Читать книгу Das einfache Leben - Ernst Wiechert - Страница 11
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ОглавлениеEr erwachte davon, dass der Regen auf das Dach rauschte und dass nebenan, hinter der dünnen Wand, jemand ging. Er erriet es nur daraus, dass in regelmäßigen Abständen eine Diele leise knarrte. Es war ein seufzender Ton, als wenn im Walde zwei Bäume sich aneinander rieben. Ein ganz schwacher Schein stand schon hinter dem Fenster, aber es musste noch Nacht sein. Die Dinge des Zimmers zeigten noch keinen Umriss.
Er richtete sich auf und lauschte. Die Schritte musster langsam und ganz regelmäßig sein, auch glaubte er, als seir Atem ruhiger ging, das Knistern eines Seidenkleides zu hören. So war es die Frau, die im Zimmer ihres Sohnes war. Er wusste nicht, ob sie dort zu schlafen pflegte.
Der Regen rauschte, kein Wind ging, und der Wald empfing bewegungslos die strömenden Tropfen. Ein einziger tiefer Ton stand um das Haus, groß und tröstlich wie Meeresrauschen. Aber nun hob sich eine Stimme dazwischen auf, tief und ganz leise, die mit geschlossenen Lippen eine Melodie erklingen ließ. Die Frau sang, so leise wie über einem schlafenden Kind, aber das Lied sonderte sich doch ab von dem eintönigen Rauschen des Regens, weil es Höhe und Tiefe hatte, einen Gang der Töne, der anders geordnet war als das Fallen der Tropfen, eine menschliche Bewegtheit, die nicht einmal die der Klage war, sondern fast wie ein leiser Marsch vor sich hinging, selbstvergessen wie ein Kind auf abendlicher Straße.
Thomas war es, als kenne er das Lied, ja er wusste, dass er es kannte, so genau, wie man seinen Namen kennt, aber in dem Zwielicht des dämmernden Morgens und in der Unwirklichkeit alles Geschehens konnte er sich nicht erinnern. Traum und Morgen verwischten sich ihm, und während er lauschte, war er geneigt zu meinen, dass auch dies dazugehöre zu dem neuen Leben, die singende Frau wie der Regen, dass der Kummer sich hier nicht verberge wie in den Städten, sondern singend durch die Nacht gehe und es ihn nicht berühre, ob ein Mensch zuhöre, ein Fremder gar. den es aus dem Schlafe wecke.
Nun verstummte das Lied oder es verschmolz mit dem Regen, und auch die Bewegung der Diele klang nun weit her, als seien es doch zwei Kiefern im Walde, die in der Morgenluft erschauernd sich rührten. Schließlich war es, als lache es leise hinter der Wand, ein Mensch, der mit sich allein wäre, ganz allein, und eine Erinnerung riefe den leisen Ton in seiner Brust herauf.
Doch war Thomas wohl schon eingeschlafen, als dies geschah.
Am Morgen dann fand er niemanden in der Stube unten, aber neben seinem Frühstück lag ein Zettel des Försters, dass er auf die Insel fahren (der Kahn liege unten am Ufer) und ihn dort oder wieder im Hause erwarten möge. Die Schrift war fest und gerade, und Thomas dachte wieder an das Lied in der Nacht und wie seltsam es wohl aussehen würde, wenn die Frau die Worte in ihrer Schrift darunter setzen wollte. »Sieben Jahre, mein lieber Herr …«
Leise ging er aus dem Haus. Der Regen hatte fast aufgehört, aber die Wolken zogen noch dunkel, in langen Zügen über den Wald. Aus den Bäumen tropfte es unaufhörlich in das welke Laub, und bei jedem Windstoß rauschte es schwer und sprühend herab. Es war immer noch warm, und die Walderde roch bitter und schwer.
Dünne Nebel zogen über den See, und die Insel lag düster über dem grauen Wasser. Das Haus war nun zu sehen, nicht mehr als eine große Hütte, und es war eigentlich nur ein schweres Rohrdach über einer niedrigen weißen Wand. Aber Rauch stieg aus dem Schornstein, und daneben hob der bewaldete Hügel sich bis zu den Eichen auf seiner Krone. Die trockenen Wipfel verschwammen im Nebel.
Thomas stand am Ufer und lauschte, ob er einen Ton vernähme, aus den Wäldern oder über dem Wasser, aber nur der Rohrsänger rief im hohen Schilf, und die Tropfen fielen im Wald. Er stand lange und sah hinüber. Er hörte sein Herz mit ruhigen Schlägen klopfen und dachte, dass er als erstes ein kleines, leichtes Boot für Joachim besorgen müsste, wenn er zu den Sommerferien käme. Alles andere schien ihm geordnet und selbstverständlich.
Er fuhr stehend hinüber, da die Ruderbänke nass waren. Das Boot hatte einen flachen Boden, und mit jedem Schlag des langen Ruders hob die Spitze sich leise rauschend aus dem Wasser. Zuerst sah er den Grund, hellen Sand, über den kleine, erstarrte Wellenmarken liefen, dann wurde das Wasser dunkel, fast schwarz, und grüne Gewächse hoben sich schwankend aus der Tiefe auf. Mitunter sprang ein schwerer Fisch ins Licht, und ein silberner Schein blitzte matt durch die graue Luft. Dann liefen dünne Ringe über den See, griffen über sein Boot hinaus und erstarben wieder. Es war ihm, als sei er immer so gefahren, als brauchte es nicht aufzuhören und als seien Schiffe und Meer nur ein Traum gewesen, eine gespenstische Vergrößerung aus unruhigem Schlaf, und nun ziehe sich alles wieder zurecht zu geordneter und bescheidener Wirklichkeit.
Der flache Kiel stieß leise auf den Sand des Ufers, und er stieg aus. Ohne sich umzusehen, ging er den Hang zum Hause hinauf und klopfte an die graue Tür. Als niemand antwortete, trat er ein.
