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Nicht lan­ge nach dem großen Krie­ge stand um die Abend­zeit ei­nes Vor­früh­lings­ta­ges ein Mann an ei­nem der West­fens­ter sei­nes Hau­ses und hob, in Ge­dan­ken ver­lo­ren, den Blick von ei­nem al­ten und un­an­sehn­li­chen Buch, das er in den Hän­den hielt. Der große Abend­him­mel, wol­ken­los und von fer­nen Feu­ern bren­nend, er­füll­te durch das wei­te Fens­ter den gan­zen Raum mit röt­li­chem Licht. Die far­bi­gen Ein­bän­de in der Bü­cher­wand glüh­ten, die fremd­ar­ti­gen Waf­fen und Mas­ken in ei­nem seit­li­chen Schrank schim­mer­ten in ei­nem fast bö­sen Glanz, und der un­ter Qualm und Ne­bel feu­ern­de Kreu­zer auf dem ein­zi­gen Bil­de an der Wand schi­en, so be­glänzt, ge­ra­des­wegs in den flam­men­den Ab­grund ei­ner Göt­ter­däm­me­rung hin­ein­zu­stür­men.

Aber das ver­zau­bernds­te Licht sam­mel­te sich auf der ge­wölb­ten Flä­che des rie­si­gen Glo­bus, der auf ei­nem schwar­zen So­ckel frei vor der Mit­te der Bü­cher­rei­hen stand. Sei­ne Ge­bir­ge wa­ren mit brau­nen Er­he­bun­gen an­ge­deu­tet, sei­ne Ebe­nen wie Wie­sen ge­tönt, von dem Netz­werk der Stro­me durch­floch­ten, und sei­ne blau­en Mee­re schim­mer­ten nun pur­purn im Abend­licht.

Die Bli­cke des Man­nes, vom Lich­te ge­löst, wen­de­ten sich dem be­strahl­ten Ab­bild der Erd­ku­gel zu, wo die klei­nen In­sel­grup­pen wie Per­len im In­di­schen Ozean schwam­men und der Pik von Co­lom­bo einen spit­zen Schat­ten über die Flut zu wer­fen schi­en. Die Küs­ten der Mee­re wa­ren mit ei­nem fei­nen Glut­strich ge­gen die Fest­län­der ab­ge­setzt, und jen­seits des Hi­ma­la­ja, auf den gel­ben ti­be­ta­ni­schen Län­dern, schi­en schon eine schwei­gen­de Däm­me­rung auf frem­de Stern­bil­der zu war­ten.

Lan­ge blieb der Mann in die­ses Bild ver­sun­ken, bis es un­ter grün­li­chen und grau­en Schat­ten im­mer mat­ter wur­de, die Küs­ten ver­schwam­men, die Tä­ler sich ver­dun­kel­ten und es zu ei­ner blas­sen Schei­be er­losch, ei­nem fer­nen Gestir­ne gleich im Rau­me schwe­bend.

Nun, in der wach­sen­den Stil­le des Abends, hob das Brau­sen der ab­sei­ti­gen Haupt­stadt sich über die Gär­ten der Vor­städ­te und stand wie der Ton fer­ner Bran­dung, un­merk­lich stei­gend und fal­lend, über der Däm­me­rung. In den licht­grün ver­blass­ten Him­mel rag­ten die Stäm­me der Kie­fern, schwarz und un­be­wegt, über ei­ner fer­nen Stra­ße schim­mer­ten wei­ße Lam­pen auf, schnell und nach­ein­an­der, und wer lan­ge auf dem Mee­re ge­lebt hat­te, moch­te nun bei halb­ge­schlos­se­nen Au­gen leicht sich ein­bil­den, wie­der auf ei­ner Brücke zu ste­hen oder hin­ter den Fens­tern der Ka­jü­te,1 das lei­se Brau­sen des Schif­fes im Ohr, in­des die Lich­ter des Lan­des sich fern und laut­los ver­scho­ben, zu­rück­g­lit­ten und erstar­ben, hin­ab­ge­taucht hin­ter die Krüm­mung der Erde, und das Un­be­fah­re­ne vor dem Bug2 sich nun be­herr­schend er­hob.

Im letz­ten Licht nahm der Mann noch ein­mal das Buch vor die Au­gen, als woll­te er sich ei­ner be­stimm­ten Stel­le ver­ge­wis­sern, dass sie auch noch da­ste­he, nicht mit­ge­löscht von der Däm­me­rung der Welt. Dann ließ er es sin­ken und blick­te hin­aus, die lin­ke Schlä­fe an den Vor­hang des Fens­ters ge­legt. Sein Ge­sicht über dem dunklen Rock emp­fing nun das letz­te Abend­licht. Schat­ten sam­mel­ten sich un­ter der Stirn und in den tie­fen Fal­ten, die von den Na­sen­flü­geln zum Mun­de lie­fen, und so war das Ge­sicht nun nicht un­ähn­lich ei­nem ver­klei­ner­ten und ver­schmä­ler­ten Ab­bil­de je­ner Erde, die vor den Bü­cher­rei­hen schweb­te, de­ren Tä­ler im Schat­ten ver­dun­kel­ten und de­ren Um­ris­se sich ver­lo­ren, so­dass nur ein mat­ter Schein an der Stel­le des Ge­gen­ständ­li­chen blieb.

Spä­ter, als die Tür sich plötz­lich öff­ne­te und das Licht des Flu­res fast grau­sam in den schwei­gen­den Raum hin­ein­brach, ließ der Mann sich Zeit, das Ge­sicht nach der im Tür­rah­men Ste­hen­den zu wen­den, und be­vor er sie er­blick­te, tra­ten zu­erst die we­ni­gen nun er­hell­ten Din­ge des Rau­mes in sein Be­wusst­sein: das Bild des Kreu­zers an der Wand, der nun. wie im Licht ei­nes Schein­wer­fers, im­mer noch aus den Pan­zer­tür­men sei­ne düs­ter­ro­ten Sal­ven schoss, eine schma­le Bü­cher­säu­le, die scharf be­grenz­te Bahn ei­nes ro­ten Tep­pichs und eine schma­le Kan­te des Glo­bus, die wie eine Si­chel leuch­te­te.

Dann erst sah er die Frau, die im Abend­kleid auf der Schwel­le stand und den blo­ßen Arm nach dem Licht­schal­ter aus­streck­te.

»Lass das!« sag­te er scharf.

Sie hielt in der Be­we­gung inne, ohne den Arm sin­ken zu las­sen, und auch wenn sie nicht im Licht ge­stan­den hät­te, wür­de er ge­wusst ha­ben, dass sie lä­chel­te, nicht ohne Spott, aber auch nicht ohne Scho­nung.

»Träumt man wie­der?« frag­te sie.

»›Man‹ hat ge­le­sen«, er­wi­der­te er, trat an den Schreib­tisch und leg­te das ge­öff­ne­te Buch sorg­fäl­tig auf die lee­re Plat­te. »In ei­nem Psalm, in dem man seit der Kon­fir­ma­ti­on nicht mehr ge­le­sen hat­te, und dort hat man den Vers ge­fun­den: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Dar­über hat man nach­ge­dacht.«

»Hel­den und Den­ker«, sag­te sie mit ih­rer tie­fen Stim­me, »das ist uns nun üb­rig­ge­blie­ben aus dem Krie­ge …«

Es habe Zeit­al­ter ge­ge­ben, mein­te der Mann, die auf einen sol­chen Be­sitz sehr stolz ge­we­sen sei­en.

Ja, aber eben Zeit­al­ter … nun je­doch, nach die­sen furcht­ba­ren Jah­ren, wol­le man we­der kämp­fen noch den­ken, son­dern eben le­ben, nichts als le­ben.

Auch die Tie­re woll­ten das, und zwar das al­lein.

Ja, das sei eben das Schö­ne und Ge­sun­de an ih­nen. Sie lä­sen we­der Psal­men noch starr­ten sie in die Abend­däm­merung.

