Читать книгу Das einfache Leben - Ernst Wiechert - Страница 10
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ОглавлениеThomas war eine Nacht und einen halben Tag gefahren, als er an der kleinen Haltestelle ausstieg. Er holte sein Fahrrad aus dem Gepäckwagen, sah hinter dem Bahnhofsgebäude einmal in seine Karte, machte den Rucksack fest und fuhr die birkengesäumte Straße hinunter, den Wäldern zu, die blau und groß im Süden die Welt verschlossen. Obwohl das Land nicht unähnlich seiner märkischen Heimat war, schien es ihm doch, als sei er in der Nacht über fremde und riesige Ströme gefahren und als sei dies hier keiner Erde zu vergleichen, die er während seines Lebens betreten hatte.
Indes er fast geräuschlos dahinglitt, von einem sanften seitlichen Winde je nach der Biegung der Straße gehindert oder getrieben, versuchte er zu ergründen, weshalb sein Atem leicht zu gehen schien in dieser Landschaft, obwohl sie doch im ersten Anschauen streng, weit und nicht ohne Düsterkeit sich ihm darbot. Er bemerkte, dass die Luft rauer ging, dass Wachstum und Feldbestellung gegen seine Heimat weit zurückgeblieben waren, dass Häuser und Dörfer ärmlicher, fast liebloser in den umgebenden Raum gebettet waren. Doch schienen wiederum Straßen und Pfade menschenleerer, alles Gerät einfacher und verbrauchter, ja auch alle Ansprüche bescheidener, als ob die Erde noch unbedingter hier herrsche, den Forderungen des Menschen noch widerwilliger verschlossen als in anderen Bezirken des Reiches, und als ob der Mensch hier mehr auf eigener Kraft und im eignen Inneren beruhen müsse, ohne die gedankenlose Unterstützung der Masse, die ihm woanders, zumal in den Städten, so leicht und so verhängnisvoll zufalle.
Doch schien ihm vor allem der Himmel über alle Maßen groß und gewaltig. Geschwader von Wolken zogen ruhevoll an seiner Wölbung entlang, aber selbst sie mühelos geordnet in dem unermesslichen Raum, und ihre schweren Schatten stießen sich nirgends auf den noch bräunlichen Feldern. Auf den Hügeln der Äcker standen einzelne Bäume, das Astwerk ohne Hindernis ausgebreitet oder von immer wehenden Winden nach einer Seite gebeugt, und da sie fast alle ohne Hintergrund vor dem leeren Himmelsraum standen, so trugen die Felder in aller Kargheit ein Gesicht des Stolzes, als lägen sie noch da wie zu Beginn der Schöpfung und niemals sei anderes als Wind oder Regen oder eine kühle Sonne über sie hingegangen.
Auch der Schrei der Vögel dünkte ihn heller und wilder zu sein, und nirgends glaubte er so viele Raubvögel gesehen zu haben, die spähend über den Feldern hingen oder in Kreisen sich unter die Sonne schoben. Doch verknüpfte ihr Bild sich ihm immer mehr mit der Erscheinung der großen Wälder, denen er zufuhr und die ihm als die eigentliche Heimat alles dessen erschienen, was sich hier spielend oder beutesuchend unter dem Himmel bewegte.
Kam er so auch nicht zu der gewünschten Klarheit seiner Gedanken und blieb die Ursache seines Gefühls der Freiheit ihm im Letzten noch verborgen, so nahm er doch mit Beglücktheit war, dass sein ganzes Wesen vorwärts gewendet war. bestrebt, Kommendes und Neues in sich aufzunehmen, und dass die grübelnden Gedanken der letzten Tage, ja noch der Nachtfahrt wie ein Nebel hinter ihm verflogen waren.
Indessen wuchs das Gesicht der Wälder immer näher und deutlicher in ihm auf, und es war ihm, als sei dort eigentlich erst das verborgen, was den Sinn der Landschaft ausmache und dazu auch das, was zu suchen er ausgezogen sei.
Von ferne schon war zu erkennen, dass der schweigende Ernst dieses Raumes dort nicht von einer Heiterkeit der Form abgelöst werden würde, ja dass vielmehr mit dem Zurückbleiben von Dorf, Feld und Gehölz sich alles in eine einzige, gesammelte Erscheinung zurückziehen würde, an Größe nur dem Meere oder dem Hochgebirge zu vergleichen, und nicht nur an Größe, sondern eben auch an Schwere und aufrufender Einsamkeit.
Schon jetzt sah er die Geradheit grauer, sehr hoher Stämme, ohne Unterbrechung nebeneinandergestellt, ohne Zierlichkeit verbindender Linien, und darüber den leise gewellten Saum der Wipfel, abgerundet wie die Form des Granits im Urgebirge. Zwar erblickte er, je näher er kam, vermittelnde Einzelheiten, Fichtenschonungen etwa, die einem in die Tiefe gesunkenen Waldstück von ferne glichen, einen Weißbuchenhain oder einen Hang mit jungen Birken, zwischen denen der Wacholder dunkel stand, aber gleich schloss die graue Wand sich wieder zu und tat sich nur auseinander, um die Straße hineinzulassen, aufzunehmen und gleichsam sofort zu begraben.
