lein im Gar­ten, ab­seits, wie auf al­len Förs­te­rei­en. Da kam er mit den Hun­den hin­ter der Kat­ze her, so im Spiel, und sie sprang hin­ein. Er lach­te und warf die Türe zu, er wuss­te nicht, dass es glü­hend heiß war. Und im sel­ben Au­gen­blick schoss ich am Gar­ten­zaun einen Hüh­ner­ha­bicht. Da ver­gaß er al­les, die Kat­ze, den Ofen, die Hun­de. Er leb­te im­mer im Au­gen­blick, ganz und gar … Erst nach zwei Ta­gen fiel es ihm ein. Wir hör­ten ihn schrei­en, so schreck­lich, dass ich es heu­te noch höre. Da hat­te er sie ge­fun­den … und nun er selbst, eben­so … das Was­ser ist kühl und tief, und ich den­ke, dass man dort schla­fen kann, auf dem Grun­de, wo die frem­den Pflan­zen we­hen … aber so, ver­kohlt und ver­brannt … Got­tes Eben­bild zer­stört und ge­schän­det …«

Er hob nicht die Hand vor die Au­gen, er sah im­mer noch ge­ra­de­aus, dort­hin, wo der Abends­tern mit sanf­tem Strah­len über dem Wal­de stand.

»Nein«, sag­te Tho­mas mit Ent­schie­den­heit, »dann hat man Ih­nen Fal­sches ge­sagt und ge­schrie­ben. Wir ha­ben es in den Ha­fen ge­bracht, das zer­schos­se­ne Schiff, und von mei­nen Ka­me­ra­den wa­ren ei­ni­ge da­bei, als sie die Tür­me öff­ne­ten … nichts war ge­schän­det, sie wa­ren … sie zer­fie­len in Staub und Asche, als man sie her­austrug … ich sage Ih­nen die Wahr­heit, und Sie müs­sen es mir glau­ben!«

»Staub und Asche«, flüs­ter­te der alte Mann, »das ist bes­ser, viel bes­ser … das ist, wie Gott es vor­ge­schrie­ben hat in der Bi­bel … Staub und Asche, das ist gut, und ich brau­che nicht mehr zu ha­dern …«

Er blieb noch sit­zen, bis der Wald­kauz laut­los über ih­nen kreis­te. Dann gin­gen sie den dunklen Weg zu­rück. »Gru­ber hieß er«, sag­te er, »Va­len­tin Gru­ber … aber Sie ha­ben ihn nicht ge­kannt? Nein, die Schif­fe wa­ren ja auch so groß … kei­ner von uns weiß, wes­halb er so aufs Meer woll­te, nie­mals gab es das in un­se­rer Fa­mi­lie … Der See hat es ihm an­ge­tan, dort am Hau­se, nicht der Wald, nur der See. Sie wer­den noch mer­ken, dass er einen Zau­ber über den Men­schen wirft … Va­len­tin hieß er, weil ich ka­tho­lisch bin, und in mei­nem Glau­ben wur­de er ge­tauft und auf­ge­zo­gen. Die Frau hat im­mer ge­sagt, wir hät­ten einen falschen Gott, und da­von sei es al­les ge­kom­men … sa­gen Sie ihr nichts und wun­dern Sie sich auch nicht. Wer lei­det, ist in al­lem ent­schul­digt, nicht?«

»Ja«, sag­te Tho­mas lei­se.

Der Tisch war schon ge­deckt, aber die Frau stand am Fens­ter und sah hin­aus. Sie wen­de­te sich erst um, als Gru­ber sag­te, ein Gast sei da. »Will­kom­men!« sag­te sie und streck­te ihre Hand aus. Die Hand war kalt und fast wie Holz, und ihre Stim­me kam wie aus ei­nem Au­to­ma­ten her­aus. Dann ließ sie die Hand wie­der fal­len und ging an Tho­mas vor­bei, um ein drit­tes Ge­deck zu ho­len. Sie sah ihn nicht. Ihr Ge­sicht war nicht ver­grämt oder ver­steint, son­dern er­lo­schen. Es war er­blin­det und er­taubt, aus­ge­höhlt vom Schmerz, und nur die Hül­le war noch zu­rück­ge­blie­ben, brü­chig und tot wie die Haut ei­ner Lar­ve.