In dem dämmrigen Licht sah er nur das Feuer im Herd und eine dunkle Gestalt, die hineinstarrte, die Arme auf die Knie gestützt, das Kinn in den Händen. Da keine Antwort auf seinen Gruß erfolgte, ging er um den Mann herum und setzte sich auf einen Holzschemel neben dem Herd. Unter dem grauen Haarbusch sah er nun das Gesicht des Mannes, finster, aber nicht böse, wie es unbewegt in das Feuer blickte, den Widerschein der Flamme auf der gefalteten Stirn und in den fast schwermütigen Augen. Ein grauer Bart hing ihm ungepflegt auf die Brust, und ein dumpfer Geruch von Rauch und Fischen ging von ihm aus.
Es war noch stiller hier als auf dem Wasser, nur das Feuer knisterte hinter der halbgeöffneten Herdtür. Durch die kleinen Fenster fiel das graue Licht widerwillig auf die dunklen Bohlen, aus denen die Wände zusammengefügt waren. Netze hingen an Holzpflöcken, und Ruder standen in den Ecken.
»Na?« sagte der Mann und sah einmal flüchtig auf.
Thomas erwiderte, dass er sein Nachfolger werden wolle.
»Nachfolger« sei gut, meinte der Mann und sah ihn von der Seite an. »Thronfolger« sei besser, denn die Throne wackelten heute, und dieser insbesondere, auf den er sich zu setzen gedenke, sei mehr als wacklig.
Nun, er habe nicht gerade die Absicht gehabt, sich auf einen Thron zu setzen, sagte Thomas.
Sondern?
Sondern zu arbeiten. Er bekomme kein Schiff mehr als Steuermann, und es sei ihm auch zu laut in den Städten.
Der Mann nahm die Pfeife aus dem Munde und sah ihn lange an. »Was du doch für ein komischer Vogel bist«, sagte er nachdenklich. »Bist du ein Verkleideter, hm?«
Nein, er sei nicht verkleidet, erwiderte Thomas lächelnd.
Tja, heute sei alles möglich. Von rechts und von links. Nun, mit dem Lärm, da brauche er hier nicht bange zu sein. Auf der Insel sei noch keiner von den Bonzen gewesen, um Reden an das notleidende Proletariat zu halten. Und arbeiten? Das könne er hier schon, wenn es ihm Spaß mache, für die Blutsauger zu arbeiten. Ihm mache es keinen Spaß mehr.
Auf See habe niemand danach gefragt, sagte Thomas, für wen er arbeite. Sie wollten eben zur See fahren, das sei ihnen Freude genug gewesen. Und so wolle er hier arbeiten, weil es ihm Freude machen werde.
»Na ja«, sagte der Mann. »Warst du schon drüben?« Und er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Nein.«
»Nicht uneben in seiner Art, der General, aber dämlich, sage ich dir, furchtbar dämlich. So aus der Zeit der Kreuzzüge, verstehst du? ›Mein See, mein Wald, mein Schloss!‹ Nicht beizubringen, dass das ebenso mir gehört wie ihm. ›Eigentum ist Diebstahl‹, nie was gehört davon. Aber ordentlich ausgesprochen wir beide manchmal, alles was recht ist … bis auf die Fahne.«
»Welche Fahne?«
Der Fischer knöpfte langsam den Rock auf, an dem die Fischschuppen glänzten, und holte aus der Brusttasche sorgsam ein rotes Tuch heraus, vielfach zusammengelegt und brüchig in den Falten. Er breitete es auf seinen Knien aus und strich mit der schweren Hand darüber.
»Dies eben«, sagte er. »Ich habe sie aufgezogen über dem Haus, und jedes Mal sind sie gekommen und haben sie heruntergeholt, er und seine Schergen. Schließlich habe ich gekündigt, Fahne muss sein!« Er stützte den Kopf wieder in beide Hände und starrte auf das rote Tuch.
»Aber hier, auf der Insel?« fragte Thomas. »Muss das sein?«
»Überall«, sagte der Mann finster. »Über der Insel und über dem Sarg …«
»Und nun?«
»Nun? Weiß nicht. In die Stadt ziehen wahrscheinlich und ’reinschlagen in die Bande, mit dem Ruder rechts und links. Keine Lust mehr zu arbeiten. Sechzig Jahre gearbeitet für einen Dreck, und jetzt kannst du nicht mal die Fahne aufziehen, wenn du willst!« Er spuckte ins Feuer und nahm einen Schluck aus der weißen Flasche.
Nein, Thomas dankte.
»Alles lernen, Freundchen, hier, alles lernen …«, murmelte er finster.
Thomas nahm aus seiner Brieftasche ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen, dünn wie ein Brief. Er schlug das Papier auseinander und nahm einen Tuchfetzen heraus, nicht größer als eine Handfläche, mit eingerissenen Rändern. Er war schwarz, und nur an einer Ecke, längs einer geraden Naht, war ein weißer Fleck wie angeheftet. »Sehen Sie«, sagte er, »das ist nun meine Fahne. Sie schlugen mich über den Kopf damals und warfen mich über Bord, aber ich ließ nicht los und riss mit der Hand ein Stück heraus. Ich hielt es noch in der Faust, als sie mich herausfischten, andere, und ich habe es behalten. Es sieht nicht schlechter aus als Ihres, nicht wahr? Nur kleiner und unansehnlicher. Aber aufziehen darf ich sie auch nicht mehr, das haben wir nun gemeinsam.« Er lächelte und ließ den Schein des Feuers über das Tuch spielen.
»Also doch verkleidet!« sagte der Fischer, beugte sich aber vor und sah auf den Fahnenrest in Thomas’ Hand.
»Schlechte Farben«, sagte er bekümmert, »haben viele dran glauben müssen … alle farbenblind … hinein mit ›Hurra!‹ und kopfüber auf den Grund … so dumm die Welt, so furchtbar dumm …«
»Auch Sie werden kopfüber auf den Grund gehen, in der Stadt«, sagte Thomas.