Hier war es natürlich, dass Thomas abstieg und von der hohen Böschung den Blick noch einmal zurückwendete. Er saß auf einem Baumstumpf, um den schon die blauen Sterne der Leberblümchen standen, stopfte langsam seine kurze Pfeife, und indes der Rauch mit dem leisen Wind in das Holz hinter ihm zog, nahm er die eben durchfahrene Landschaft noch einmal in sich auf, ruhiger nun, auch größer vielleicht, da der Weg sich langsam gehoben hatte und nun vieles nebeneinander lag, was vorher Stück für Stück aufeinandergefolgt war.
Wieder kam ihm das Leere des großen Raumes beruhigend und beglückend ins Bewusstsein, die sanfte, lang ausholende und abklingende Schwingung der Linien, die Armut an Siedlungen, die Stille der Luft und das unendlich Gespannte des Horizontes. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Wechsel der Jahreszeiten dies Bild verändern würde, wie er selbst in diesem Wechsel bestehen oder unsicher werden würde und ob die Frische des ersten Eindruckes auch erhalten bleiben würde, wenn er nun aus einem Wanderer zu einem Bewohner und aus einem Betrachtenden zu einem Tätigen würde.
Doch erschien ihm, auch so angesehen, das vor ihm ausgebreitete Bild von immer gleicher Kraft und Tröstlichkeit erfüllt, und als er sich nun gar auf seinem Sitz wendete und der Blick durch die Vielheit der Stämme in das Innere des Waldes ging, wo die Sonne schmale Brücken auf Moos und Blaubeerkraut legte, wo rotbeschienene Stämme immer tiefer zurückwichen in eine bläuliche Dämmerung und nur das Klopfen des Spechtes das Schweigen nicht zerbrach, sondern tiefer machte: da glaubte er, auf der Höhe eines vielgeprüften Lebens noch einmal Frieden und Glück der Kindheit vor seinen Händen ausgebreitet zu sehen, als gelte es nur, vertrauend zurückzukehren, um mit der Ruhe der Landschaft auch alles wiederzugewinnen, was damals heiter, leicht und unveränderlich erschienen war. Und wiewohl er wusste, dass keine Rückkehr dieser Art dem Menschen vergönnt sei, dass vielmehr jedes Alter seinen eigenen Frieden zu gewinnen habe, so gab er sich doch willig für eine Weile jener träumerischen Rückschau hin, wohl wissend, dass die nächsten Tage schon ihm fordernd entgegenkommen würden.
Noch einmal hielt er an diesem Tage inne, als er von einer der Waldhöhen aus zum ersten Mal rechts und links der Straße zwei der großen Gewässer sich ausbreiten sah, auf denen an jenem vergangenen Abend bei der Drehung seines Globus seine Blicke anhaltend geruht hatten. Anders war nun das wirkliche Bild, aber noch tiefer als damals kam ihm das Gefühl zurück, hier an der Grenze nicht nur des Reiches zu stehen. Was sich hier in die Wälder hinein dehnte, blau, in den Buchten noch von grauem Eise bedeckt, von braunen Rohrflächen gesäumt, vom klagenden Ruf der Haubentaucher überhallt, schien ihm nach den brennenden und dann verfinsterten Jahren wie ein Land, das außer allem Geschehen geblieben war, als sei es von Eisbergen bedeckt gewesen und nun erst in makelloser und strenger Klarheit wieder ans Licht gestiegen. Es erschien ihm unähnlich allen anderen Ländern des Reiches, nicht wie ein Blatt, auf dem die Hand des Menschen geschrieben, gestrichen, gelöscht und wieder geschrieben hatte, sondern als ein Unberührtes, auf dem ein Anfang geschehen könnte, keine Wiederholung, Verbesserung oder Berichtigung, sondern eben ein Anfang, eine erste Furche, und die Vögel unter dem Himmel würden sich über ihr versammeln und zusehen, was nun hier unter der Hand des Menschen zum ersten Male geschehe.
Er dachte an sein Kind und wie es dort aufwachsen musste, behütet, aber inmitten der Bilder des Verfalls und des Rausches; wie er es für ein paar Jahre zurücklassen musste, aber wie er hier mit ihm einmal stehen wollte, hier oder an ähnlicher Stelle, um ihm zu zeigen, wofür man leben müsste, überall auf der Erde, wo die Menschen sich noch Mühe gaben.
Um die Dämmerung erst kehrte er ein, in einem Waldkrug, den er an der Straße fand und den auch seine Karte angezeigt hatte. Kaum in seinem Leben hatte er Armut und Verfall so nahe gesehen, doch schien ihm das erste eine gute und nützliche Einleitung zu dieser Reise zu sein, die ja, wie er hoffte, nicht nur eine Reise bleiben sollte. Und da er sein kleines Zimmer sauber fand, mit dem freien Blick auf abendliche Schonungen, war er es alles zufrieden und bat nur, bis zur Bereitung des Essens am Feuer in der Küche sitzen zu dürfen, was ihm nach einigem Widerstreben auch gewährt wurde.