»Manch­mal«, sag­te er, in­dem er auf die be­leuch­te­te Kan­te des Glo­bus starr­te, »ver­ste­he ich nun die ganz ein­fa­chen, ganz pri­mi­ti­ven Män­ner, die ab und zu die Lust an­kommt, ihre Frau­en zu schla­gen …«

Sie lach­te, ganz hei­ter und sorg­los, und un­ter ih­rer Hand brach nun doch ohne War­nung das wei­ße Licht aus der Kup­pel un­ter der De­cke her­aus. »Das muss ich se­hen«, sag­te sie, »den Mann, den die­se Lust eben an­ge­kom­men ist.«

»Ich habe nicht von mir ge­spro­chen«, er­wi­der­te er und sah sie über den Raum hin­weg fins­ter an. Ihre Ge­stalt war schmä­ler ge­wor­den in die­sen dump­fen Jah­ren, ihre Züge schär­fer, ihre Au­gen glän­zen­der. Nur ihr Kin­der­mund war der glei­che ge­blie­ben, trotz der leuch­ten­den Far­be, die sie nun auf­trug, klein, mit weh­mü­tig ge­neig­ten Win­keln, und nie­mals wuss­te er, ob sie im Zorn oder im Wei­nen er­be­ben wür­den.

Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen zu­rück zu der Zeit ih­rer ers­ten Lie­be, und er be­griff, wie viel der Krieg ih­nen al­len ge­raubt hat­te. »Geh nun«, sag­te er freund­lich, »es führt ja doch zu nichts …«

Ihre Hand mit den fun­keln­den Rin­gen strich an den ro­ten Ein­bän­den ne­ben der Tür her­un­ter. »Es soll­te ja auch nur dazu füh­ren«, ant­wor­te­te sie, »dass du dich recht­zei­tig um­ziehst. Sie kom­men in ei­ner hal­b­en Stun­de, und du weißt, dass auch der Ad­mi­ral zu­ge­sagt hat. Es könn­te viel­leicht doch nicht ohne Wich­tig­keit für dich sein … er hat sehr viel Ein­fluss.«

Nun ging er doch quer durch den Raum bis zur Schwel­le und lösch­te das Licht. Dann fass­te er sie sanft bei den Ar­men, dreh­te sie um und schob sie in den Flur. Ihre küh­le Haut war ihm fast so fremd wie die ei­ner To­ten. »Set­ze dei­nen Nel­son auf mei­nen Glo­bus«, sag­te er, »und dann kniet vor ihm nie­der und be­tet ihn an, ihn und sei­ne Ein­flüs­se. Mich aber ekelt vor al­len die­sen Ge­s­pens­tern, ver­stehst du? Wer das Spiel ver­lo­ren hat, soll es zu­ge­ben, wie ich es zu­ge­be, und nicht be­haup­ten, be­teu­ern und be­schwö­ren, dass falsch ge­spielt wor­den sei.«

»Ach, Tho­mas«, sag­te sie und lä­chel­te über die Schul­ter zu­rück, »was bist du doch für ein un­vor­stell­ba­rer Narr …«

Er schloss die Tür, aber der Raum war nun nicht mehr der­sel­be. Eine Stra­ßen­lam­pe warf ihr un­ru­hi­ges Licht hin­ein, und der Schat­ten des Glo­bus lag als ein schwar­zer Kreis auf den Bü­cher­wän­den. »So ist es«, mur­mel­te er, »eine dunkle Erde, aber sie be­leuch­ten sie mit ih­ren Ei­tel­kei­ten … wer eine Schlacht ver­lo­ren hat, soll­te schweig­sam wer­den, und wir alle ha­ben mehr ver­lo­ren als eine Schlacht.«

Er lausch­te auf das Klir­ren von Glä­sern und Be­ste­cken in ei­nem fer­nen Raum. Dann trat er vor­sich­tig in den Flur, nahm Man­tel und Hut und öff­ne­te lei­se die Tür zum Kin­der­zim­mer. Die Schwes­ter saß auf dem Bett­rand und ver­such­te, ein klei­nes Holz­schiff un­ter der De­cke her­vor­zu­zie­hen. Aber die klei­nen Hän­de des Jun­gen hiel­ten es am an­de­ren Ende fest.

Bei­de Ge­sich­ter wen­de­ten sich ihm zu, das er­rö­ten­de der Schwes­ter und das zor­ni­ge des Kin­des. Er blieb ste­hen und be­trach­te­te es schwei­gend. Ja, es war sein Ge­sicht. Noch ein­mal wie­der­holt aus ei­ner Un­sum­me von Mög­lich­kei­ten. Lei­se ab­ge­wan­delt, fes­ter in der Stirn, här­ter in den Lip­pen, aber doch wie­der­holt. Sein Ge­sicht und nicht das an­de­re. Die Zu­kunft, das ein­zig aus dem Krie­ge Ge­ret­te­te.

»Was ist, Joa­chim?« frag­te er, noch im­mer ernst.

Die Schwes­ter öff­ne­te die Lip­pen, aber schon hat­te eine klei­ne, brau­ne, zer­schramm­te Hand sich über sie ge­legt. »Schwes­ter Bea­te sagt«, rief die hel­le Stim­me, »dass man mit ei­nem Kriegs­schiff nicht schla­fen geht, und ich habe ge­sagt, dass der Sohn ei­nes Ka­pi­täns mit zwan­zig Kriegs­schif­fen schla­fen ge­hen kann. Sag ihr, dass das recht ist, Va­ter!«

Tho­mas trat ans Bett und griff nach dem plum­pen Spiel­zeug. Die feind­li­chen Hän­de lie­ßen ge­hor­sam los, und er hob es vor die Au­gen wie vor­her das alte Buch. »Der Sohn ei­nes Ka­pi­täns kann in ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, Joa­chim, oder auch un­ter ei­nem Kriegs­schiff, aber mit ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, glau­be ich, nur klei­ne Mäd­chen, die es für eine Pup­pe hal­ten. Ein Jun­ge stellt sein Schiff auf den Schrank, dort, wo die Mor­gen­son­ne es trifft, und wenn er auf­wacht, dann steht es da und ruft ihn zu sei­nem Dienst, nicht wahr?«

Er sah, wie die Haut über der jun­gen Stirn sich fal­te­te in der An­stren­gung, je­des Wort zu ver­ste­hen, und er wen­de­te sich mit dem klei­nen Schiff in der Hand zum Spiel­zeug­schrank, um sei­ne Be­we­gung zu ver­ber­gen. Man hat­te im Krie­ge sel­ten Kin­der ge­se­hen.

»Du bist der klügs­te Mann auf die­ser Erde, Va­ter«, sag­te Joa­chim tief auf­at­mend, mit zwei­fel­lo­ser Si­cher­heit.

»Nicht ganz, Joa­chim, aber we­nigs­tens nicht der dümms­te … und jetzt wird ge­schla­fen, nicht wahr?«

»All­right, Va­ter. Lu­ken dicht und ge­pennt … sagt man so?«

»Ja, so sagt man.«

»Und wo­hin gehst du jetzt, Va­ter? Bleibst du nicht, wenn der Ad­mi­ral kommt?«

»Nein, ich habe vie­le Ad­mi­ra­le in mei­nem Le­ben ge­se­hen. Ich muss jetzt et­was su­chen ge­hen.«

»Was willst du su­chen?«

»Das wirst du spä­ter se­hen. Erst wenn man ge­fun­den hat, soll man sa­gen, was man ge­sucht hat. Ge­be­tet?«

»Ja, Herr Ka­pi­tän«, sag­te die Schwes­ter und zog die De­cke zu­recht.

Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen schon wie­der fort. »Spä­ter, Schwes­ter«, sag­te er, »kön­nen Sie den Psalm mit ihm be­ten, in dem der Vers steht: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Das ist ein gu­tes Ge­bet … ich habe es erst heu­te ge­fun­den …«

Ihre Au­gen, die ihn an­sa­hen, füll­ten sich lang­sam mit Trä­nen, aber er stand schon an der Tür und wink­te mit der Hand. »Wis­sen Sie, dass es eine Grab­schrift auf Ihren Na­men gibt, Schwes­ter Bea­te?« frag­te er. »Hö­ren Sie zu:

›Hier ru­het, die Bea­te hei­ßen soll­te,

und lie­ber sein als hei­ßen woll­te.‹

Ja, von Les­sing so­gar. Ich habe es neu­lich ge­fun­den … ›und lie­ber sein als hei­ßen woll­te …‹ Nun gute Nacht und schlaft wohl!«

Er lä­chel­te sein zer­streu­tes Lä­cheln und schloss lei­se die Tür hin­ter sich.