Der Mann fuhr mit der Hand waagerecht durch die Luft. »Egal!« sagte er. »Werde aber einige mitnehmen, und dies kommt auf meinen Sarg!«
Er faltete das Tuch wieder zusammen und barg es unter seinem Rock. »Mit Sechzig hat man keine Angst mehr, Freundchen … verwahre auch du deines, hat mir gefallen, auch wenn du verkleidet bist. Wer sich über den Schädel hauen lässt dafür, ist ordentlich. Die anderen kneifen nur den Schwanz ein wie die Köter.«
Ja, er wolle ihm alles zeigen, sei nicht viel zu besehen hier. In der Tür blieb er noch einmal stehen und sah zurück. »Fahnenwechsel«, sagte er, »was für ein Spaß! Wir beide, was?« Dann ging er auf dem schmalen Steig voran, der durch die Schonung bis zu den Eichen führte. Eine graue Leiter war an einen der Stämme gelehnt, und sie stiegen sie hinauf. Oben, zwischen den riesigen Ästen, war eine kleine Plattform und ein einfacher Sitz angebracht. Man sah die ganze Insel unter sich, den See, die Wälder und ein fernes Dorf zwischen Wiesen und Ackerstreifen.
»Kommandoturm«, sagte der Alte und lehnte sich über das Geländer. »Von hier kannst du sehen, ob sie kommen, Rote oder Schwarze oder Schwarzweißrote. Sauberer Platz für ein Maschinengewehr, aber ich hatte keins … nun pass auf! Reusen und Stellnetze in die beiden Buchten! Bei Ostwind hier, bei Westwind dort. Vor dem Gewitter überall. Bei Nordwind zu Hause bleiben und Netze trocknen. Krebsreusen dort entlang! Zwei bis drei Meter tief. Wenn du was nicht weißt, nicht den General fragen, sondern durch das Fließ dort in den nächsten See fahren. Da lebt der Alte, achtzig oder hundert Jahre alt. Heißt Peter, die Leute sagen Petrus. Habe ihn aber noch nicht auf den Wellen wandeln sehen. Weiß alles von den Fischen, spricht mit ihnen, weiß, wann sie ziehen und wann nicht, sieht in die Zukunft und priemt … wie heißt du übrigens?«
»Thomas.«
»Na also, die ganze Jüngerschaft zusammen … und ich heiße Christoph und kann euch über das Wasser tragen … will übrigens gar nicht, dass du viel fängst, der Alte. Stadtmenschen sollen verhungern, meint er. Hast ein gutes Leber hier, wenn du was ausgefressen hast und dich verkleiden musst. Kommt hier keiner schnüffeln, nicht mal der Fischmeister. Angst vor dem Alten … Aber ist nicht immer so wie jetzt, Freundchen. Kommen dunkle Tage, wenn der Schneesturm dir über den Schornstein heult. Denkst an alles, was du falsch gemacht hast, ist keiner da, der mit dir eine Pfeife raucht. Bloß das Eis brüllt im See, und die Füchse bellen, und manchmal heult der Wolf aus den Schonungen. Dann fängst du an zu trinken, Freundchen, weil wir nichts anderes haben als Schnaps, verstehst du? Wer in keiner goldenen Wiege gelegen hat, kann seine Netze stellen wie er will, sechzig oder achtzig Jahre lang, geht ihm doch der Fisch mit der Goldkrone nicht hinein. Ob du Rot hier aufziehst oder Schwarzweißrot,1 das bleibt sich alles gleich … und still wirst du, sage ich dir, so still wie ein Stein auf dem Grund …«
Er fuhr mit der Hand durch den leeren Raum und stieg die Leiter wieder abwärts. »Stimmt alles mit den Netzen«, sagte er an der Haustür, »keines zu viel und keines zuwenig. Nur mit den Mäusen muss du aufpassen im Winter, dass sie dir keinen Schaden machen … Heute Abend gehe ich los, der Kahn liegt da an der hohen Fichte.«
Er stand schon in der geöffneten Tür, und Thomas schien es, als sei er der Geist dieser Insel, grau, verwittert und gebeugt, und als würde er selbst nach zwanzig Jahren auch so dastehen. Das Tor der Zukunft tat sich in geräuschlosen Angeln auf, mit blitzenden Flügeln, einen Herzschlag lang. Er sah sich, wie eine Vision, auf der Schwelle stehen und sich umwenden wie jener, nur mit einem anderen Gesicht, und dann hineingehen und vor dem Feuer niedersitzen. Der Schein der Flamme spielt über den Globus, Länder und Meere, Berge und Ströme. Er hat den Kopf in die Hände gestützt und blickt darüber hin, ohne Wunsch und Begehren, vieles hinter sich, wenig vor sich, ein einsamer Mann, schweigsam wie die Steine auf dem Grund.
»Ich werde ihn fangen, Christoph«, sagte er, »den mit der goldenen Krone … ich werde ihn fangen!«
Aber der andere verzog nur die Lippen über dem grauen Bart, winkte mit der Hand und ging hinein.
Eine unsichtbare Uhr schlug elf helle Schläge, als Thomas vor der Schlosstreppe stand. Das Schloss war nicht mehr als ein großes Gutshaus, mit einem hohen braunen Dach über zwei Flügeln. Doch lag es breit und stattlich über der Seebucht, und der Efeu, der bis an die Fenster des oberen Stockwerks rankte, ließ es alt und ganz auf sich zurückgezogen erscheinen. Das Wappen über der schweren Tür war so verwittert, dass es nicht mehr als eine gepanzerte Faust erkennen ließ, die etwas trug, aber es konnte ein Lilienstengel wie eine Streitaxt sein. Der Park hinter dem Hause musste gleich in den Wald übergehen, hinter dem Hof aber hob sich gerade der dünne Nebel über dunklen Feldern, die erst vom Horizont begrenzt schienen. Ein blaues Tor tat sich zwischen den ziehenden Wolken auf, und ein heller Schein fiel auf die regennasse Erde, auf die leuchtenden Dächer und auf die Spitze der Fahenenstange, die sich über der Mitte des Hauses erhob.
Dann stieg Thomas die Stufen hinauf. Er läutete an einem alten Glockenzug, und die schwere Tür wurde von einem Riesen in altertümlicher Uniform geöffnet. Thomas meinte, sie müsse aus der Zeit Friedrichs des Großen stammen, mit weißem Lederzeug und verschnürtem Rock, doch trug der Mann keine Bärenmütze, sondern kurz verschnittenes Haar, sah auch so aus, als hätte man ihn eben vom Pfluge fortgeholt und er hätte sich dort wohler befunden als in seinem gegenwärtigen Amt.