Eine schweigsame Frau schaffte am Herde, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, in Joachims Alter etwa, sahen mit großen Augen von der Holzbank aus ihm zu, indes der Mann hinter dem Tisch stehenblieb, den Rücken gegen das Fenster gewendet, und erst auf besonderen Zuspruch hin seine Arbeit an einem kleinen Netz wieder aufnahm, durch das er mit einer hölzernen Nadel neue Maschen zog. Er war gekleidet wie die Menschen, die Thomas unterwegs gesehen hatte, in hohe Stiefel und hartgewebtes graues Zeug, und auch in der Wärme des Raumes hatte er sein Halstuch nicht abgenommen, das in zwei Zipfeln ihm über den Kragen hing. Die Gesichter schienen Thomas schwer, müde und gleichsam schon von den großen Ebenen mitgeformt, die sich hinter diesen Wäldern und Seen nach Asien hin erstreckten.
Ja, er sei zur See gefahren, sagte Thomas auf die erste ungeschickte Frage hin, sein ganzes Leben lang, als Steuermann auf einem großen Dampfer. Aber da es nun damit zu Ende sei, es ihm auch in den engen Städten nicht gefiele, wo der Wind nur Staub und Papierfetzen vor sich hertreibe statt des salzigen Schaumes der See, so habe er beschlossen, sich in dieser Landschaft umzutun, ob er nicht etwas wie eine Fischereipacht fände, von der man bei harter Arbeit doch sein Brot habe und zum mindesten sein Essen, wenn das bedruckte Geld schon immer schneller in den Rauchfang stiege.
Das könne wohl möglich sein, meinte der Mann langsam, und wenn er auch hier in der Gegend nichts wisse, vielmehr alles in festen Händen sei, so könne er ihm doch hier und da einen Namen an den Seen sagen, wo er Bescheid und wohl auch Rat finden werde. Denn es sei viel Unruhe in der Landschaft, nicht nur wegen der Angst vor den Polen, sondern es sei überall auch wie bei ihnen selbst, dass die jungen Leute den Dienst aufsagten, nicht nur, weil es ihnen zu einsam sei, sondern auch weil sie meinten, die Arbeit werde nun abgeschafft oder mindestens denen aufgelegt, die bisher nach ihrer Meinung nicht gearbeitet hätten. So seien auch sie allein geblieben, und Knecht und Magd seien des Weges gegangen, in die Hauptstadt der Provinz, wo sie nun wahrscheinlich schon auf einem goldenen Throne säßen.
Nur eines scheine ihm bedenklich, dass der Herr bei aller schweren Arbeit auf See doch so zarte Hände behalten habe und dass es ihm vielleicht nicht leicht fallen könnte, bei allem guten Willen, an dem er nicht zweifle, dies harte Handwerk zu ergreifen.
Darüber beruhigte ihn Thomas nun, schrieb sich auch die Namen in sein Taschenbuch, die der Mann ihm nannte, und bat schließlich, dass er zusammen mit ihnen hier in der Küche essen dürfte, wo es warm sei, er ihnen Mühe erspare und er sich schließlich auch gleich zu Beginn an die Welt gewöhne, in der er doch nun sich einrichten wolle.
Beim Essen, vor dem die Frau ein Gebet gesprochen hatte, erfuhr er, dass sie einer religiösen Gemeinschaft angehörten, die in der Gegend weit verbreitet sei, dass sie mit Sorgen auf den Gang der Zeit blickten und einige von ihnen sogar der Meinung seien, dass die Gesichte des heiligen Johannes sich nun bald erfüllen würden.
Dem widersprach nun Thomas, meinte, dass das deutsche Volk auch aus diesen Zeiten der Wirrnis sich wiederaufrichten werde, und berichtete auch von seinem Besuch bei dem Pfarrer, der ihn recht eigentlich auf diesen Weg gebracht habe und bei dem er wieder gelernt habe, wie gefährlich es sei, ganze Klassen oder Stände oder Berufe leichthin abzuurteilen, da wir ja doch nie mehr als einzelne Menschen unter ihnen kennten.
Dann ging das Gespräch auf seine Fahrten und die Seeschlachten des Krieges und wieder zurück zu Schicksalen und Gebräuchen dieser Landschaft, indes sie ihre kurzen Pfeifen rauchten, die Frau ihr Strickzeug in den Händen hielt und die Kinder atemlos auf seine Rede lauschten, als sei Sindbad der Seefahrer aus den vertrauten Kiefernwäldern aufgestanden, um seinen Glanz über ihr Leben zu legen.
Und als Thomas ihnen gute Nacht bot und die schmale Treppe zu seinem Schlafraum hinaufstieg, ein Licht in der Hand, schien das Ganze ihm als ein schönes Tor zu seiner neuen Welt, voll guter Vorbedeutung und von allem Gewohnten und Vergangenen wie durch Jahrzehnte geschieden.