Drau­ßen blieb er eine Wei­le un­ter den Kie­fern des Vor­gar­tens ste­hen und sah zu den ers­ten Ster­nen auf. Im­mer noch war er auf dem Meer und such­te die lei­ten­den Bil­der über dem Ho­ri­zont. Ein Un­glück, dass sie schon zu An­fang des Krie­ges in die­se Stadt ge­zo­gen war, aber der Ha­fen war ihr ver­hasst ge­we­sen, von An­fang an. Sie hat­te das Meer nie­mals ge­liebt, die großen Win­de, das streng in den Rah­men des Diens­tes ge­spann­te Le­ben. Sie hat­te sei­ne Uni­form ge­liebt und ih­ren Traum, dass er in jun­gen Jah­ren Flot­ten­chef wer­den wür­de.

Er ging nun schon die Stra­ße zur Un­ter­grund­bahn ent­lang. Nein, so war es doch wohl nicht ge­recht … Lie­be war ge­we­sen, aber ohne Prü­fung und Leid, das war es. Sie alle hat­ten das Le­ben ja ge­nom­men wie Früch­te von ei­nem gu­ten Baum. Der lie­be Gott hat­te ihn in ih­ren Gar­ten ge­stellt, und sie pflück­ten und aßen. Wehe dem, der zu sa­gen wag­te, dass sie es nicht ver­dien­ten! Und doch ver­dien­ten sie es nicht, kei­ner von ih­nen. Der Aus­gang hat­te es be­wie­sen und auch das, wie sie es nun hin­nah­men. Ohne Wür­de, und wer ohne Wür­de ist, ist ohne Wert.

Man muss fort, dach­te er, wie aus ei­ner Pest­stadt. Sie wird nicht mit­ge­hen, aber ich muss fort. Ich will nicht ei­ner die­ser »un­be­sieg­ten Hel­den« wer­den. Ich weiß, bei Gott, wie be­siegt ich bin, mehr als sie ah­nen … nur das Kind, das Kind …

Er stand schon in dem küh­len Tun­nel und starr­te auf die Fahr­kar­te in sei­ner Hand. Ein un­ge­heu­rer Preis war quer über das brau­ne Blatt ge­druckt … wo­her nahm sie all das Geld? Für das Haus, die Mäd­chen, die Schwes­ter? »Es ist ei­nes Of­fi­ziers un­wür­dig, an der Bör­se zu spie­len.« Hieß es nicht so? Aber sie spiel­te si­cher­lich Tag und Nacht. Nicht nur Ad­mi­ra­le wa­ren un­ter ih­ren Gäs­ten. Die al­ten Göt­ter stürz­ten, Stun­de für Stun­de. Ein un­vor­stell­ba­rer Narr, das war er si­cher­lich.

Und wes­halb war­te­te er nur auf einen die­ser Züge? Auf die­se don­nern­den Un­ge­tü­me mit ih­rem grel­len Licht, ih­rer ver­brauch­ten Luft und den ver­wüs­te­ten Ge­sich­tern, die ge­ra­de­aus ins Lee­re starr­ten? Wes­halb war­te­te er fast je­den Abend auf sie, um ziel­los und sinn­los durch die­se Stadt zu fah­ren, die er hass­te? Stun­de für Stun­de, kreuz und quer? Mit der Stadt­bahn, dem Au­to­bus, der Stra­ßen­bahn? Durch die Elends­vier­tel und die Pa­läs­te (aber sie wa­ren elen­der als jene), die Au­gen von Ge­sicht zu Ge­sicht wen­dend, als such­ten sie et­was schreck­lich Ver­lo­re­nes? Konn­te er nicht mehr er­tra­gen, al­lein zu sein, oder tat er es ge­ra­de, um al­lein zu sein, hoff­nungs­los al­lein un­ter Ver­fluch­ten und Ver­lo­re­nen? Die an­de­ren kauf­ten Rausch­gif­te; an dunklen Stra­ßen­e­cken, fins­te­ren Tor­we­gen konn­te man sie ha­ben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wie­der wei­ter, be­rausch­ter als sie alle, aber doch mit der eis­kal­ten Angst im Her­zen, es könn­te ihm ent­ge­hen, es könn­te nicht ge­fun­den wer­den, was er such­te: ein Ge­sicht, eine Er­kennt­nis, der Frie­de … er wuss­te es nicht.

»Nun, auch das wird ein Ende ha­ben«, sag­te er laut. Er sprach nun manch­mal mit sich selbst.

Er hat­te nicht auf das be­leuch­te­te Schild ge­se­hen und wuss­te nun nicht, wo­hin der Zug ihn führ­te. Er woll­te es auch nicht wis­sen. Er saß in sei­ner Ecke, sau­ber und ge­ra­de, und ließ wie im­mer die Bli­cke von Ge­sicht zu Ge­sicht wan­dern. Man­che wa­ren ihm nun längst be­kannt: der Mann mit dem Holz­bein und den Schnür­sen­keln, der nach­her an der großen Kir­che stand; die Schau­spie­le­rin, die zu ih­rer Vor­stel­lung fuhr und aus de­ren er­lo­sche­nem Ge­sicht zu le­sen war, dass sie an die­sem Abend zum hun­derts­ten- oder zwei­hun­derts­ten Mal die­sel­be Rol­le spiel­te; das Fa­brik­mäd­chen mit der ro­ten Schlei­fe und die alte Ex­zel­lenz, an der al­les lei­se und un­auf­hör­lich zit­ter­te au­ßer dem Mo­no­kel, das wie vor ei­nem To­ten­au­ge schim­mer­te.

Die Tü­ren wur­den ge­öff­net und wie­der zu­ge­schla­gen, wie Fal­len, die sich hin­ter Ge­fan­ge­nen schlos­sen. Dann heul­te der Mo­tor auf, und die un­ter­ir­di­schen Lam­pen zo­gen wie ein zer­ris­se­nes Band vor­über. Mit­un­ter hob sich der Zug, Schäch­te und Fens­ter spran­gen aus ver­wit­ter­ten Haus­wän­den, und der Fet­zen ei­ner Licht­re­kla­me schoss wie auf der Flucht die Dä­cher hin­auf. Dann don­ner­ten wie­der die Tun­nel­wän­de, Kel­ler­luft ström­te durch die halb ge­öff­ne­ten Fens­ter, und wei­ße Ge­sich­ter er­schie­nen an den Schei­ben, wie tote Fi­sche hin­ter Glas­wän­den, von un­sicht­ba­ren Strö­mun­gen auf und ab ge­trie­ben.

Mit­un­ter sah Tho­mas eine Ma­tro­sen­uni­form, ins Bür­ger­li­che ver­wahr­lost ab­ge­wan­delt, und er be­trach­te­te sie aus halb­ge­schlos­se­nen Au­gen. Den em­pö­re­ri­schen Tri­umph in dem Ge­sicht dar­über, auf des­sen Grun­de doch auch nur das Ver­las­sen­sein haus­te, die Sehn­sucht, zu vie­len sol­chen Ge­sich­tern zu fin­den, zu ei­ner schutz­ge­ben­den Mas­se, in der es un­ter­tau­chen konn­te, ge­bor­gen in der Na­men­lo­sig­keit.

Nun wa­ren sie schon aus­ge­stie­gen, zu ih­rer Ar­beit oder der blo­ßen Fül­lung lee­rer Stun­den: der Mann mit dem Holz­bein, die Schau­spie­le­rin, die Ex­zel­lenz. Der Zug braus­te dem Nor­den zu, und an­de­re Ge­sich­ter tauch­ten auf, ver­härm­te, ver­dor­be­ne, ver­wüs­te­te. Es war, als schlin­ge der Zug die Ern­te der letz­ten Jah­re in sich hin­ein, zu dür­ren Gar­ben has­tig ge­bun­den: Müt­ter, die vor sich hin wie auf Grä­ber starr­ten, auf ein­ge­sun­ke­ne und ver­fal­le­ne Kreu­ze; Kin­der, die für eine ge­stoh­le­ne Stun­de beim Hass oder beim Las­ter zu Gast ge­we­sen wa­ren; Frem­de, die auf schmut­zi­ge Blät­ter un­le­ser­li­che Zei­chen mal­ten; und Krüp­pel, vie­le Krüp­pel, die Blut­zeu­gen der großen Op­fe­rung, die stumpf oder voll Hass auf die Ge­sun­den blick­ten; de­nen man ge­sagt hat­te, dass sie Hel­den sei­en, und die in den Bli­cken der an­de­ren nun zu le­sen glaub­ten, dass man sie für arme Nar­ren hielt, ein un­be­que­mes Heer, das nun mit­zu­schlep­pen war auf dem Wege zu ei­nem neu­en Ziel.