»Der Herr General lassen bitten«, sagte er düster und half Thomas aus dem Mantel. Es klang, als liege der General im Sterben.
Thomas nahm mit einem Blick die riesige Halle wahr, die bis in das obere Stockwerk reichte, eine schöne und breit aufsteigende Treppe von dunkelbraunem, glänzendem Holz, Schaufeln, Geweihe, Vögel, Waffen, Ahnenbilder, einen riesigen Feuerplatz, in dem ein ganzer Baumstumpf verkohlte, und im Hintergrund, zu beiden Seiten einer zweiflügligen Tür, zwei alte Kanonen aus mattglänzendem Metall, die dunklen Münder drohend auf den Eingang gerichtet.
Doch standen keine Kanoniere neben ihnen, mit brennenden Lunten etwa, wie Christoph erzählt hatte, bereit, das Feuer sofort auf jeden zu eröffnen, der es etwa an Haltung oder Gesinnung gleich beim Eintritt sichtbar fehlen ließe. Aber auch eine Regimentskapelle, ein Schellenbaum und Bombardon, wie Thomas sie eher vermutet hätte, war nicht sichtbar, sodass er guten Mutes, wenn auch etwas verwirrt von dem Anblick düsterer Feierlichkeit, dem riesigen Grenadier oder was er sonst sein mochte, durch ein büchergefülltes Vorzimmer bis an die Eichentür folgte, an der dieser nun deutlich, aber doch in geziemender Bescheidenheit klopfte.
Eine etwas heisere Stimme rief »Herein!«, der Große öffnete die Tür, trat oder sprang vielmehr mit erstaunlicher Gewandtheit über die Schwelle, schlug daneben die Absätze seiner Schuhe unter den geschnürten Gamaschen zusammen und meldete mit heller Stimme: »Der Herr Christoph Nachfolger, Herr General!«
Ein kleiner, breiter Mann mit grauer Litewka2 hob den Kopf von den Papieren auf seinem Schreibtisch, sagte »Schafskopf!« zu dem Riesen und winkte Thomas mit der Hand, näher zu treten. Er wies auf einen Stuhl an der Schmalseite des Tisches, wartete, bis der Riese das Zimmer verlassen hatte, und blickte dann Thomas an.
Dieser meinte, sein Gesicht schon als Kind gesehen zu haben, in der vielbändigen »Geschichte der Eroberung des indischen Reiches«, die in den Bücherschränken seines Vaters gestanden hatte, ganz unten, sechs dunkelbraune, schwere Bände, und in denen er die Bilder vor allem liebte, in matten Wasserfarben, unzureichend für die Glut jener Landschaften, aber erfüllt von seltsamen Menschen, Tieren und Pflanzen. Dort, inmitten edelsteinbedeckter Maharadschas und dämonischer Tempel, hatte es auch Porträts der Eroberer gegeben, Soldaten, Kapitäne und Könige des Handels, mit brauner Haut und weißem buschigem Haar, mit strengen, mitunter grausamen Lippen und kindlich gebliebenen hellblauen Augen; Männer, von denen man nie wusste, ob sie Blut aus den Hirnschalen erschlagener Landesfürsten tranken oder ob sie, wieder heimgekehrt auf ihre grüne, neblige Insel, vor den riesigen Kaminen ihrer Schlösser den schweren Wein tranken, der in alten Eichenfässern die Reise nach Indien und zurück immer wieder gemacht hatte, um jene Glut und Milde zu gewinnen, von der ihre Gesichter so braunrot und fröhlich geworden waren. Männer, die er sich von der Meute ihrer Hunde und zahlreichen Enkelkindern umgeben vorgestellt hatte und für die alle es nur einen geheimnisvollen und fast tropischen Namen in seiner Gedankenwelt gegeben hatte: den Namen der Nabobs.3 Er hatte nicht gewusst, woher dieser Name stammte, aber etwas Drohendes und gleichzeitig Heiteres war aus dem Klang der Silben aufgestiegen, Fremdheit und Zauber, Macht und Einsamkeit, und einmal hatte er seinen Lehrer in das hilfloseste Erstaunen versetzt, als er auf die Frage, was er einmal werden wolle, laut und ohne Überlegung geantwortet hatte: ein Nabob!
Nun musste er fast ein Lächeln verbergen, als er bedachte, wie wenig er selbst jenes kindliche Versprechen eingelöst hatte, weder im Äußeren des Glanzes noch im Inneren selbstgewisser und fast allmächtiger Haltung, von einer Meute von Grauhunden soweit entfernt wie von einer Schar hellblonder Enkelkinder, und wie auch jener, dessen Gesicht ihm aus jenen Büchern vertraut war, in seinem Leben und Sein, in Erinnerungen, Macht und Reichtum wohl weit hinter den Urbildern jenes seltsamen Namens zurückgeblieben sein mochte, außer dass er vielleicht in den Kellern dieses Hauses einen ansehnlichen, aber immer mehr abnehmenden Vorrat jenes Weines besäße, der, vor riesigen Kaminen an langen Abenden getrunken, jene Hautfarbe verleihen mochte, die wie von indischer Sonne gebräunt und gebrannt erschien.
Doch fühlte Thomas sich nun durch diese kindliche Erinnerung über die Schranken des Alters und des Ranges leichter hinweggehoben und glaubte auch alle Wunderlichkeiten, auf die er vorbereitet war und deren Anfang er nun schon erfahren hatte, guten Mutes überstehen zu können.
»Heißen Orla?« fragte die heisere Stimme, die die Worte wie aus einer Gewehrmündung hervorstieß.
»Jawohl, Herr General.«
»Gedient?«
»Jawohl, Herr General.«
»Dekoriert?«
»Jawohl, Herr General.«
Eine kleine Pause trat ein, in der der General fortfuhr, seinen Besucher gleichsam durchbohrend zu betrachten, nicht etwa aus Misstrauen, sondern aus einer alten Übung, die sich ihm vor der erstarrten Front unzähliger Soldatenkolonnen als nützlich erwiesen haben mochte. Thomas war überzeugt, dass er ein Waisenkind oder ein neugeborenes Kalb im Stall auf genau die gleiche Weise zu betrachten pflegte, blieb also unverändert in seiner guten Haltung und wich den blauen Blitzen nicht für eine Atemlänge aus.