Immer tiefer nahm das Land ihn nun auf. Tag für Tag fuhr er an den Seen entlang und von Dorf zu Dorf, mitunter verweilend, wenn ihn etwas zu halten schien. Die Witterung wechselte in den Zeiten der Nacht- und Taggleiche, Stürme und Regen fielen über das Land, und eines Abends trieb sogar der Schnee in weißen Streifen zwischen den grauen Stämmen hin. Dann aber gewann die Sonne wieder das Feld, trocknete Straßen und Pfade, das Eis in den Buchten schmolz, und über der jungen Saat hingen hoch im Blau die singenden Lerchen. Immer aber gingen die großen Wälder mit ihm mit, wechselnd zwischen Laub- und Nadelholz, aufblauend, erglühend und sich wieder verdunkelnd mit dem Gang der Sonne, und mit ihnen die strenge und reine Luft, die das Atmen leicht machte und die sorgenlosen Jahre wieder heraufrief, als er hoch über Segeln und Meer im Mastkorb gesessen hatte.
Der Rat des Mannes aus dem Waldkrug hatte sich als nützlich erwiesen, einige Angebote fand er gut und sogar verlockend, doch hielt er die Zusage noch hin, weil ihm das Letzte noch zu fehlen schien, die jähe Zustimmung des Herzens, von der er meinte, dass sie einmal kommen werde, und die ihm wichtiger schien als Verstand und kühle Berechnung.
So kam er am späten Nachmittag des zehnten Tages zu einem Meilenstein an einer breiten Landstraße, von dem ein schmaler Weg zu einer Försterei abbog, und da der Wald ihm schöner schien als jeder andere, den er bisher durchfahren hatte, von Birkenschonungen und alten Eichen durchsetzt, so ließ er den breiten Weg und meinte, er werde zur Nacht schon unterkommen, wenn nicht im Forsthaus, so doch wenigstens in einer Feldscheune oder in einem der Wildheuhaufen, die er hier und da in den Schonungen angetroffen hatte. Die Luft war milder geworden, ein südlicher Wind ging durch den Wald und brachte den schweren Duft des Seidelbastes mit, der an den sonnigen Hängen blühte.
Der Förster trat aus dem Hoftor, als Thomas das Gehöft erreichte. Er war ein großer, gebeugt gehender Mann, die Schläfen unter dem Hut schimmerten schon weiß, und der Blick seiner ganz hellen Augen ging durch Thomas hindurch, als sehe er gar nicht ihn, sondern hinter ihm einen anderen, der unbemerkt in seinen Spuren stände. So einsam schien er Thomas vor dem schweigenden Gehöft, dass er meinte, es sei nicht recht, ihn anzusprechen und seine Bitte vorzutragen, sodass er stumm dastand, die Hände auf der Lenkstange des Rades und den Fuß schon wieder auf dem linken Pedal, als sei er sofort bereit, umzukehren, wenn jener den Wunsch dazu zu erkennen gebe.
Doch trat der Förster wider Erwarten auf ihn zu, hob die Hand grüßend an den Hut und fragte ihn mit leiser Stimme ohne Vorbereitung, ob er ein Seemann sei. Und als Thomas das mit einiger Verwirrung bejahte, nahm der andere ihn sanft beim Arm, bat ihn, ein Stück Weges mit ihm mitzukommen, und meinte dann, als der Wald sie schon wieder aufgenommen hatte, er dürfe nicht verwundert sein, es habe jeder harte Beruf seine Kennzeichen und wäre es hier auch nur eine bestimmte Helligkeit der Augen und die Schärfe der Linien von den Nasenflügeln zum Munde. Zudem kenne er sich etwas aus unter Seeleuten, da sein Sohn selbst einer gewesen sei, und es freue ihn, hier in seinem Walde einen wiederzusehen, der wahrscheinlich auch »dabeigewesen« sei.
Ja, dabeigewesen sei er allerdings, erwiderte Thomas.
Das habe er gedacht, meinte der Förster, und er brauche nun vor seinem Hause nicht umzukehren, sei als Gast willkommen und müsste ihn zuerst nur auf den Schnepfenzug begleiten, da er gern zunächst allein mit ihm sein möchte. Etwas wunderlich sei seine Frau, ja vielleicht sogar sehr wunderlich, wie nach dem Kriege ja überhaupt seltsame Menschen übriggeblieben seien, als habe der Tod sie nicht gewollt nach all dem jungen Blut, das er getrunken habe.
Zuerst schwieg Thomas, auf eine merkwürdige Weise ergriffen von der Art dieses Mannes, der wie nach einer langen Krankheit sprach, leise, eilig, als wisse er nicht genau, ob die Gespenster des Fiebers noch um ihn ständen oder ob er schon voller Vertrauen zu den Wachenden und Gesunden von den Gesichtern seiner Träume sprechen dürfe. Dann aber begann er zu erklären, wer er sei – immer noch der Steuermann auf großen Dampfern –, und weshalb er hier sich umsehe. Auch dass er eigentlich vorgehabt habe, der großen Straße bis zur Stadt zu folgen, und nur etwas nicht Bewusstes ihn veranlasst habe, zur Försterei zu fahren. Wahrscheinlich, weil der Wald ihm so gut und vertraut vorgekommen sei, oder auch nur, weil der Südwind ihn müde gemacht habe.