Als sie an den Tisch tra­ten und die Frau die Hän­de zum Ge­bet zu­sam­men­leg­te, mach­te Gru­ber eine Be­we­gung, als woll­te er sie hin­dern, aber dann sah er nur vor sich nie­der. Die Frau blick­te auf den Brot­korb in der Mit­te des Ti­sches, und ihre Lip­pen be­weg­ten sich, wie von ei­ner ver­bor­ge­nen Ma­schi­ne ge­trie­ben. Sie be­te­te:

»Lie­ber Gott, sei un­ser Gast

und sieh, was du an­ge­rich­tet hast.

Sol­len die To­ten dir gut be­kom­men,

alle Hei­den und alle From­men,

und was du er­tränkt hast und ver­brannt,

nimm es fröh­lich in dei­ne Hand!

Amen.«

Dann setz­te sie sich. Ihr schwar­zes, zer­schlis­se­nes Sei­den­kleid knis­ter­te bei je­der Be­we­gung, und wenn sie einen Bis­sen zu sich nahm, sah es aus, als füt­ter­ten frem­de, nicht ihr ge­hö­ri­ge Hän­de ein star­res, to­tes Göt­zen­bild. Sie sprach kein Wort und sah auch Tho­mas nicht an. Sie wuss­te si­cher­lich nicht, dass ein Frem­der am Tisch saß. Sie hat­te es längst ver­ges­sen. Vi­el­leicht sah sie ein Kind, das mit dem Ru­der durch den Wald lief, zum Seeu­fer hin­un­ter, oder sie sah die Feu­er­säu­le aus den Ge­schütz­tür­men bre­chen, oder sie sah die Ge­stalt ei­nes Got­tes, der mit blu­ti­gen Hän­den sei­ne To­ten aß. Sie war hin­aus­ge­tre­ten aus al­lem Men­sch­li­chen, und Tho­mas schi­en es, als gehe ein küh­ler Hauch von ih­rem Klei­de aus, wie von ei­nem Gr­ab­ge­wöl­be. Es frös­tel­te ihn, und er schwieg.

Nach dem Es­sen räum­te sie den Tisch ab und kam nicht wie­der.

»So ist es nun«, sag­te Gru­ber, als sie ihre Pfei­fen an­ge­zün­det hat­ten. »Sie­ben Jah­re, mein lie­ber Herr … sie­ben Jah­re … an­de­re wür­den trin­ken oder flu­chen, aber ich kann das nicht. Er war doch auch mein Sohn, nicht wahr? Und so bin ich doch auch schul­dig, nicht wahr? Se­hen Sie, manch­mal im Wal­de, wenn ich so vor mich hin­ge­he, dann spre­che ich für mich, laut und lan­ge, um zu se­hen, ob ich es noch kann, und ich lächle auch, denn das will man doch nicht ver­ler­nen. Ich spre­che mit ihm, wie frü­her, als wir zu­sam­men durch den Wald gin­gen. Er war im­mer fröh­lich, und wir la­chen, da­mit er nicht tot ist, ver­ste­hen Sie? Hier, im Hau­se, ist er im­mer auf­ge­bahrt, wis­sen Sie, und das will ich nicht. Der Krieg hat ihn ge­nom­men, aber er ist im­mer bei mir, und seit­dem Sie das ge­sagt ha­ben, das von Staub und Asche, da will ich wie­der ganz fröh­lich sein … so gut ist es, dass Sie ge­kom­men sind …«