»Gruber erzählt«, fuhr die heisere Stimme fort, »Steuermann, Skagerrak und dergleichen. Misstrauisch gegen alles Seefahrende. Anfang mit Schande gemacht. Hoffe, Regel durch Ausnahme bestätigt sehen. Hier nur brauchen, was in Gesinnung und Haltung zuverlässig. Zu … ver … läs … sig! Verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
»Gut … Vorgänger Esel. Güterteilung, Weltfriede, rote Fahne und dergleichen. Kein Lump, aber Esel. Auf Barrikaden fallen. Gloriose Zeiten für Lumpen und Esel. Insel Stützpunkt Wasserseite. Vor dem Feinde fallen, wenn nötig, verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
Nach dieser Versicherung entspannte das drohende Gesicht sich ein wenig, und eine zweite Pause trat ein, in der Thomas sich zu erinnern versuchte, welcher der preußischen Könige diese Redeweise geliebt hatte. Doch begann nun, als er des weiteren Verlaufes sicher war, die Insel sich wieder zwischen seine Gedanken zu schieben, und unvermittelt überkam ihn nach diesen ruhelosen und von fremden Bildern überladenen Tagen das warme Gefühl tröstlicher Geborgenheit, eine glückliche Müdigkeit, die danach verlangte, den Schein des Herdfeuers auf den dunklen Bohlen zu sehen und den Wind um das Rohrdach gehen zu hören.
Zuvor aber hatte er noch einmal seine Worte mit Bedacht zu wägen, um die etwas zögernden Fragen des Generals nach Schulbildung, Reisen und Familienverhältnissen zu beantworten; empfing darauf seine Dienstanweisung, die sich auf den Jagdschutz erstreckte, und unterschrieb schließlich den kurzen Vertrag, den sein Brotherr nach einem alten, schon vergilbten Muster mit großen, altertümlichen Buchstaben aufsetzte und ihm hinschob.
Thomas las, was er an Rechten und Pflichten besitzen würde, an Geldlohn und »Naturalien«, erfuhr, dass Mehl, Kartoffeln und Winterobst ihm zuständen, wobei er das letzte besonders bemerkenswert fand, dass »ein grauer Fischerrock nebst einem Paar Wasserstiefeln, so bis über die Knie zu ziehen«, ihm jährlich zukämen und dass er »allezeit in Treue zu seiner Herrschaft zu stehen« habe, wie auch diese gelobte, ihn »in Bedürfnissen des Leibes und der Seele gut und geachtet zu halten«. Schien ihm also, als er dies langsam gelesen hatte, dass der Vertrag wohl aus der Zeit jenes wortkargen Königs stammen mochte, dass aber gleichwohl Rührendes in diesen alten Wendungen liege, mehr als er sonst in Verträgen mit Hauswirten oder Mietern erfahren hatte, und als er noch einmal, bevor er die Feder ansetzte, in die Augen des alten Mannes sah, wusste er, dass dieser Vertrag noch niemals mit besserem Willen und vielleicht auch mit tieferer Berechtigung unterschrieben worden war als eben nun.
Eine feste, breite Hand streckte sich ihm über die Tischplatte entgegen, und als er aufsprang und sie ergriff, war es ihm, als könnte er für diesen alten, wunderlichen Mann, um den eine vergangene Zeit gleichsam wie eine Rüstung stand, gern, »wenn nötig«, vor dem Feinde fallen.
»Gute Haltung!« sagte die drohende Stimme. »Gleich gesehn. Gut auskommen.«
Sie traten an den Gewehrschrank, und der General zeigte ihm die kleine Büchse und Doppelflinte, die er ihm ins Forsthaus schicken werde. »Dem Esel abgenommen«, sagte er. »Auf Eiche gestanden und auf ›Blutsauger‹ gewartet. Bei armen Leuten Auge mal zudrücken, bei Lumpen Finger krumm machen! Denken, dass Eigentum aufgehört hat. Zucht und Ordnung halten! Selbst darin groß geworden. Soldat bleiben auch im Fischerrock, verstanden?«
»Jawohl, Herr General.«
Sie vereinbarten, dass Thomas den Dienst in vierzehn Tagen antreten sollte, mit dem Fischfang aber nicht vor dem Mai zu beginnen sei. »Mal auf Insel besuchen«, schloss der General und streckte noch einmal seine Hand aus. »Kein Weltmeer herum, aber gutes Wasser. Nicht schlechteste Devise: ›Ich dien.‹«
Dann war Thomas entlassen. Der friderizianische Riese lehnte schwermütig an der Kanonenmündung, und Thomas hatte ihn im Verdacht, mit seiner Nase beschäftigt gewesen zu sein. Doch half er ihm freundlich in den Mantel.
»Unbequem?« fragte Thomas und deutete auf die Uniform.
»Nein, Herr, bloß im Dorf rufen sie ›Kasperle‹ und schmeißen mit Pferdeäppeln.« Er lächelte melancholisch und begleitete den Gast zur Tür.
»Damals«, sagte Thomas und zeigte auf das weiße Bandelier,4 »haben sie noch mit anderen Dingen geworfen …«
»Jawoll, Herr, und ich kriege sie schon noch einmal!«
Als er die Tür öffnete und Thomas hinaustrat, kam ein schwarzgekleidetes Mädchen die Steintreppe heraufgestiegen. Es war vielleicht dreizehn Jahre alt, hielt sich sehr gerade und warf eben mit einer Kopfbewegung das Haar zurück, das ihm lose bis auf die schmalen Schultern fiel. Ein junger, hagerer Mann mit einer Brille, ebenfalls in Schwarz gekleidet, beendete eben einen Satz, aus dem Thomas entnahm, dass von der Stellung der germanischen Frau im Altertum die Rede gewesen war.
Beide blieben stehen und sahen Thomas an, der junge Mann zerstreut und noch mit seiner Beweisführung beschäftigt, das Mädchen aufmerksam und ohne Verlegenheit.