Der Alte nickte dazu, auf eine sichere Weise, als wisse er das besser, und meinte, sie würden eine gute Nachbarschaft halten. Er sei dessen gewiss, denn er zweifle nicht daran, dass hier das Ziel des Gastes erreicht sei; doch wollten sie erst später darüber sprechen, jetzt aber ihren Stand einnehmen.
Sie waren unterdes an den Rand niedriger Schonungen gekommen, gingen einen grasbewachsenen Weg hinaus, bis sie über einem kleinen Bruch standen, in dessen Wasserblänken der Abendhimmel sich spiegelte, und blieben dann zwischen ein paar Wacholderbüschen, der Förster auf seinem Sitzstock und Thomas auf einem der breiten Baumstümpfe, die die Sonne des Tages eingesogen hatten.
Noch nie meinte Thomas den Wald so groß und unberührt gesehen zu haben, fast dass er zum Fürchten hätte sein können, wäre nicht das hundertfältige Lied der Drosseln gewesen und der fremde Ton hoher Zugvögel, die mit dem Winde über den Wald zogen. Auch gingen seine Gedanken immer wieder zu dem Wort von der Nachbarschaft zurück, und von Zeit zu Zeit betrachtete er unaufdringlich den etwas vor ihm Sitzenden, der zwar das Gewehr über den Knien hielt, aber dessen Auge und Ohr weit von aller Jagd entfernt zu sein schienen, zu den Abendwolken aufgehoben, die schmal, lang und rotgesäumt in den nördlichen Horizont fuhren, ein schweigendes Geschwader, das den Schauplatz verließ.
Als dann endlich die Drosseln verstummten, eine nach der anderen, und zuletzt nur noch aus dem schwarz gewordenen Hochwald auf der anderen Seite ab und zu ein Flötenton in das Schweigen fiel, meinte Thomas, seiner Jugendjahre sich erinnernd, dass es nun Zeit sei, alle Sinne auf die Jagd zu richten und auf den Ruf der Schnepfe zu warten, der bei aller Sanftheit so erregend in das Herz des Jägers fällt.
Aber gerade da, als er leise aufstehen wollte, begann der Förster zu sprechen, und es war aus dem Klang seiner Stimme unschwer zu erraten, dass seine Gedanken die ganze Zeit nicht bei der Jagd gewesen waren.
Beim Skagerrak sei er vielleicht auch dabeigewesen, fragte er behutsam. Und auf Thomas’ bejahende Antwort, ob sogar vielleicht auf einem der Panzerkreuzer? Der »Seydlitz« etwa?
Nicht gerade dort, aber auf einem Schwesterschiff, erwiderte Thomas und begann zu ahnen, worüber er Rede und Antwort zu stehen haben werde. Doch war nun gerade der Ruf der ersten Schnepfe zu hören, über die Schonungen sich nähernd, über den kleinen Bruch, immer näher und deutlicher, bis das graue, leise schwankende Bild aus dem Hintergrund des Abends sich löste, der im Suchen sich hin und her wendende Kopf mit dem langen Schnabel gerade über ihnen, der sanfte, wie tief aus der Kehle dringende Ton … und nun alles vorüber war, schon hinter ihnen, immer leiser wurde und verschwand.
Thomas war aufgesprungen und hatte die Hand nach dem vor ihm Sitzenden ausgestreckt, doch ließ er sie beschämt wieder sinken, als er von der Seite das Gesicht sah, das einem fernen Vorgang zugewendet schien, einem Vorgang, der weit hinter der Erscheinung des Vogels seine Umrisse in den Abendhimmel zu zeichnen schien.
»Sahen Sie … das Feuer?« fragte die leise Stimme.
»Ja.«
»Aus dem vorderen Turm?«
»Ja, alle sahen es.«
»Eine hohe Säule?«
»Höher als die Masten … aber niemand hat Schmerz gelitten dort, niemand. Es muss gewesen sein wie unter einem Blitzschlag, vorbei, ehe man ahnt, dass es trifft.«
»So sagen sie, und so schrieben sie auch, aber keiner ist dabeigewesen, den es nur versengt hätte, nur das Haar und die Augenbrauen, und er hätte es dann erzählen können …«
Nun legte Thomas doch leise die Hand auf die gebeugte Schulter vor ihm. »Man soll das nicht ausdenken«, sagte er. »Wie sollten wir leben, tapfer und ordentlich, wenn wir das täten?«
»Ja, ja … auch ich sage so, zu ihr, die darüber wunderlich geworden ist … nur … er fürchtete sich so vor dem Feuer, verstehen Sie? Da war so eine schreckliche Geschichte in seiner Kindheit … wir hatten den Backofen geheizt, zum Brotbacken. Die Glut war schon herausgenommen und dann auch die Brote. Der Backofen stand allein im Garten, abseits, wie auf allen Förstereien. Da kam er mit den Hunden hinter der Katze her, so im Spiel, und sie sprang hinein. Er lachte und warf die Türe zu, er wusste nicht, dass es glühend heiß war. Und im selben Augenblick schoss ich am Gartenzaun einen Hühnerhabicht. Da vergaß er alles, die Katze, den Ofen, die Hunde. Er lebte immer im Augenblick, ganz und gar … Erst nach zwei Tagen fiel es ihm ein. Wir hörten ihn schreien, so schrecklich, dass ich es heute noch höre. Da hatte er sie gefunden … und nun er selbst, ebenso … das Wasser ist kühl und tief, und ich denke, dass man dort schlafen kann, auf dem Grunde, wo die fremden Pflanzen wehen … aber so, verkohlt und verbrannt … Gottes Ebenbild zerstört und geschändet …«
Er hob nicht die Hand vor die Augen, er sah immer noch geradeaus, dorthin, wo der Abendstern mit sanftem Strahlen über dem Walde stand.