Tho­mas schloss die Au­gen. Er war ge­sund, auf­recht, gut ge­klei­det. Er war wie ein Mann in ei­nem To­ten­saal, der auf­ste­hen und da­von­ge­hen konn­te, in­des die an­de­ren sich hass­voll auf ih­rem La­ger krümm­ten und mit halb ver­wes­ten Glie­dern ihn fest­zu­hal­ten such­ten. Alle hat­ten zu ster­ben oder kei­ner von ih­nen. Nie­mand hat­te reich zu sein, und wer ge­sund war, war ein Räu­ber.

»Der Herr hat ein Ren­dez­vous?« frag­te ein Mann, der ihm ge­gen­über­saß. Die Haut über sei­nem ver­zehr­ten Ge­sicht war so dünn ge­spannt wie über ei­nem Draht­ge­stell, und Tho­mas dach­te, dass es einen hel­len Ton ge­ben müss­te, wenn der Fin­ger des To­des an­poch­te bei ihm. Aber der Klang der Fra­ge war böse, hohn­voll und von dem Hass des Ge­schla­ge­nen er­füllt.

»Ja, mit dem En­gel«, sag­te Tho­mas schnell.

Der Blick des an­de­ren ver­wirr­te sich und lief die Fens­ter­rei­he ent­lang, über der in läp­pi­schen Ver­sen die Un­fall­war­nun­gen stan­den. Dann kehr­te er lang­sam zu­rück. »Es gibt kei­ne En­gel mehr«, sag­te er, und sei­ne Stim­me war nun müde und hoff­nungs­los.

Die Brem­sen setz­ten ein, und Tho­mas stand auf. »Doch«, sag­te er im Vor­bei­ge­hen, »es gibt noch En­gel … nur ha­ben sie eine Rüs­tung an …«

»Ver­schüt­tet ge­we­sen«, mur­melt eine Stim­me, als Tho­mas aus­stieg.

Er bog in eine der Ne­ben­stra­ßen ein, die wie ein un­end­li­cher Schacht in eine fer­ne Wüs­te zu lau­fen schi­en. Ein grün­li­cher Mond hing über den Dä­chern, frag­wür­dig wie al­les Licht in die­ser Stadt. Die Trit­te der Men­schen hall­ten an den Wän­den em­por, und man hör­te die­je­ni­gen her­aus, die noch auf Holz­soh­len gin­gen. Das Licht hin­ter den Fens­tern war trü­be, und wenn ein Tor­weg sich auf die Hinter­hö­fe öff­ne­te, weh­te es dumpf her­aus wie von ei­nem Fried­hof, auf dem die Krän­ze welk­ten. Gram­mo­pho­ne kreisch­ten aus der Fer­ne, er­stickt wie un­ter nas­sen Tü­chern, und ganz weit vor ihm, hoch über un­sicht­ba­ren Dä­chern, ras­te ein zer­ris­se­ner Kreis, bald grün, bald rot er­strah­lend, um sei­ne Ach­se. Er sah aus wie ein ver­stüm­mel­tes Si­gnal aus der Unend­lich­keit.

Die Hän­de in den Ta­schen, den Hut zu­rück­ge­scho­ben, ging Tho­mas die Stra­ße hin­un­ter. Die­se und die nächs­te und wie­der die nächs­te. Plät­ze leuch­te­ten auf und blie­ben zu­rück, Gär­ten hin­ter brö­ckeln­den Mau­ern, ein Schie­nen­strang, ein Au­to­bus, der wie ein feu­ri­ger Dra­che in ei­ner Höh­le ver­schwand. Er lieb­te es, so zu ge­hen. Er hat­te nicht Freu­de dar­an. Er war nur wie ein Schiff vor dem Win­de. Fünf Jah­re wa­ren ver­tan. Der Krieg war die Pro­be ge­we­sen, und er hat­te nicht be­stan­den. Vie­le hat­ten nicht be­stan­den, aber das trös­te­te ihn nicht. Nur, er woll­te von Neu­em an­fan­gen, und das un­ter­schied ihn von vie­len. Er wuss­te noch nicht, wo es be­gin­nen wür­de, aber er hoff­te, ihm zu be­geg­nen. Hier viel­leicht, und wenn nicht hier, dann an ei­ner an­de­ren Stel­le. Er wuss­te, dass an­de­re stu­dier­ten oder in ei­ner Bank ar­bei­te­ten oder in ei­ner Fa­brik. Aber das woll­te er nicht, weil es kein neu­er An­fang war. Sie hat­ten ihn über Bord ge­wor­fen, als er nach der Flag­ge ge­fasst hat­te. Das Meer war über ihm zu­sam­men­ge­schla­gen, und er war nur durch ein Wun­der ge­ret­tet wor­den. Der En­gel hat­te ihn an­ge­blickt und war wei­ter­ge­gan­gen, aber er wür­de ihm wie­der be­geg­nen. Vi­el­leicht an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke, wo das wei­ße Schild über dem Bür­ger­steig leuch­te­te. Vi­el­leicht vor der Erd­ku­gel, die vor sei­nen Bü­chern stand, viel­leicht erst im An­ge­sicht des To­des. Aber er wür­de ihm be­geg­nen.

Er sah an den mat­ten Ster­nen, dass er nach Os­ten ging, und er merk­te es an dem Ge­sicht der Stadt. Här­ter als in den an­de­ren Vier­teln hat­te der Krieg hier re­giert. Die Häu­ser wa­ren wie vom Aus­satz zer­fres­sen, die Fens­ter er­blin­det, die Ge­sich­ter ver­wüs­tet, und was aus den Tor­we­gen sich auf die Stra­ße schlich, hat­te fah­le Stir­nen und einen lei­sen Schritt, wie über ver­las­se­nen Schlacht­fel­dern. Mäd­chen spra­chen ihn an und folg­ten ihm eine Wei­le, und es war ihm, als könn­te man durch ihre Au­gen hin­durch­se­hen ins Bo­den­lo­se. Sel­ten emp­fing er ein bö­ses oder ro­hes Wort, und auch dies klang nur wie hin­ter ei­ner zu­ge­schla­ge­nen Tür. Er fürch­te­te sich nicht, denn er be­saß nichts. Er war so al­lein wie die­se Aus­ge­sto­ße­nen aus Kel­lern und Hinter­hö­fen, und was sie ihm zum Be­sitz rech­ne­ten, war ihm so schal, wie ih­nen die Luft, die sie at­me­ten.

Er woll­te sie we­der prü­fen noch be­keh­ren. Er woll­te nur eine Welt er­fah­ren, die er nicht kann­te. Was sie in sei­nem Hau­se hin­ter den dunklen Vor­hän­gen spra­chen und dach­ten und be­gehr­ten, kann­te er al­les. We­der Brot noch Wein wür­de ihm dar­aus wach­sen. Aber dies hier kann­te er nicht, und er woll­te al­les ken­nen, die gan­ze Erde, wie sie rund und schwei­gend vor sei­ner Bü­cher­wand schweb­te. Ge­fecht und Schlacht, Tod und Zer­stö­rung, das konn­te nicht al­les sein. Ir­gend­wo schleif­ten die zer­ris­se­nen Zü­gel die­ses Wa­gens über die Erde, und so lan­ge muss­te man ge­hen, bis sie über einen hin­weg­feg­ten und man ver­su­chen konn­te, ein Stück zu er­grei­fen. Den Sinn muss­te man zu fin­den su­chen; nicht das Gan­ze, die Lö­sung, das Letz­te, aber ein Stück­chen Sinn, den Schim­mer ei­nes Pla­nes, und dann woll­te man in Got­tes Na­men noch ein­mal an­fan­gen.

Der Weg führ­te über eine Brücke, die sich hoch und weit über Schie­nen­strän­ge spann­te. Im Os­ten er­lo­schen die Lich­ter all­mäh­lich in der Nacht, und er sah die Fern­zü­ge hin­ein­brau­sen in die schwei­gen­de Schwär­ze, die schon über Äckern und Wäl­dern stand. Im Wes­ten aber scho­ben die Si­gna­le sich dicht zu­sam­men, wei­ße, rote und grü­ne Lich­ter, wie in ei­ner Ha­fen­ein­fahrt. Ein lei­ser Wind ging über sei­ne Hän­de, die auf dem kal­ten Ei­sen des Ge­län­ders la­gen, und es war nun al­les wie­der wie vor frem­den Küs­ten, mit halb­ge­lösch­ten Feu­ern, wo man nach trü­ge­ri­schen Licht­sek­to­ren steu­er­te und der Tod, schwei­gend, aber wach­sam, un­ter den Ster­nen hing.