Wenn er sie sähe, dach­te Tho­mas und sah den schwe­ren Mann vor dem höl­zer­nen Chris­tus ste­hen, aber auch er wür­de nicht hel­fen … sie­ben Jah­re, und ich habe mich be­klagt? Es war ihm fast, als lieb­te er die­sen al­ten Mann, der wie­der fröh­lich sein woll­te. Das Haar fiel ihm noch schwarz in die Stir­ne, nur die Schlä­fen wa­ren weiß, und nun wuss­te er auch, wes­halb der Sohn zur See ge­fah­ren war: die Au­gen muss­ten es sein. Er muss­te die­sel­ben Au­gen ge­habt ha­ben, de­nen die Din­ge im­mer zu nahe wa­ren und die er­ken­nen woll­ten, was hin­ter den Din­gen war. Er hat­te ge­glaubt, dass man das auf dem Mee­re ler­ne, dem ein­zi­gen Ele­ment, das kei­nen Vor­der­grund hat­te. Aber er hat­te wohl nur ge­lernt, dass der Tod in al­len Ele­men­ten zu Hau­se ist.

»Und … es gibt kei­ne Hil­fe?« frag­te er.

Der an­de­re schüt­tel­te den Kopf. »Pfar­rer und Ärz­te«, sag­te er, »die ar­bei­ten im­mer mit den Din­gen, die für sie auf­ge­hört ha­ben, wis­sen Sie. Gott und Pf­licht und gu­ter Wil­le und so wei­ter.« Er sah sich vor­sich­tig um. »Ich bin ein ein­fa­cher Mensch«, fuhr er lei­se fort, »aber ich weiß es. Es gibt Müt­ter und Kin­der, bei de­nen man die Na­bel­schnur nicht zer­schnit­ten hat, ver­ste­hen Sie? Und so war es hier. Sie blei­ben im­mer eins, sie wer­den nie zwei. Sie hat es auch ge­wusst, als das dort ge­sch­ah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeig­te mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt ha­ben sie ihn fort­ge­ris­sen‹, sag­te sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut aus­ge­flos­sen ist … Mein lie­ber Herr, das muss man nun so las­sen, und nun ist es so gut, dass Sie hier­blei­ben und ich manch­mal ein biss­chen bei Ih­nen sit­zen darf … wie ist Ihr Name, lie­ber Herr?«

Sein Ge­sicht war von in­nen be­glänzt, als er sich vor­beug­te und lä­chelnd in Tho­mas’ Au­gen sah.

»Orla«, sag­te Tho­mas. »Tho­mas Orla … es ist ein mär­ki­scher Name. Aber wes­halb mei­nen Sie im­mer, dass ich hier­blei­ben wer­de?«

»Sie sind ge­sandt, lie­ber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nen­nen. Ge­sandt wie ein En­gel des Herrn. Se­hen Sie, manch­mal in die­sen Jah­ren habe ich ge­zwei­felt, an Gott, ja, das habe ich ge­tan. Aber an den Hei­li­gen nicht. Von Kind auf war ich bei ih­nen, das ist in un­se­rem Glau­ben so, nä­her bei ih­nen mit­un­ter als bei Gott. Er ist so weit, so schreck­lich weit. Aber sie sind nahe, an un­se­rer Sei­te, denn sie ha­ben auch ge­lit­ten, eben­so wie wir, mehr noch. Aber Gott lei­det nicht, wis­sen Sie? Nun, und die Hei­li­gen, sie ha­ben Sie ge­sandt. Sie ha­ben ge­se­hen, dass ich nicht mehr wei­ter wuss­te, und da ha­ben sie mir das ge­schickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neu­es Le­ben, denn ich glau­be es. Und da­für wer­den Sie hier fin­den, was Sie su­chen. Al­les hängt zu­sam­men bei den Men­schen, gute Tat und gu­ter Lohn … Der See hier, er ist zu ver­pach­ten, oder nicht zu ver­pach­ten, son­dern der Fi­scher­pos­ten ist zu ver­ge­ben, Fi­scher und Jä­ger, bei­des zu­sam­men. Ein ru­hi­ger Pos­ten, auch wenn der Ge­ne­ral wun­der­lich ist … alle sind hier wun­der­lich … man kann le­ben da­von, be­quem le­ben, wenn man ein­fach ist. Ein klei­nes Haus auf der In­sel, mir ge­gen­über, einen Büch­sen­schuss weit, ein Rohr­dach, ein großer Herd, ein Netz­schup­pen. Und ein klei­ner Wald, ein schö­ner Wald, Jung­holz mit Fich­ten und Bir­ken und da­zwi­schen alte Ei­chen mit tro­ckenen Wip­feln, wo die Rei­her abends ein­fal­len. Und ganz al­lein, ver­ste­hen Sie? Ganz al­lein, nur Was­ser und Wald in der gan­zen Run­de. Man braucht ein Boot, um zu Ih­nen zu kom­men …«