»Nein«, sagte Thomas mit Entschiedenheit, »dann hat man Ihnen Falsches gesagt und geschrieben. Wir haben es in den Hafen gebracht, das zerschossene Schiff, und von meinen Kameraden waren einige dabei, als sie die Türme öffneten … nichts war geschändet, sie waren … sie zerfielen in Staub und Asche, als man sie heraustrug … ich sage Ihnen die Wahrheit, und Sie müssen es mir glauben!«
»Staub und Asche«, flüsterte der alte Mann, »das ist besser, viel besser … das ist, wie Gott es vorgeschrieben hat in der Bibel … Staub und Asche, das ist gut, und ich brauche nicht mehr zu hadern …«
Er blieb noch sitzen, bis der Waldkauz lautlos über ihnen kreiste. Dann gingen sie den dunklen Weg zurück. »Gruber hieß er«, sagte er, »Valentin Gruber … aber Sie haben ihn nicht gekannt? Nein, die Schiffe waren ja auch so groß … keiner von uns weiß, weshalb er so aufs Meer wollte, niemals gab es das in unserer Familie … Der See hat es ihm angetan, dort am Hause, nicht der Wald, nur der See. Sie werden noch merken, dass er einen Zauber über den Menschen wirft … Valentin hieß er, weil ich katholisch bin, und in meinem Glauben wurde er getauft und aufgezogen. Die Frau hat immer gesagt, wir hätten einen falschen Gott, und davon sei es alles gekommen … sagen Sie ihr nichts und wundern Sie sich auch nicht. Wer leidet, ist in allem entschuldigt, nicht?«
»Ja«, sagte Thomas leise.
Der Tisch war schon gedeckt, aber die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Sie wendete sich erst um, als Gruber sagte, ein Gast sei da. »Willkommen!« sagte sie und streckte ihre Hand aus. Die Hand war kalt und fast wie Holz, und ihre Stimme kam wie aus einem Automaten heraus. Dann ließ sie die Hand wieder fallen und ging an Thomas vorbei, um ein drittes Gedeck zu holen. Sie sah ihn nicht. Ihr Gesicht war nicht vergrämt oder versteint, sondern erloschen. Es war erblindet und ertaubt, ausgehöhlt vom Schmerz, und nur die Hülle war noch zurückgeblieben, brüchig und tot wie die Haut einer Larve.
Als sie an den Tisch traten und die Frau die Hände zum Gebet zusammenlegte, machte Gruber eine Bewegung, als wollte er sie hindern, aber dann sah er nur vor sich nieder. Die Frau blickte auf den Brotkorb in der Mitte des Tisches, und ihre Lippen bewegten sich, wie von einer verborgenen Maschine getrieben. Sie betete:
»Lieber Gott, sei unser Gast
und sieh, was du angerichtet hast.
Sollen die Toten dir gut bekommen,
alle Heiden und alle Frommen,
und was du ertränkt hast und verbrannt,
nimm es fröhlich in deine Hand!
Amen.«
Dann setzte sie sich. Ihr schwarzes, zerschlissenes Seidenkleid knisterte bei jeder Bewegung, und wenn sie einen Bissen zu sich nahm, sah es aus, als fütterten fremde, nicht ihr gehörige Hände ein starres, totes Götzenbild. Sie sprach kein Wort und sah auch Thomas nicht an. Sie wusste sicherlich nicht, dass ein Fremder am Tisch saß. Sie hatte es längst vergessen. Vielleicht sah sie ein Kind, das mit dem Ruder durch den Wald lief, zum Seeufer hinunter, oder sie sah die Feuersäule aus den Geschütztürmen brechen, oder sie sah die Gestalt eines Gottes, der mit blutigen Händen seine Toten aß. Sie war hinausgetreten aus allem Menschlichen, und Thomas schien es, als gehe ein kühler Hauch von ihrem Kleide aus, wie von einem Grabgewölbe. Es fröstelte ihn, und er schwieg.
Nach dem Essen räumte sie den Tisch ab und kam nicht wieder.