Thomas wollte mit einer leichten Verneigung zur Seite treten, doch blieb er stehen, nahm den Hut ab und sagte zu beiden gewendet, er sei Thomas Orla, der neue Fischer.
Während der junge Mann sich überrascht verbeugte und einen unverständlichen Namen murmelte, neigte das Kind auf eine altertümliche Weise den Kopf, ohne die Augen von seinem Gesicht zu lassen, und fragte: »Wie heißt du?«
Thomas wiederholte seinen Namen.
»Ist das ein Name aus einem Märchenbuch?«
Nein, das sei sein wirklicher Name.
Das Kind ließ die linke Hand nachdenklich über die schwarze Holzperlenkette gleiten, die es um den Hals trug. »Ich heiße Marianne von Platen«, sagte es. »Alle Mädchen heißen so bei uns. Und das ist mein Lehrer, Herr Bergengrün … aber ›Orla‹ habe ich noch niemals gehört … wirst du mit Christoph zusammen fischen?«
Nein, Christoph gehe fort. Er werde allein auf der Insel leben.
Christoph sei ein armer Mann, sagte das Kind. Er habe immer böse zu ihr sein wollen und sei immer freundlich gewesen.
Ob es nicht besser sei als umgekehrt, fragte Thomas.
Das wohl, aber am besten sei es doch, freundlich sein zu wollen und es auch zu sein, nicht wahr?
Da habe sie sicherlich recht.
»Herr Bergengrün«, fuhr Marianne fort, »sagt immer, alle Menschen sind anders, als sie aussehen. Aber ich glaube das nicht. Herr Bergengrün sieht immer aus wie ein aufgeschreckter Wichtelmann, und so ist er auch, nicht wahr, Herr Bergengrün?« Ein leises Lächeln bewegte ihren Mund, und sie legte ihre rechte Hand mit einer zärtlichen Bewegung auf den Arm des verlegenen Kandidaten.
»Das sind so unsere Scherze«, sagte er entschuldigend, »doch würde es uns wohl tun, wenn wir dann und wann auf die Insel kommen könnten. Mit Christoph hatte es seine Sonderheiten …«
Mit dir auch, mein Guter, dachte Thomas und sagte, dass es ihn freuen werde, sie bei sich zu sehen.
»Und wirst du dort wirklich fischen?« fragte das Kind.
»Ja, ich habe Christoph gesagt, dass ich den Fisch mit der goldenen Krone fangen werde.«
»Gibt es den?«
»Die Märchen sagen es.«
»Und dann?«
»Dann will ich ihn dir schenken.«
Sie atmete einmal tief auf, und Thomas sah, wie die Perlenschnur über der zarten Kehle sich einmal bewegte.
Dann verneigte er sich ernsthaft wie vorher und stieg die Treppe hinunter.
Im Walde erst, als er seine Pfeife stopfte, kam ihm zum Bewusstsein, dass es nun geschehen war, ja dass er darüber hinaus gelobt hatte, vor dem Feinde zu fallen, wenn es nötig sei, und eine goldenene Krone zu verschenken, wenn er sie gewänne.
Er saß auf einem Baumstumpf in der Sonne und begann zu rechnen. Er war immer ordentlich in diesen Dingen gewesen und wusste, was einem Mann an Brot, an Fleisch, an Tabak und Kleidung zukam. Er wusste auch, was er hier nicht brauchen würde und wo die Grenze zwischen gewollter Einfachheit und erzwungener Ärmlichkeit lag. Es zeigte sich, dass seine Pension den Seinigen ohne Abzug bleiben konnte und dass ihm jeden Monat eine geringe Summe übrigbleiben würde, um ein paar Bücher zu kaufen oder einen Garten anzulegen. Dass also selbst in dem grauen Hause Schönheit oder Freude einkehren dürften, wenn ihn danach verlangte. Ja, dass er sogar Gäste mit Anstand würde aufnehmen können, das ernsthafte Fräulein, das wahrscheinlich aus einem Goldrahmen in der Halle heruntergestiegen war, und den biblischen Begleiter, der so feierlich sprach, als wäre er schon mit den Erzvätern durch die Wüste gezogen.
Er sah nun alles so weit, als hätten sich Jahre davorgeschoben: das Haus mit den Kiefern im Vorgarten, die donnernden Züge der Untergrundbahn, den Strom mit den Schiffslampen, vertraute und fremde Gesichter. Er bedachte, wie leicht es war, sich von allem zu lösen, außer von dem Kinde, und erschrak darüber. Ein brüchiges Gewebe, das unter den Händen zerfiel. Es konnte nicht nur so sein, dass er von allem Abschied genommen hatte, als sie ausfuhren damals, in den ersten Nächten des großen Krieges, dass sie die Fäden aufgelöst hatten, die sie mit der Zeit verbanden. Denn sie wollten doch wiederkehren, das hatten sie doch alle gehofft. Aber es war wohl so, dass sie nun mit anderen Augen wiederkehrten, er wenigstens, und die alte Welt ihnen seltsam verändert war, Menschen, Meinungen, selbst das Geliebteste der Erde. Das alte Glück war kein Glück mehr, ein welker Strauß stand da, und man ging um ihn herum, sah, dass es nicht an Wasser fehlte, nicht an Sonne, und doch blieb er welk. Dies war es: der welke Strauß! Man warf ihn nicht fort, wo die frischen Blumen wuchsen, ganz andere und noch unbekannte, und den anderen schien er auch nicht welk, sondern glühend und leuchtend wie zuvor. Sie sahen den Wurm nicht, aber er sah ihn. Etwas musste falsch gewesen sein, von Anfang an, aber er konnte es nicht erklären. Er hatte gefühlt, dass er den Boden verlor, und nichts war da, an das er sich klammern konnte.
Nun also würde er fortgehen, und nur als von einem Narren würde von ihm geredet werden. Sein Vater würde es wissen, aber sein Vater war tot. Man musste es nun allein wissen. Sich abends mit frohem Herzen niederlegen können, das war vielleicht das ganze Geheimnis. Froh, wenn man an den gewesenen Tag, und froh, wenn man an den kommenden Tag dachte. Keine Erlebnisse, keine Heldenrolle, kein Glanz um die Stirn. Die Netze auslegen und wieder einziehen, Haus und Insel sauberhalten, ein paar Seiten lesen und abends am Wasser sitzen und in die Sterne sehen. Den Vertrag erfüllen, den man unterschrieben hatte.