»Und der Ge­ne­ral?« frag­te Tho­mas. Sei­ne Pfei­fe war aus­ge­gan­gen, und er lausch­te wie in ei­nem Mär­chen. Ein Zau­ber fiel von dem al­ten Mann über ihn.

»Ja, ihm ge­hört das al­les, lie­ber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein ar­mer Mann, bei­de Söh­ne ge­fal­len, und ich habe sie bei­de auf den Kni­en ge­hal­ten. Nur eine En­ke­lin ist bei ihm, und sie ist wie ein En­gel in dem dunklen Haus … und Sie wer­den die Stel­le be­kom­men, ich selbst will es ihm sa­gen. Der sie jetzt hat, ist ein Bol­sche­wik, ver­ste­hen Sie? Ei­ner, der ›Herr‹ ge­nannt wer­den will, und sei­ne Mut­ter hat noch Kar­tof­feln von mei­nem Feld ge­stoh­len. Und der den Ge­ne­ral einen ›Blut­säu­fer‹ nennt, und je­des Kind weiß, dass er nur Rot­wein trinkt. Nur dass Ka­no­nen in der Schloss­hal­le ste­hen und zwei Die­ner in Uni­form da­bei. Ei­nen Putsch will er ma­chen, sa­gen die Bol­sche­wi­ken, aber je­der weiß, dass die Ka­no­nen nicht ge­la­den sind.«

»Kön­nen wir es se­hen?« frag­te Tho­mas und stand auf. »Die In­sel, mei­ne ich, und al­les … der Mond scheint doch, und viel­leicht ist mor­gen früh al­les fort und Sie ha­ben nur ge­träumt …«

Der alte Mann lä­chel­te. »Auch er war so«, sag­te er, »al­les gleich und so­fort, da­mit es nicht ver­schwun­den ist am nächs­ten Tag. Aber nichts ver­schwin­det, lie­ber Herr. Wenn man alt ge­wor­den ist, weiß man, dass nichts ver­schwin­det. Aber wir kön­nen ge­hen … beim Mond­licht wirft es die Net­ze über Sie, mehr noch als am Tage.«

Die Luft war noch wär­mer ge­wor­den, und ein paar Re­gen­trop­fen aus ei­ner ver­lo­re­nen Wol­ke fie­len schwer in das tro­ckene Laub un­ter den Ei­chen. »Geht dort wer?« frag­te Tho­mas lei­se. Nein, nein, das sei nur der Re­gen und eben der Zau­ber. Im­mer klin­ge es hier so, als gehe wer durch die Nacht. Aber nie­mand gehe, ganz still und leer sei der Wald. Au­ßer dass die To­ten um­gin­gen aus Land und Meer, aber dar­über wis­se er nichts.

Der Mond stand noch tief, vor ih­nen, und sie sa­hen nur sein Licht. Der Him­mel war sanft be­glänzt, wie aus ei­nem fer­nen Tor, und mit­un­ter blitz­te es im Wal­de auf, ein ein­zel­ner Strahl, der durch eine Lücke im Ge­äst auf feuch­te Rin­de fiel. Eu­len rie­fen, und vom Was­ser schrie ein un­be­kann­ter Vo­gel. Es war, als fra­ge je­mand nach dem Wege.

Der Fuß­pfad senk­te sich, und dann war das Was­ser zu se­hen. Es lag als eine mat­te Schei­be in ei­nem dunklen, viel­fach ge­sprun­ge­nen Rah­men. Es dehn­te sich, weit hin­aus, und in der Fer­ne wur­de es grau­er und mat­ter, bis es mit der Schwär­ze ver­floss. Eine schma­le Mond­bahn lief bis zu ih­ren Fü­ßen, und in der Höhe, zwi­schen dunklen, lei­se trei­ben­den Wol­ken, stan­den die Ster­ne. Nichts be­weg­te sich, nicht ein­mal die Brücke des Mond­lichts, und die Schilf­hal­me stan­den wie Spee­re mit glü­hen­den Spit­zen am Ufer. Und doch war es wie­der, als gin­ge je­mand lei­se durch den Wald und über das Was­ser hin, ver­stoh­len und atem­los, bald zur Rech­ten und bald zur Lin­ken.