Dann saß er auf dem Ver­deck ei­nes Au­to­bus. Die Licht­re­kla­men wur­den zahl­rei­cher, wil­der und ge­hetz­ter, die Stra­ßen be­leb­ten sich, Por­tiers stan­den wie Kö­ni­ge in Mar­mor­ein­gän­gen, und über die Köp­fe der Men­ge ho­ben sich far­bi­ge Arme mit Zei­tun­gen, und hei­se­re Stim­men schri­en die Ern­te des Ta­ges aus, die Kur­se, die Mor­de, die Streiks, die Re­vo­lu­tio­nen.

Tho­mas stieg aus und ließ sich trei­ben. Die Men­ge schluck­te ihn auf wie der Strom einen Trop­fen. Krüp­pel kau­er­ten an den Git­tern der Vor­gär­ten, und ihre ein­tö­ni­gen Ver­se fie­len wie stump­fe Mes­ser in die Men­ge. Geld klirr­te, und die meis­ten Hän­de fuh­ren schnell zu­rück, als hät­ten sie sich los­ge­kauft von dem stei­ner­nen Ant­litz des Krie­ges, das im­mer noch über die Dä­cher hin­un­ter­starr­te. Die brei­ten Hüte der Heils­ar­mee tauch­ten ab und zu aus licht­über­flu­te­ten Ein­gän­gen auf, und die Ge­sich­ter dar­un­ter blick­ten still und wie ent­rückt, als hät­ten sie schon auf der Schwel­le Hohn oder Mit­leid ab­ge­streift, die sie dort in­nen emp­fan­gen hat­ten.

Ei­nen Au­gen­blick lang lä­chel­te Tho­mas, als ihm der Ge­dan­ke kam, was sie für Ge­sich­ter ma­chen wür­den, wenn er zu Hau­se als Of­fi­zier die­ser Heil­s­trup­pe er­schei­nen wür­de. Tho­mas, der Leut­nant Got­tes. Gott war fort­ge­gan­gen, aber die Pro­phe­ten ka­men. Aus al­len Kel­ler­höh­len stie­gen sie em­por, auf den Tri­bü­nen ho­ben sie die nack­ten, ver­zehr­ten Arme, in den Par­la­men­ten be­schwo­ren sie das Reich der Lie­be, aus den Ster­nen ris­sen sie Weis­heit und Schick­sal: aber der En­gel war fort, der ein­zi­ge, der die Lose trug und wuss­te.

Ein Po­li­zist mit wei­ßen Hand­schu­hen sperr­te die Kreu­zung. Je­mand rief Tho­mas an, und er trat un­lus­tig an den hal­ten­den Wa­gen. Ein Ka­me­rad von sei­nem letz­ten Schiff, und er rück­te zur Sei­te, um ihm Platz zu ma­chen. Aber Tho­mas schüt­tel­te den Kopf. Nein, eine Bar sei nichts für ihn, er wol­le noch in der fri­schen Luft blei­ben. Was er denn trei­be? O … nichts … er war­te. Der an­de­re lä­chel­te: »Soll­test zu mir auf die Bank kom­men, Tho­mas«, sag­te er. »Geld wird dort ver­dient, sage ich dir, und das Gan­ze ist so wie ein Nacht­ge­fecht. Du weißt nie, wie du her­aus­kommst, aber wenn du her­aus­kommst, hat es ge­lohnt. Soll ich dir einen Tipp ge­ben, Tho­mas? Macht mehr aus als dei­ne Pen­si­on für ein Jahr!«

Nein, auch da­für dank­te Tho­mas. Die Stra­ße wur­de frei, und der Wa­gen fuhr lang­sam an. »Mach’s gut, Tho­mas! Bis zum nächs­ten Or­log …«

Eine Wei­le blick­te er dem Wa­gen nach, dann bog er die nächs­te Stra­ße zur Stadt­bahn ein. Ihn ver­lang­te plötz­lich, den Strom zu se­hen, dunkles Was­ser, in dem die Mas­ten sich spie­gel­ten und über dem die Ster­ne stan­den. Nein, der Er­folg konn­te nicht das Letz­te sein. Auch Spie­ler hat­ten Er­folg, aber ihr Le­ben ging nicht in die Bü­cher ein, aus de­nen Kin­der ler­nen, wie man le­ben soll. Ein gu­ter Of­fi­zier war je­ner ge­we­sen und ein gu­ter Ka­me­rad, aber wenn man die Uni­form aus­zog, muss­te man wohl mehr sein als dies. Das Le­ben ver­lang­te mehr, als ein Kriegs­schiff ver­langt. Un­ge­wiss­heit über­fiel ihn wie­der, und im Au­gen­blick dach­te er, dass es gut sein müss­te, Adres­sen zu schrei­ben oder Pa­ke­te aus­zu­tra­gen, ir­gen­det­was, das das Blut in den Fin­gern be­we­gen wür­de. Es gab kei­ne Fei­er­jah­re für jun­ge Hän­de.

Er blieb an ei­nem Blu­men­la­den ste­hen und starr­te auf die Glä­ser mit Treib­h­aus­flie­der. Wenn ich ge­schos­sen hät­te, grü­bel­te er, so wür­den sie mich er­schla­gen ha­ben und al­les wür­de gut sein … eine Se­kun­de ver­säumt, nein, eine hal­be Se­kun­de … die Ent­schei­dung ver­passt, das ist es, wes­halb der En­gel nicht kommt …

In der Stadt­bahn saß ein al­ter Mann ihm ge­gen­über, der auf ein Blatt Pa­pier starr­te, das mit Krei­sen und Zei­chen be­deckt war. Sein Haar fiel bis zum Rock­kra­gen, und sei­ne Füße steck­ten in wun­der­li­chen, viel­fach ge­flick­ten Re­form­schu­hen. Wie reich und ge­dul­dig ist die­se Zeit, dach­te Tho­mas. Soll­te sie nicht auch für mich einen Platz und ein Ziel ha­ben? Man muss nur war­ten, bis die Ma­gnet­na­del zu be­ben be­ginnt …

Der Mann sah seuf­zend auf und blick­te Tho­mas an. Er hat­te gute Au­gen, von ei­nem et­was wäs­se­ri­gen Braun, lei­se er­staunt und viel ge­prüft, und Tho­mas dach­te, dass eine Kuh so vor sich hin­se­hen könn­te, wenn sie au­ßer der Rei­he ge­mol­ken wür­de. Doch miss­fiel ihm der Ver­gleich so­fort, und er ta­del­te sich, dass er so über Men­schen ur­tei­le.

Doch da hob der Mann den Zei­ge­fin­ger der rech­ten Hand und sag­te flüs­ternd: »Stein­bock, nicht wahr? Drei­und­zwan­zigs­ten De­zem­ber bis drei­und­zwan­zigs­ten Ja­nu­ar, ja?«

Aber Tho­mas ver­gaß sei­ne gu­ten Vor­sät­ze über dem Form­lo­sen und Ver­trau­li­chen der An­spra­che. »Nein«, er­wi­der­te er schroff und wech­sel­te den Platz.

Der Stern­kun­di­ge stieg an der nächs­ten Hal­te­stel­le aus, und als er die Tü­ren öff­ne­te, beug­te er sich ohne Krän­kung zu Tho­mas und flüs­ter­te hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand: »Die Knie sind be­denk­lich beim Stein­bock … sehr ge­fähr­lich … im­mer schön auf die Knie ach­ten, mein Herr!« Er lä­chel­te freund­lich, hob noch ein­mal mah­nend den Zei­ge­fin­ger und ver­schwand.

Die Stra­ße senk­te sich leicht zum Strom, und als Tho­mas die Stu­fen zum Boll­werk hin­un­ter­schritt, dach­te er an sei­ne Knie und lä­chel­te. Dann ging er lang­sam am Was­ser ent­lang.

Die Flut zog dun­kel und trä­ge da­hin, mit zit­tern­den Stern­bil­dern, die auf der glei­chen Stel­le ver­harr­ten. Käh­ne la­gen an der Mau­er ver­täut, die Deck­plan­ken glänz­ten, und die Bord­la­ter­nen leuch­te­ten über Tau­werk und Holz. Mit­un­ter bell­ten die Wach­hun­de, zu­erst ein­zeln und dann den gan­zen Strom ent­lang. Dann war nur wie­der das Was­ser zu hö­ren und der leich­te Wind, der durch das Ge­äst der Bir­ken zog.