Wann war er froh gewesen zur Nacht? Er legte Jahr auf Jahr beiseite und kam wieder bis zu seiner Kinderzeit. Der Vater, der gute Nacht sagte, das offene Fenster, durch das die leisen Geräusche des Gutshofes kamen, der Zigarrenrauch aus dem Nebenzimmer, wo der Vater noch über den Rechnungsbüchern saß oder in einem Band Fontane las. Die Bilder, die sich immer mehr verwirrten … der Weizenschlag mit der brennenden Sonne … der Waldsee mit den alten Hechten … das Pferd, das er ritt, immer mit etwas klopfendem Herzen … die Uhr auf dem Hof, die ihre Schläge über die nebligen Felder schickte, und der letzte Schlag tönte lange nach, Welle auf Welle, immer mehr ersterbend … frohen Herzens, so war er eingeschlafen und wieder aufgewacht.
Aber dann nicht mehr. Nicht als Kadett und nicht als Leutnant. Dienst und Pflicht immer wie eine Rüstung auf der Brust, und manchmal schmerzte die Rüstung … die Segel, der Mastkorb und dann die Geschütze, die Navigation, Zahlen, Formeln, Kurven, Rechnungen, Gesichter, die feierlich oder höhnisch oder spöttisch waren … und dann der Krieg, Menschenleben und Boote, die in seiner Hand lagen, und die Hand war nicht immer stark, nein, nicht immer … kein frohes Herz, auch nicht unter den Kameraden, ein Sonderling, still, scheu, verschlossen … der Krieg, ein bitteres Handwerk, ohne Glanz, töten und vernichten … und dann das Ende und die Leere der Tage und Nächte, wie ein Brett auf dem Ozean, auf … ab. auf … ab … wie ein Geschwätz …
Dies aber war gut, die hohen, grauen Stämme, ernst wie Masten; die Wipfel, aus denen der Dampf vergangenen Regens stieg; der Specht, der hinter dem Hügel hämmerte, fleißig wie ein einsamer Hausvater; der See, der durch die Bäume blitzte, und Vögel riefen über sein Glänzen hin; Wolken, hoch im blauen Raum, durch den die Keile der Kraniche sich drängten. Gut und still. Alte Gesetze, denen die Kreatur gehorchte, die den Tag einschlossen und die Nacht. Krieg auch hier, Leiden auch hier, aber aus Gesetz und nicht aus Willkür.
Und der Vertrag, der ihn einschloss in diese Welt, der ihm die Stunde erfüllte und die geöffneten Hände. Ein einfaches Werk, in dem die Räder sich kreuzten und überschnitten, ein Werk, das nichts brauchte als Fleiß und guten Willen und Gehorsam vor der Ordnung der Dinge. Zu erfüllen auch von denen, die noch die alten Waffen trugen, deren Sinn nach dem Einfachen trachtete, weil sie fremd waren im Verwickelten der Zeit. Die ein Dach wollten, einen Herd, eine Arbeit und ein frohes Herz.
Es fiel ihm ein, dass er die Mönche immer geliebt hatte, obwohl er anderen Glaubens war. Die aus der alten Zeit, die den Wald urbar machten und beim Kerzenlicht die großen Buchstaben auf gelbe Pergamente malten. Die das Schwert nahmen, wenn es um den Acker ging oder um Gott, aber es wieder fortstellten, wenn der Acker und Gott gerettet waren. Fern rauschte ihnen die Welt, ein Strom hinter Weiden, aber sie wollten nichts von ihr. Sie wollten den Pflug und das Bild der Heiligen Mutter und den Kerzenschein über der weißen Zellenwand. Sie wollten sein wie die Steine auf dem Grund, und das Werk ihrer Hände sprach immer noch, hin durch die Jahrtausende. Kein vertanes Leben, kein Aufruhr, kein Geschwätz. Getreue Knechte, die unter Steinplatten schliefen, aber der Hausvater hatte ihre Namen gesammelt und bewahrt.
Wenn sie älter ist, dachte Thomas und stand auf, wird sie wissen, dass die goldene Krone unsichtbar ist, und vielleicht wird auch Joachim es wissen. Dass es nur das Letzte des Lebens ist, sein wahrer Sinn, heraufgezogen mit dem Netz, an dem das Leben gesponnen hat. Güte und Weisheit und nichts haben wollen. Frieden schließen, aber den Frieden, hinter dem kein Krieg mehr steht … vielleicht gewinne ich es, dass ich es ihnen zeigen kann, nur ihr und ihm … zwei Menschen sind schon viel, und ich selbst bin der dritte … drei … was für eine große Zahl, was für eine Riesenzahl für eine Menschenhand … Es war schwer, das Kind dort zu lassen, schwerer als alles andere, aber es gab Wege, die man ohne Kinder gehen musste, ohne Frau und auch ohne Kind. Erst musste man fest stehen wie der Mann im Zirkus, bevor man Frau und Kind auf seine Schultern heben konnte. Und er würde Joachim bei sich haben, ein paarmal im Jahr. Er würde ihn erfüllen mit dem, was er inzwischen gewonnen haben würde. Er würde getreulich teilen. Nur das Geringste würde er für sich selbst behalten wollen. Er ging schon zu Tal, aber das Kind würde fortzusetzen haben, in das neue Leben hinein …
Der Förster stand am Zaun und winkte ihm. »Ein gutes Jahr, lieber Herr. Die Saat steht schön, und auf der Insel wird es wieder lebendig sein. Ein Geist hat da gewohnt, und nun zieht der Mensch wieder ein. Ein gutes Jahr …«
Sie hatten ein schweigsames Mahl, und dann war Thomas den ganzen Nachmittag auf dem Wasser. Er fuhr das Ufer ab. Bucht für Bucht und Schilfrand nach Schilfrand. Er betrachtete den Grund, Sand und Moor, Seerosenstengel und verwitterte Baumstämme, deren Äste hinaufgriffen, einen schmalen Pfad im hohen Gras und die Otterspur, die sich weich in den Boden drückte. Er fuhr um die Waldecke und weiter bis zum Fließ, hinter dem der zweite See begann. Und überall Wald und Wiese, Erlengehölz und Feld, ein graues Dorf vor einem bläulichen Kiefernstreifen, ein Land ganz für sich, mit einem hohen Himmel, unter dem nur der Wind leise tönend ging.