»Dort ist sie«, sag­te der Förs­ter lei­se.

Tho­mas sah die In­sel, einen Büch­sen­schuss weit. Sie lag in voll­kom­me­ner Schwär­ze auf der mat­ten Schei­be, nur um die Wip­fel­li­nie war ein flie­ßen­der, wei­ßer Schein, und die tro­ckenen Äste der Ei­chen stan­den wie Git­ter­mas­ten ge­gen den Mond. Dunkle, schwe­re Vö­gel sa­ßen re­gungs­los in ih­rem Netz­werk.

»Hier ist der Kahn«, sag­te der Förs­ter.

Aber Tho­mas woll­te nicht fah­ren. Er wuss­te, dass es hier war, wo er le­ben und wahr­schein­lich auch ster­ben wür­de. Sei­ne Au­gen sa­hen es, und mehr noch sag­te es sein Herz. Aber er woll­te nicht hin­ge­hen wie in ei­nem Zau­ber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünf­und­vier­zig Jah­re alt und brauch­te den Tag, um dies zu se­hen. Auch am Mor­gen wür­de es noch da sein, und es wür­de gut sein, wenn es reg­ne­te und ein har­ter Wind gin­ge, dass al­les grau und wirk­lich aus­sä­he. »Nein, mor­gen früh«, sag­te er.

Sie stan­den noch eine Wei­le und sa­hen hin­aus. Ei­ner der großen Vö­gel über der In­sel rich­te­te sich auf und schlug mit den Flü­geln. Ein hei­se­rer Ruf kam über das Was­ser her­über. Dann war al­les wie­der wie zu­vor.

»Das sind die Rei­her«, sag­te der Förs­ter. »Der Ge­ne­ral liebt sie nicht, aber es sind edle Vö­gel, und au­ßer ih­nen ha­ben Sie nie­mand auf der In­sel.«

»Ich hof­fe, dass das gut sein wird«, sag­te Tho­mas.

Dann gin­gen sie den glei­chen Weg wie­der zu­rück.

Das Haus war dun­kel, und Tho­mas stieg mit ei­ner Ker­ze die Trep­pe hin­auf.

»Ne­ben­an war sein Zim­mer«, sag­te Gru­ber. »Sie lässt kei­nen hin­ein. Aber es ist ganz still dort, und Sie brau­chen sich nicht zu fürch­ten.«

Tho­mas stand noch am of­fe­nen Fens­ter. Nein, er fürch­te­te sich nicht. Al­les wür­de gut sein, wie er es ge­se­hen hat­te. Er wuss­te, dass es auf ihn ge­war­tet hat­te, sonst wür­de er ja wei­ter­ge­fah­ren sein, die brei­te Stra­ße zur Stadt. Man muss­te nur ge­hor­sam sein.

Er ließ das Fens­ter of­fen und sah noch im Dun­keln zur nied­ri­gen Zim­mer­de­cke auf. Der große Vo­gel … wie er die schwe­ren Flü­gel ge­öff­net hat­te … und dann wie­der in Schlaf ver­sun­ken war … der Mond fiel in ihre ge­schlos­se­nen Au­gen … die Ster­ne kreis­ten … al­les war gut und ru­hig dort … er woll­te aus­stei­gen dort und ar­bei­ten … nie war er al­lein ge­we­sen … Schif­fe, Men­schen, Häu­ser … er hat­te kei­nen Ehr­geiz mehr und we­nig Glau­ben … wie ein Ge­schwätz … aber dort woll­te er sich be­re­den, so ein­sam wie die großen Vö­gel …

Dann schlief er ein.

Das einfache Leben

Подняться наверх