»Was­ser müss­te es doch sein«, sag­te Tho­mas, »nur stil­ler als das Meer … ich möch­te kei­ne Bran­dung mehr hö­ren …«

Auf ei­nem der Ufer­pfäh­le saß er dann lan­ge, rauch­te und hielt dann die Hän­de mü­ßig zwi­schen den Kni­en ge­fal­tet. Die Luft war warm, und es roch nach Er­len und Schilf. In der Fer­ne glit­ten die glü­hen­den Bän­der der Züge durch die Nacht, fast ohne Lärm, wie schö­ne Schnü­re. Der Him­mel war hell, wie be­stick­te Sei­de, und ein­mal mein­te er ganz weit Wild­gän­se zie­hen zu hö­ren. Er ver­gaß nun al­les, die letz­ten Stun­den und die müh­sa­men Jah­re. Wie ein Bau­er auf sei­nem Grenz­stein saß er da und hör­te zu, wie die Erde sich reg­te. Dies war ih­nen al­len doch ge­blie­ben, wie viel der Brand auch ver­zehrt ha­ben moch­te: die Füße still auf der küh­len Erde zu hal­ten und zu se­hen, wie die Ster­ne kreis­ten. Auch Joa­chim soll­te das ler­nen, so bald wie mög­lich, ehe sie ihn ver­der­ben mit ih­rer frag­li­chen Wis­sen­schaft.

Erst als ihn zu frie­ren be­gann, stand er auf. Die La­ter­nen brann­ten im­mer noch, und ein dün­ner Ne­bel hing müde über dem Was­ser. Die nahe Stadt sah aus, als sei sie nur zu Gas­te bei die­sem Strom.

Nie­mand sprach ihn mehr an auf der Heim­fahrt, und dann ging er auf Um­we­gen nach Hau­se, da­mit die Gäs­te schon fort wä­ren, wenn er käme. Doch fand er alle Fens­ter noch hell und kehr­te noch ein­mal um. Vom na­hen Kirch­turm schlug es Mit­ter­nacht, und er hör­te zu, wie der letz­te Klang in im­mer dün­ner wer­den­den Wel­len ver­ging. Dann fiel ihm et­was ein, und er ging schnell die we­ni­gen Stra­ßen zur Kir­che hin. Der Turm stand dun­kel in der hel­len Nacht, aber im Pre­di­ger­haus, hin­ter dem großen Gar­ten, wa­ren zwei Fens­ter noch er­leuch­tet.

Tho­mas stieg über den nied­ri­gen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fens­ter la­gen zu ebe­ner Erde, und als der Kies un­ter sei­nen Schu­hen knirsch­te, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dun­kel ge­klei­det, und Tho­mas mein­te noch nie­mals einen so großen, schwe­ren Men­schen ge­se­hen zu ha­ben. Er war noch nicht in der Kir­che ge­we­sen.

»Es ist spät, Herr Pfar­rer«, sag­te er, »aber ich wür­de Sie gern noch ge­spro­chen ha­ben.«

Der Geist­li­che beug­te sich schwei­gend vor, um das be­leuch­te­te Ge­sicht zu er­ken­nen. Dann trat er wort­los zu­rück, und Tho­mas hör­te ihn die kur­ze Trep­pe her­un­ter­kom­men, bis er die Haus­tür auf­schloss. »Tre­ten Sie lei­se auf«, sag­te er, »sie schla­fen schon alle.«

Der große Raum war nur mit Bü­chern ge­füllt. Ein bäu­er­li­cher Chris­tus aus grau­em Holz hing le­bens­groß zwi­schen den Fens­tern. Tho­mas setz­te sich nicht ohne Ver­wir­rung, weil das Aus­maß der Fi­gur ihn er­schreck­te. Doch ließ der Pfar­rer sich nichts mer­ken und sah ihn nur ru­hig an. »Es kom­men man­che um die­se Zeit«, sag­te er, »Sie brau­chen sich nicht zu ent­schul­di­gen. Ich weiß dann we­nigs­tens, dass es ernst ist.«

Nun erst sah Tho­mas ihn an. Sein Va­ter noch moch­te hin­ter dem Pflu­ge her­ge­gan­gen sein, aber es war wohl ein grüb­le­ri­scher Gang ge­we­sen, und in die­sem Sohn war es nun aus­ge­bro­chen. Stirn und Mund wa­ren zer­sorgt und zer­quält, aber über dem glat­ten grau­en Haar moch­te doch zu Zei­ten der­sel­be Schein ste­hen wie über dem Holz­bild an der Wand. Das Ge­sicht war zu­ge­schlos­sen, aber die Au­gen sa­hen ihn nicht ohne Freund­lich­keit an, alte und viel­wis­sen­de Au­gen, und Tho­mas fühl­te sich jung und tö­richt un­ter ih­rem Blick.

Er seufz­te, be­vor er be­gann. »Ich bin kein Kir­chen­gän­ger, Herr Pfar­rer«, sag­te er ent­schul­di­gend.

Der an­de­re er­hob nur die Hand. »Wir wol­len von den wich­ti­gen Din­gen spre­chen«, un­ter­brach er.

»Auch die Bi­bel habe ich lan­ge nicht ge­le­sen«, fuhr Tho­mas fort, »seit mei­ner Ein­seg­nung nicht. Der Dienst war schwer, und es woll­te nie recht zu­sam­men­stim­men … Heu­te nun fand ich un­ter mei­nen Bü­chern den Psal­ter, eine ganz alte Aus­ga­be, groß ge­druckt, durch eine Erb­schaft wäh­rend des Krie­ges zu mir ge­kom­men. Ich habe dar­in ge­blät­tert und fand den neun­zigs­ten Psalm. Ich ent­sann mich wie­der, auf das meis­te we­nigs­tens, aber ein Vers war mir un­be­kannt. Als Kind liest man dar­über hin­weg, und auf Kin­der trifft er ja nicht zu. ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz‹, steht dort ge­schrie­ben. Zu­erst las ich wei­ter, als sei es wie das üb­ri­ge, aber dann kehr­te ich gleich wie­der zu­rück und las ihn noch ein­mal. Und dann las ich nicht mehr wei­ter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht auf­ste­hen un­ter ihm …«

Der Pfar­rer nick­te. Er hat­te den Kopf in die rech­te Hand ge­stützt und Tho­mas un­be­weg­lich an­ge­se­hen. »Ja«, sag­te er, »Sie wer­den das na­tür­lich als einen Zu­fall be­zeich­nen, dass Sie ge­ra­de dies ge­le­sen ha­ben. Ich selbst, wenn es mir wi­der­fährt – und es wi­der­fährt mir oft –, ich sehe es na­tür­lich an­ders an. Ich weiß dann, dass ein sol­cher Vers ge­war­tet hat, bis es Zeit ge­wor­den ist. Ver­ste­hen Sie? Es ist nicht so, dass ein Mensch für sich lebt und ein Vers wie­der für sich und viel­leicht kreu­zen ihre Wege sich ein­mal. Son­dern es ist so, für mich na­tür­lich nur, dass der Vers auf sei­nen Men­schen war­tet und der Mensch auf sei­nen Vers. Aber wenn es sich er­füllt hat, ein be­stimm­tes Stück der Le­bens­bahn, ein Sturz oder ein Auf­stieg, oder auch nur eine be­stimm­te Düs­ter­nis und Ver­wir­rung, dann ist der Vers da. Er schlägt ge­wis­ser­ma­ßen das Buch auf, er selbst, er ent­hüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht her­um­ge­hen oder aus­wei­chen. Er ist wie Ei­sen, das zu­schlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

»Ja«, sag­te Tho­mas lei­se, »er hat uns … so ist es.«

»Und nun soll ich Ih­nen sa­gen, was Sie da­mit an­fan­gen sol­len, nicht? Der Vers be­drückt Sie, er ist wie ein lei­ser, dump­fer Schmerz, der im­mer da ist. Sie le­sen et­was an­de­res, oder Sie ge­hen spa­zie­ren, vie­le Stun­den lang, am Tage oder lie­ber in der Nacht. Oder Sie den­ken an Ska­ger­rak oder an das Ende. Aber er geht im­mer mit Ih­nen, er ist nicht mehr au­ßen, in ei­nem Buch, das in Ihrem Hau­se bleibt, wenn Sie das Haus ver­las­sen. Er ist schon in Ih­nen, in Ihrem Blut, ganz tief, Sie sind nicht mehr sein Herr.«

»Ja«, sag­te Tho­mas, »so ist es.«

»Sie müs­sen es nun so an­se­hen«, fuhr der Pfar­rer fort, »oder viel­mehr, es ist wohl rich­tig, wenn Sie es so an­se­hen: der Vers hat das Sei­ne ge­tan, er hat sich gleich­sam vom Tode auf­er­weckt, er ist für Sie auf­er­stan­den. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wol­len. Ich will es nicht ›au­fer­ste­hen‹ nen­nen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wie­der be­gra­ben wol­len, ihn er­wür­gen und zu­schüt­ten … ja, ich sag­te, ›er­wür­gen‹! Dann rührt er sich noch eine Wei­le, so wie das Kind bei Tol­stoj, wis­sen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus ei­nem Traum auf­fah­ren, oder in ei­ner Ge­sell­schaft, oder viel­leicht, wenn Sie Ihren Jun­gen an­se­hen. Aber dann ist er still, so still wie vor­her. Er hat an­ge­klopft, und Sie ha­ben nicht auf­ge­macht. Sie ha­ben die Hun­de auf ihn ge­hetzt, und er ist tot. Für Sie ist er tot, ewig und un­ab­än­der­lich.