Er sah Christoph abfahren und das Boot an der hohen Fichte verlassen. Er trug einen Sack auf dem Rücken, sein ganzes Hab und Gut, und grau und gebeugt verschwand er im Uferwald, die Fahne sicherlich um den Leib gebunden, ein Mann nach einer verlorenen Schlacht.
Nun war niemand auf der Insel. Die Sonne sank hinter die Eichenwipfel, Gewitterwolken hoben sich bläulich über den Wald, über dem Schornstein hing kein Rauch, ein großer Vogel kreiste über dem grauen Dach und verschwand im dunklen Gewölk.
Thomas holte das leere Boot und fuhr zur Försterei zurück. Sie wollten zusammen das Haus ansehen und was geändert werden sollte, solange Thomas wieder fort war. Am nächsten Morgen wollte er fahren und nach zwei Wochen wiederkommen.
Es war niemand auf dem Hof, aber aus dem kleinen Garten hörte er wieder den leisen, schlafwandlerischen Gesang. Die Frau stand über der frischgegrabenen Erde, im schwarzen Kleid wie bisher, ein Tuch um die Schultern, und streute Samen in die neuen Beete. Aber es war nichts in ihrer Hand. Die Hand war leer, und nur die Gebärde war voller Sinn. Das Lied ging eintönig durch die Stille, einfach und fast heiter, wie ein Kinderlied oder ein Lied über kindlichem Schlaf. Und Thomas meinte ihn dort knien zu sehen, den das Feuer im dunklen Turm versengt hatte, zu Staub und Asche verwandelt, eine kleine Gestalt, die nach den Samenkörnern griff, und sie wusste noch nichts von der kommenden Ernte der Zeit.
Die Luft war schwül wie am Abend zuvor, die Wolken hatten die Sonne bedeckt, und ein gedämpftes Licht fiel von den glühenden Rändern über die Erde. In diesem Licht ging der schwarze Arm der Frau langsam hin und her, die Reihen der Beete auf und ab, eine arme, kindliche Mühle, die das tote Leben streute.
Wieder fröstelte es Thomas, und er ging leise ins Haus. »Ja, ein frühes Gewitter kommt«, sagte der Förster. »Dann ist sie unruhig und bleibt nicht im Hause. Sie kann das große Feuer nicht sehen über dem Wald, und doch bleibt sie auf, solange das Wetter leuchtet, die Hände vor den Augen. Sie sieht ihn wohl im Feuer, lieber Herr …«
Sie fuhren schweigend über den See und traten ins Haus. Es war so leer wie zuvor, und es war nicht zu sehen, dass ein Mensch es verlassen hatte. Sie sahen alles an, und Thomas schrieb sich die Maße in sein Buch. Er wusste gleich, was er brauchte, und sie rechneten die Preise aus. Ein Fußboden sollte gelegt, ein kleiner Herd zum Kochen im Nebenraum gesetzt und das Fenster sollte höher und um das Vierfache verbreitert werden. Alles andere sollte unverändert bleiben, und der Förster wollte zusehen, dass in zwei Wochen alles fertig wäre. »Ein Palast, lieber Herr«, sagte er lächelnd, »und im Winter werde ich das Licht durch die Bäume sehen … Gott segne Ihren Einzug, lieber Herr!«
Ja, Thomas wollte noch ein wenig auf der Insel bleiben. Er sah das Boot zurückfahren, in die Dämmerung hinein und verschwinden. Das Licht über dem See war schon erloschen, und hinter den Uferwäldern flammte das Wetter schon rötlich auf.
Thomas ging um die Insel herum über Sand und braunes Gras, am Schilf entlang, dessen Halme sich leise aneinander rieben, und wieder zurück. Er war so einsam wie auf dem Ozean. Sein Herz schlug, wie es vor der Schlacht geschlagen hatte, aber was vor ihm lag, war schöner als eine Schlacht. Er fand eine Stelle auf der Westseite des Hügels, unterhalb der Eichen, wo Heidekraut und junge Fichten sich zum Ufer senkten. Dort konnte man auf einem Baumstumpf sitzen und weit über das Wasser sehen. Es war wie auf einer Brücke, und hinter ihm ragten die Masten auf.
Es dunkelte jetzt über den Wäldern, und das Feuer hinter den Wolken blitzte scharf und rötlich über das Wasser hin. Der Wind strich niedrig über das Schilf, und wenn er erstarb, hörte Thomas das leise erzene Dröhnen hinter der Wolkenwand. Mitunter tastete nur ein fahler Schein über die Insel und den Wald, dazwischen aber flammte es böse und drohend auf, wie von langen Rohren über grauer Panzerwand, ein greller Strahl schoss den Himmel hinauf, und lange hinterher, aus begrabener Finsternis, rollte der ferne Donner lange nach und bewegte die Erde, auf der Thomas saß.
Er sah mit weitoffenen Augen in das Licht hinaus. Er sah die grauen Leiber vorwärtsstürmen und die zerwühlte See zwischen ihnen. Er hörte Glocken, Signale und verwehenden Schrei. Er saß wie in einem Traum, und vor seinen Augen und Ohren zog es vorbei, die Summe vergangenen Lebens, die Probe vieler Jahre, die Entscheidung junger und bebender Herzen: die Schlacht.
Dann hörte er die Flügel der großen Vögel rauschen und den heiseren, schwankenden Schrei. Er sah sie im nächsten Leuchten über sich, den schmalen Hals gehoben, und wie die trockenen Wipfel unter ihnen erbebten.
Da ging er leise fort, zum Ufer hinunter und an diesem entlang bis zu seinem Boot. Ein paar Tropfen fielen, warm und schwer, und er stand noch eine Weile, bevor er abfuhr, das Gesicht zu ihnen aufgehoben, mit offenen Augen, in denen die Blitze sich spiegelten.
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