»So ist es nun«, sagte Gruber, als sie ihre Pfeifen angezündet hatten. »Sieben Jahre, mein lieber Herr … sieben Jahre … andere würden trinken oder fluchen, aber ich kann das nicht. Er war doch auch mein Sohn, nicht wahr? Und so bin ich doch auch schuldig, nicht wahr? Sehen Sie, manchmal im Walde, wenn ich so vor mich hingehe, dann spreche ich für mich, laut und lange, um zu sehen, ob ich es noch kann, und ich lächle auch, denn das will man doch nicht verlernen. Ich spreche mit ihm, wie früher, als wir zusammen durch den Wald gingen. Er war immer fröhlich, und wir lachen, damit er nicht tot ist, verstehen Sie? Hier, im Hause, ist er immer aufgebahrt, wissen Sie, und das will ich nicht. Der Krieg hat ihn genommen, aber er ist immer bei mir, und seitdem Sie das gesagt haben, das von Staub und Asche, da will ich wieder ganz fröhlich sein … so gut ist es, dass Sie gekommen sind …«
Wenn er sie sähe, dachte Thomas und sah den schweren Mann vor dem hölzernen Christus stehen, aber auch er würde nicht helfen … sieben Jahre, und ich habe mich beklagt? Es war ihm fast, als liebte er diesen alten Mann, der wieder fröhlich sein wollte. Das Haar fiel ihm noch schwarz in die Stirne, nur die Schläfen waren weiß, und nun wusste er auch, weshalb der Sohn zur See gefahren war: die Augen mussten es sein. Er musste dieselben Augen gehabt haben, denen die Dinge immer zu nahe waren und die erkennen wollten, was hinter den Dingen war. Er hatte geglaubt, dass man das auf dem Meere lerne, dem einzigen Element, das keinen Vordergrund hatte. Aber er hatte wohl nur gelernt, dass der Tod in allen Elementen zu Hause ist.
»Und … es gibt keine Hilfe?« fragte er.
Der andere schüttelte den Kopf. »Pfarrer und Ärzte«, sagte er, »die arbeiten immer mit den Dingen, die für sie aufgehört haben, wissen Sie. Gott und Pflicht und guter Wille und so weiter.« Er sah sich vorsichtig um. »Ich bin ein einfacher Mensch«, fuhr er leise fort, »aber ich weiß es. Es gibt Mütter und Kinder, bei denen man die Nabelschnur nicht zerschnitten hat, verstehen Sie? Und so war es hier. Sie bleiben immer eins, sie werden nie zwei. Sie hat es auch gewusst, als das dort geschah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeigte mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt haben sie ihn fortgerissen‹, sagte sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut ausgeflossen ist … Mein lieber Herr, das muss man nun so lassen, und nun ist es so gut, dass Sie hierbleiben und ich manchmal ein bisschen bei Ihnen sitzen darf … wie ist Ihr Name, lieber Herr?«
Sein Gesicht war von innen beglänzt, als er sich vorbeugte und lächelnd in Thomas’ Augen sah.
»Orla«, sagte Thomas. »Thomas Orla … es ist ein märkischer Name. Aber weshalb meinen Sie immer, dass ich hierbleiben werde?«
»Sie sind gesandt, lieber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nennen. Gesandt wie ein Engel des Herrn. Sehen Sie, manchmal in diesen Jahren habe ich gezweifelt, an Gott, ja, das habe ich getan. Aber an den Heiligen nicht. Von Kind auf war ich bei ihnen, das ist in unserem Glauben so, näher bei ihnen mitunter als bei Gott. Er ist so weit, so schrecklich weit. Aber sie sind nahe, an unserer Seite, denn sie haben auch gelitten, ebenso wie wir, mehr noch. Aber Gott leidet nicht, wissen Sie? Nun, und die Heiligen, sie haben Sie gesandt. Sie haben gesehen, dass ich nicht mehr weiter wusste, und da haben sie mir das geschickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neues Leben, denn ich glaube es. Und dafür werden Sie hier finden, was Sie suchen. Alles hängt zusammen bei den Menschen, gute Tat und guter Lohn … Der See hier, er ist zu verpachten, oder nicht zu verpachten, sondern der Fischerposten ist zu vergeben, Fischer und Jäger, beides zusammen. Ein ruhiger Posten, auch wenn der General wunderlich ist … alle sind hier wunderlich … man kann leben davon, bequem leben, wenn man einfach ist. Ein kleines Haus auf der Insel, mir gegenüber, einen Büchsenschuss weit, ein Rohrdach, ein großer Herd, ein Netzschuppen. Und ein kleiner Wald, ein schöner Wald, Jungholz mit Fichten und Birken und dazwischen alte Eichen mit trockenen Wipfeln, wo die Reiher abends einfallen. Und ganz allein, verstehen Sie? Ganz allein, nur Wasser und Wald in der ganzen Runde. Man braucht ein Boot, um zu Ihnen zu kommen …«
»Und der General?« fragte Thomas. Seine Pfeife war ausgegangen, und er lauschte wie in einem Märchen. Ein Zauber fiel von dem alten Mann über ihn.