Das ist der eine Weg. Der an­de­re ist eben­so klar, näm­lich, dass auch Sie nun das Ih­ri­ge tun, nicht wahr? Dass Sie eben auf­hö­ren da­mit, Ihre Jah­re zu­zu­brin­gen wie ein Ge­schwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, sei­ne Mah­nung ist still, sein Vor­wurf, sei­ne Kla­ge. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie ha­ben ihn er­löst. Im Mär­chen wird aus ei­nem Dra­chen eine Prin­zes­sin. Im Le­ben ist es so, dass man eben auf­hört, so zu sein. Dass man an­ders wird, kein Hei­li­ger und kein Pro­phet, aber eben an­ders, nicht?«

»Ja«, sag­te Tho­mas, »aber wenn man nun das nicht so ohne wei­te­res kann … fromm wer­den, mei­ne ich, oder glau­ben, oder wie man es nennt …«

»Fromm wer­den? Glau­ben?« Der Pfar­rer beug­te sich vor und sah ihn er­staunt an. »Wie kom­men Sie dar­auf? Ar­bei­ten soll man, ar­bei­ten! Ver­ste­hen Sie? Nichts als ar­bei­ten! Das heißt es.«

»Aber Sie als Pfar­rer …«

Der schwe­re Mann stand auf und trat vor das rie­si­ge Chris­tus­bild. Er war eben­so groß wie das Bild­werk, und sie sa­hen ein­an­der aus glei­cher Höhe in die Au­gen. »Die­ser hier«, sag­te der Pfar­rer lei­se, sich halb um­wen­dend, »wird mir ver­zei­hen, dass ich sei­nen Na­men so sel­ten nen­ne. Dass ich nur von dem einen spre­che, das uns heu­te not tut, von der Ar­beit. Auch in der Kir­che, ge­ra­de in der Kir­che. Vier Jah­re ha­ben wir sei­nen Na­men miss­braucht, nun wol­len wir ihn vier Jah­re ver­schwei­gen. Wir ha­ben ge­tö­tet, und nun wol­len wir ar­bei­ten, schwer und keu­chend und schweiß­be­deckt, nichts als ar­bei­ten. Und dann wol­len wir se­hen, ob wir wie­der wür­dig sind, sei­nen ge­lieb­ten Na­men aus­zu­spre­chen.«

»Und wie ar­bei­ten, Herr Pfar­rer? Wel­che Ar­beit? Ich selbst, ich …«

Der Pfar­rer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken ge­gen das Fens­ter, als sei er eben aus dem Dun­kel der Nacht her­aus­ge­stie­gen, ein Bau­er, den sei­ne Fel­der nicht schla­fen las­sen. »In die­ser Ge­mein­de«, sag­te er, »woh­nen Mi­nis­ter und Stra­ßen­keh­rer. Bei­de kom­men nicht in die Kir­che, aber bei­de ar­bei­ten, und bei­der Ar­beit ist mir gleich wert. Die eine kann ich se­hen, wenn ich aus dem Haus tre­te, die an­de­re kann ich nicht se­hen, ich er­ra­te sie höchs­tens oder lese in der Zei­tung da­von. Ich glau­be auch, dass der Stra­ßen­keh­rer glück­li­cher ist mit sei­ner Ar­beit als der Mi­nis­ter. Er hat sei­nen Ab­schnitt, sei­nen Be­sen und sei­ne Kar­re. Er hat sei­ne Gren­zen, über die ihm kei­ner her­ein­kommt. Das hat der an­de­re nicht. Und ein Pfer­des­ap­fel ist leich­ter zu be­sei­ti­gen als Int­ri­gen, oder po­li­ti­sche Feind­schaft, oder was sie sonst wol­len. Aber au­ßer­dem kann der Stra­ßen­keh­rer im­mer hof­fen, ein­mal Mi­nis­ter zu wer­den, wäh­rend je­ner kei­nen Stern hat, den er aus dem Him­mel her­un­ter­ho­len könn­te. Aber das ist al­les gleich, ganz gleich. Sie dür­fen nicht fra­gen: ›Wel­che Ar­beit?‹ Se­hen Sie mei­nen Tisch an! Se­hen Sie die Brie­fe! Dut­zen­de, Hun­der­te von Brie­fen, mit Blut ge­schrie­ben, ja, ich sage es aus­drück­lich: ›Mit Blut ge­schrie­ben!‹ Wis­sen Sie nicht, wie Gott uns ge­schla­gen hat? Furcht­bar und er­bar­mungs­los ge­schla­gen? Ach …« Er hob die Hän­de und rang sie über sei­nem grau­en Haar, und für einen Au­gen­blick war sein Ge­sicht ver­zwei­fel­ter als das des grau­en Bil­des an der Wand.

Aber dann ließ er die Hän­de sin­ken und lä­chel­te wie zur Ab­bit­te. »Es ist nur manch­mal«, sag­te er, »und geht gleich vor­bei … ich sehe Ih­nen schon lan­ge zu, fast fünf Jah­re, Herr von Orla. In die­ser Ge­mein­de bleibt ja nichts ver­bor­gen. Wie Sie mit Ihrem Jun­gen ge­hen und wie Sie al­lein ge­hen, lan­ge und viel al­lein. Aber ich war im­mer ge­trost, wenn ich an Sie dach­te. Er trifft sei­nen En­gel schon, habe ich ge­dacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon ein­mal. Ich bin nicht zu Ih­nen ge­kom­men, das sind so neu­mo­di­sche Din­ge. Wenn die Kir­chen leer sind, wan­dern die Pfar­rer in die Häu­ser, um Ein­tritts­kar­ten zu ver­schen­ken. Nein, nein. Die Bau­ern war­ten auch, bis man kommt. Aber Sie wol­len ja auch nicht das ›Wort Got­tes‹, wie es so heißt. Sie woll­ten nur eine Be­stä­ti­gung, dass es nicht recht ist mit Ihrem Le­ben. Und Sie ha­ben ge­dacht, ein Pfar­rer, wenn er um Mit­ter­nacht noch auf ist, viel­leicht weiß der es …«

»Ich war schon an mei­nem Hau­se«, sag­te Tho­mas, »und erst als ich sah, dass die Fens­ter noch alle hell wa­ren und die Wa­gen un­ten hiel­ten, bin ich um­ge­kehrt.«

»Ja, sie le­ben wie Bel­sa­zar und sei­ne Knech­te … im­mer war das so in sol­chen Zei­ten … man soll nicht schel­ten, man soll nur im­mer da sein, im­mer da sein …« Er leg­te den Kopf an die Leh­ne sei­nes Stuh­les und schloss die Au­gen. Jede Li­nie des Ge­sich­tes erstarb in er­schre­cken­der Mü­dig­keit.

Tho­mas stand lei­se auf. »Ich dan­ke Ih­nen, Herr Pfar­rer«, sag­te er.

»Dan­ken soll man erst, wenn man beim Mor­gen­licht nicht be­reut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meis­tens über­flüs­sig. Es kommt uns näm­lich nicht zu, ver­ste­hen Sie? Sehr we­ni­gen kommt es zu, und ich bin nicht ei­ner von den we­ni­gen.«

Er brach­te ihn noch ans Gar­ten­tor, schloss hin­ter ihm zu und sah ein­mal zu den Ster­nen auf. »Ich war heu­te bei ei­nem Mör­der«, sag­te er halb im Fort­ge­hen. »Ja, Sie dür­fen nicht er­schre­cken, das sind so mei­ne Pf­lich­ten … Mor­gen wird er hin­ge­rich­tet. Ich saß eine Stun­de bei ihm und habe ge­be­tet. Al­lein, denn er woll­te nicht be­ten. Er woll­te auch nicht spre­chen, kein Wort. Aber ich dach­te, viel­leicht tut es ihm wohl, dass nun ei­ner da sei au­ßer den furcht­ba­ren Wän­den. Aber als ich fort­ging – der Wär­ter kam mich ho­len – und ich noch ein­mal zu­rück­sah auf sei­ne ge­krümm­te Ge­stalt, da rich­te­te er sich auf und sag­te: ›Ein Se­gen, dass es drü­ben kei­ne Pfar­rer ge­ben wird!‹ Ganz freund­lich sag­te er es … was aber muss ein Stand ge­sün­digt ha­ben, Herr von Orla, dass so et­was ge­sagt wer­den kann? Ver­ste­hen Sie? Aber es ist nicht der ein­zi­ge Stand, glau­ben Sie mir. Kei­ner von uns weiß, wie er schul­dig ist an al­lem, was ge­schieht. An al­lem, hö­ren Sie? Ja, an al­lem …«

Dann ging er zu den hel­len Fens­tern zu­rück, und Tho­mas sah, wie ge­beugt die schwe­ren Schul­tern wa­ren.

Spä­ter müss­te Joa­chim zu ihm, dach­te er, lang­sam die Stra­ße hin­un­ter­ge­hend. Wenn ich ein­mal ar­bei­te – und es wird si­cher­lich nicht hier sein –, dann müss­te er zu ihm und ab und zu in die­sem großen Raum sit­zen und ihm zu­se­hen. Wie sein Ge­sicht lebt un­ter al­len To­ten, die um uns sind.

Schwes­ter Bea­te stand schon in der Woh­nungs­tür, als er die Trep­pe hin­auf­kam. »Die gnä­di­ge Frau ist krank«, flüs­ter­te sie ver­stört, »ich weiß nicht, was es ist.«

Er ging noch im Man­tel hin­ein. Mit ei­nem schnel­len Blick um­fing er den großen Raum, die Ti­sche mit Glä­sern und Aschen­scha­len, die Fal­ten in den Tep­pi­chen, die ge­knüll­ten Kis­sen in den So­fas und Ses­seln. Der ab­ge­stan­de­ne Zi­ga­ret­ten­rauch mach­te ihm nach der rei­nen Nacht­luft übel. »Öff­nen Sie alle Fens­ter, Schwes­ter«, sag­te er lei­se. Dann ging er zum Ka­min, in dem das Feu­er noch brann­te.

Sei­ne Frau kau­er­te in ei­nem der tie­fen Stüh­le. Sie hat­te die Füße hoch­ge­zo­gen und den Kopf auf die Leh­ne zu­rück­ge­legt. Ihr Ge­sicht war weiß und er­schöpft, mit klei­nen Schweiß­trop­fen auf der ge­fal­te­ten Stir­ne. Als er die Hand aus­streck­te, um sie auf ihr Haar zu le­gen, öff­ne­te sie die Au­gen und lä­chel­te. Ihr Blick war trü­be und fast be­wusst­los, ihr Lä­cheln wie das ei­ner ent­stell­ten Mas­ke. »Tho … mas«, flüs­ter­te sie müh­sam. Sie war be­trun­ken.

Sei­ne Hand hielt in der Be­we­gung inne, und er starr­te re­gungs­los in ihr Ge­sicht. Er fühl­te, wie sei­ne Haut kalt wur­de und sein Mund sich in ei­nem bit­te­ren Ge­schmack zu­sam­men­zog. »An al­lem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an al­lem …«

Sie tru­gen sie ins Schlaf­zim­mer, und Tho­mas schick­te die Schwes­ter nach ei­nem Gla­se auf­ge­wärm­ter Milch. Er blieb am Fu­ßen­de des Bet­tes ste­hen, bis sie zu­rück­kam. »Eine leich­te Ver­gif­tung«, sag­te er. »Nach die­sem wird es bes­ser wer­den, ver­ste­hen Sie? Wenn es schlech­ter wird, ru­fen Sie mich!« Er sah ihr be­feh­lend in die Au­gen, bis sie ver­stan­den hat­te.

»Ich ma­che es nun schon al­lein, Herr Ka­pi­tän«, sag­te sie.

In sei­nem Zim­mer setz­te er sich auf das schma­le Ru­he­so­fa und stütz­te den Kopf in die Hän­de. Er wuss­te, dass es ohne Hoff­nung war. Die Na­chern­te des Krie­ges war so er­bar­mungs­los wie sei­ne blu­ti­ge Zeit. Vor zehn Jah­ren noch wür­de er ge­glaubt ha­ben, mit dem Schiff un­ter­ge­hen zu müs­sen. Nun glaub­te er es nicht mehr. Sein Va­ter hat­te es nie ge­glaubt. »Ein Mann, Tho­mas, der sich von ei­ner Frau in den Stru­del zie­hen lässt, hat auf­ge­hört, ein Mann zu sein!« Sie hat­ten an der Lei­che ei­nes Ge­spann­knech­tes ge­stan­den, der sich er­tränkt hat­te, weil sei­ne Frau ihn be­trog. Tho­mas hat­te noch sei­ne Ka­det­ten­uni­form ge­tra­gen, aber der Va­ter hat­te ihn mit­ge­nom­men, um es ihm zu zei­gen. Er sah ihn da­ste­hen, bei­de Hän­de auf den Stock ge­stützt, und über den To­ten hin­weg auf die grü­nen Fel­der bli­cken. Wei­ße Wol­ken zo­gen wie dunkle Schat­ten über die jun­ge Saat, und in der Fer­ne hör­te man eine Sen­se den­geln. »Du wirst dich er­in­nern, Tho­mas«, hat­te der Va­ter ge­sagt. »Es wird eine Zeit kom­men, wo euer Le­ben nicht euch oder den Frau­en ge­hö­ren wird, kei­nem von euch …«

Nun er­in­ner­te er sich. Es war nicht gut, dass der Va­ter so früh ge­stor­ben war.

Er hol­te sich ein Kis­sen und eine De­cke aus dem Gast­zim­mer. Be­vor er das Licht lösch­te, trat er noch ein­mal an den Glo­bus. Er leg­te einen Fin­ger auf die Gip­fel des Hi­ma­la­ja und schob sie mit lei­sem Schwung zur Sei­te. Die große Ku­gel be­gann sich lei­se sur­rend in ih­rem La­ger zu dre­hen, und Ge­bir­ge, Ebe­nen und Mee­re glit­ten mit ei­nem flüs­tern­den Ton an sei­nen Au­gen vor­über. Tauch­ten wie­der auf und ver­san­ken wie­der, Farb­fle­cke und ein Netz von Li­ni­en, Licht, Däm­me­rung und Schat­ten, und er stand vor­ge­beugt, lei­se ver­wun­dert, als ste­he er auf ei­nem frem­den Stern und sehe zu, wie die alte Hei­mat vor­über­schwe­be, ganz weit, durch den ei­si­gen Wel­ten­raum, und al­les Schick­sal auf ihr sei so fremd wie ein Mär­chen aus längst ver­gan­ge­nen Ta­gen.

Dann wur­de die Dre­hung lang­sa­mer und erstarb. Der hei­mi­sche Erd­teil brei­te­te sich vor sei­nen Bli­cken aus, und sei­nem Ab­bild wa­ren Brand und Ver­wüs­tung der letz­ten Jah­re nicht an­zu­se­hen. Ru­hig la­gen die Fest­län­der und Mee­re, die Strö­me spann­ten sich blau und dünn über die ge­krümm­te Flä­che, und das Bild der Stadt, in der er leb­te, lag als ein klei­ner dunk­ler Kreis zwi­schen Was­ser und Wald.

Nach Os­ten aber zo­gen die großen, lee­ren Ebe­nen, im­mer lee­rer, je wei­ter sei­ne Blick ih­nen folg­ten, bis zur ver­stüm­mel­ten Gren­ze des Rei­ches, und dort, im wie­der ge­häuf­ten Blau und Grün der Seen und Wäl­der, ruh­te das Auge noch ein­mal aus, ehe das End­lo­se hin­ter der Krüm­mung der Ku­gel ver­schwand.

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