»Ja, ihm gehört das alles, lieber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein armer Mann, beide Söhne gefallen, und ich habe sie beide auf den Knien gehalten. Nur eine Enkelin ist bei ihm, und sie ist wie ein Engel in dem dunklen Haus … und Sie werden die Stelle bekommen, ich selbst will es ihm sagen. Der sie jetzt hat, ist ein Bolschewik, verstehen Sie? Einer, der ›Herr‹ genannt werden will, und seine Mutter hat noch Kartoffeln von meinem Feld gestohlen. Und der den General einen ›Blutsäufer‹ nennt, und jedes Kind weiß, dass er nur Rotwein trinkt. Nur dass Kanonen in der Schlosshalle stehen und zwei Diener in Uniform dabei. Einen Putsch will er machen, sagen die Bolschewiken, aber jeder weiß, dass die Kanonen nicht geladen sind.«
»Können wir es sehen?« fragte Thomas und stand auf. »Die Insel, meine ich, und alles … der Mond scheint doch, und vielleicht ist morgen früh alles fort und Sie haben nur geträumt …«
Der alte Mann lächelte. »Auch er war so«, sagte er, »alles gleich und sofort, damit es nicht verschwunden ist am nächsten Tag. Aber nichts verschwindet, lieber Herr. Wenn man alt geworden ist, weiß man, dass nichts verschwindet. Aber wir können gehen … beim Mondlicht wirft es die Netze über Sie, mehr noch als am Tage.«
Die Luft war noch wärmer geworden, und ein paar Regentropfen aus einer verlorenen Wolke fielen schwer in das trockene Laub unter den Eichen. »Geht dort wer?« fragte Thomas leise. Nein, nein, das sei nur der Regen und eben der Zauber. Immer klinge es hier so, als gehe wer durch die Nacht. Aber niemand gehe, ganz still und leer sei der Wald. Außer dass die Toten umgingen aus Land und Meer, aber darüber wisse er nichts.
Der Mond stand noch tief, vor ihnen, und sie sahen nur sein Licht. Der Himmel war sanft beglänzt, wie aus einem fernen Tor, und mitunter blitzte es im Walde auf, ein einzelner Strahl, der durch eine Lücke im Geäst auf feuchte Rinde fiel. Eulen riefen, und vom Wasser schrie ein unbekannter Vogel. Es war, als frage jemand nach dem Wege.
Der Fußpfad senkte sich, und dann war das Wasser zu sehen. Es lag als eine matte Scheibe in einem dunklen, vielfach gesprungenen Rahmen. Es dehnte sich, weit hinaus, und in der Ferne wurde es grauer und matter, bis es mit der Schwärze verfloss. Eine schmale Mondbahn lief bis zu ihren Füßen, und in der Höhe, zwischen dunklen, leise treibenden Wolken, standen die Sterne. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Brücke des Mondlichts, und die Schilfhalme standen wie Speere mit glühenden Spitzen am Ufer. Und doch war es wieder, als ginge jemand leise durch den Wald und über das Wasser hin, verstohlen und atemlos, bald zur Rechten und bald zur Linken.
»Dort ist sie«, sagte der Förster leise.
Thomas sah die Insel, einen Büchsenschuss weit. Sie lag in vollkommener Schwärze auf der matten Scheibe, nur um die Wipfellinie war ein fließender, weißer Schein, und die trockenen Äste der Eichen standen wie Gittermasten gegen den Mond. Dunkle, schwere Vögel saßen regungslos in ihrem Netzwerk.
»Hier ist der Kahn«, sagte der Förster.
Aber Thomas wollte nicht fahren. Er wusste, dass es hier war, wo er leben und wahrscheinlich auch sterben würde. Seine Augen sahen es, und mehr noch sagte es sein Herz. Aber er wollte nicht hingehen wie in einem Zauber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünfundvierzig Jahre alt und brauchte den Tag, um dies zu sehen. Auch am Morgen würde es noch da sein, und es würde gut sein, wenn es regnete und ein harter Wind ginge, dass alles grau und wirklich aussähe. »Nein, morgen früh«, sagte er.
Sie standen noch eine Weile und sahen hinaus. Einer der großen Vögel über der Insel richtete sich auf und schlug mit den Flügeln. Ein heiserer Ruf kam über das Wasser herüber. Dann war alles wieder wie zuvor.
»Das sind die Reiher«, sagte der Förster. »Der General liebt sie nicht, aber es sind edle Vögel, und außer ihnen haben Sie niemand auf der Insel.«
»Ich hoffe, dass das gut sein wird«, sagte Thomas.
Dann gingen sie den gleichen Weg wieder zurück.
Das Haus war dunkel, und Thomas stieg mit einer Kerze die Treppe hinauf.
»Nebenan war sein Zimmer«, sagte Gruber. »Sie lässt keinen hinein. Aber es ist ganz still dort, und Sie brauchen sich nicht zu fürchten.«
Thomas stand noch am offenen Fenster. Nein, er fürchtete sich nicht. Alles würde gut sein, wie er es gesehen hatte. Er wusste, dass es auf ihn gewartet hatte, sonst würde er ja weitergefahren sein, die breite Straße zur Stadt. Man musste nur gehorsam sein.
Er ließ das Fenster offen und sah noch im Dunkeln zur niedrigen Zimmerdecke auf. Der große Vogel … wie er die schweren Flügel geöffnet hatte … und dann wieder in Schlaf versunken war … der Mond fiel in ihre geschlossenen Augen … die Sterne kreisten … alles war gut und ruhig dort … er wollte aussteigen dort und arbeiten … nie war er allein gewesen … Schiffe, Menschen, Häuser … er hatte keinen Ehrgeiz mehr und wenig Glauben … wie ein Geschwätz … aber dort wollte er sich bereden, so einsam wie die großen Vögel …
Dann schlief er ein.