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Er er­wach­te da­von, dass der Re­gen auf das Dach rausch­te und dass ne­ben­an, hin­ter der dün­nen Wand, je­mand ging. Er er­riet es nur dar­aus, dass in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den eine Die­le lei­se knarr­te. Es war ein seuf­zen­der Ton, als wenn im Wal­de zwei Bäu­me sich an­ein­an­der rie­ben. Ein ganz schwa­cher Schein stand schon hin­ter dem Fens­ter, aber es muss­te noch Nacht sein. Die Din­ge des Zim­mers zeig­ten noch kei­nen Um­riss.

Er rich­te­te sich auf und lausch­te. Die Schrit­te mus­s­ter lang­sam und ganz re­gel­mä­ßig sein, auch glaub­te er, als seir Atem ru­hi­ger ging, das Knis­tern ei­nes Sei­den­klei­des zu hö­ren. So war es die Frau, die im Zim­mer ih­res Soh­nes war. Er wuss­te nicht, ob sie dort zu schla­fen pfleg­te.

Der Re­gen rausch­te, kein Wind ging, und der Wald emp­fing be­we­gungs­los die strö­men­den Trop­fen. Ein ein­zi­ger tiefer Ton stand um das Haus, groß und tröst­lich wie Mee­res­rau­schen. Aber nun hob sich eine Stim­me da­zwi­schen auf, tief und ganz lei­se, die mit ge­schlos­se­nen Lip­pen eine Me­lo­die er­klin­gen ließ. Die Frau sang, so lei­se wie über ei­nem schla­fen­den Kind, aber das Lied son­der­te sich doch ab von dem ein­tö­ni­gen Rau­schen des Re­gens, weil es Höhe und Tie­fe hat­te, einen Gang der Töne, der an­ders ge­ord­net war als das Fal­len der Trop­fen, eine mensch­li­che Be­wegt­heit, die nicht ein­mal die der Kla­ge war, son­dern fast wie ein lei­ser Marsch vor sich hin­ging, selbst­ver­ges­sen wie ein Kind auf abend­li­cher Stra­ße.

Tho­mas war es, als ken­ne er das Lied, ja er wuss­te, dass er es kann­te, so ge­nau, wie man sei­nen Na­men kennt, aber in dem Zwie­licht des däm­mern­den Mor­gens und in der Un­wirk­lich­keit al­les Ge­sche­hens konn­te er sich nicht er­in­nern. Traum und Mor­gen ver­wisch­ten sich ihm, und wäh­rend er lausch­te, war er ge­neigt zu mei­nen, dass auch dies da­zu­ge­hö­re zu dem neu­en Le­ben, die sin­gen­de Frau wie der Re­gen, dass der Kum­mer sich hier nicht ver­ber­ge wie in den Städ­ten, son­dern sin­gend durch die Nacht gehe und es ihn nicht be­rüh­re, ob ein Mensch zu­hö­re, ein Frem­der gar. den es aus dem Schla­fe we­cke.

Nun ver­stumm­te das Lied oder es ver­schmolz mit dem Re­gen, und auch die Be­we­gung der Die­le klang nun weit her, als sei­en es doch zwei Kie­fern im Wal­de, die in der Mor­gen­luft er­schau­ernd sich rühr­ten. Schließ­lich war es, als la­che es lei­se hin­ter der Wand, ein Mensch, der mit sich al­lein wäre, ganz al­lein, und eine Erin­ne­rung rie­fe den lei­sen Ton in sei­ner Brust her­auf.

Doch war Tho­mas wohl schon ein­ge­schla­fen, als dies ge­sch­ah.

Am Mor­gen dann fand er nie­man­den in der Stu­be un­ten, aber ne­ben sei­nem Früh­stück lag ein Zet­tel des Förs­ters, dass er auf die In­sel fah­ren (der Kahn lie­ge un­ten am Ufer) und ihn dort oder wie­der im Hau­se er­war­ten möge. Die Schrift war fest und ge­ra­de, und Tho­mas dach­te wie­der an das Lied in der Nacht und wie selt­sam es wohl aus­se­hen wür­de, wenn die Frau die Wor­te in ih­rer Schrift dar­un­ter set­zen woll­te. »Sie­ben Jah­re, mein lie­ber Herr …«

Lei­se ging er aus dem Haus. Der Re­gen hat­te fast auf­ge­hört, aber die Wol­ken zo­gen noch dun­kel, in lan­gen Zü­gen über den Wald. Aus den Bäu­men tropf­te es un­auf­hör­lich in das wel­ke Laub, und bei je­dem Wind­stoß rausch­te es schwer und sprü­hend her­ab. Es war im­mer noch warm, und die Wal­der­de roch bit­ter und schwer.

Dün­ne Ne­bel zo­gen über den See, und die In­sel lag düs­ter über dem grau­en Was­ser. Das Haus war nun zu se­hen, nicht mehr als eine große Hüt­te, und es war ei­gent­lich nur ein schwe­res Rohr­dach über ei­ner nied­ri­gen wei­ßen Wand. Aber Rauch stieg aus dem Schorn­stein, und da­ne­ben hob der be­wal­de­te Hü­gel sich bis zu den Ei­chen auf sei­ner Kro­ne. Die tro­ckenen Wip­fel ver­schwam­men im Ne­bel.

Tho­mas stand am Ufer und lausch­te, ob er einen Ton ver­näh­me, aus den Wäl­dern oder über dem Was­ser, aber nur der Rohr­sän­ger rief im ho­hen Schilf, und die Trop­fen fie­len im Wald. Er stand lan­ge und sah hin­über. Er hör­te sein Herz mit ru­hi­gen Schlä­gen klop­fen und dach­te, dass er als ers­tes ein klei­nes, leich­tes Boot für Joa­chim be­sor­gen müss­te, wenn er zu den Som­mer­fe­ri­en käme. Al­les an­de­re schi­en ihm ge­ord­net und selbst­ver­ständ­lich.

Er fuhr ste­hend hin­über, da die Ru­der­bän­ke nass wa­ren. Das Boot hat­te einen fla­chen Bo­den, und mit je­dem Schlag des lan­gen Ru­ders hob die Spit­ze sich lei­se rau­schend aus dem Was­ser. Zu­erst sah er den Grund, hel­len Sand, über den klei­ne, er­starr­te Wel­len­mar­ken lie­fen, dann wur­de das Was­ser dun­kel, fast schwarz, und grü­ne Ge­wäch­se ho­ben sich schwan­kend aus der Tie­fe auf. Mit­un­ter sprang ein schwe­rer Fisch ins Licht, und ein sil­ber­ner Schein blitz­te matt durch die graue Luft. Dann lie­fen dün­ne Rin­ge über den See, grif­fen über sein Boot hin­aus und erstar­ben wie­der. Es war ihm, als sei er im­mer so ge­fah­ren, als brauch­te es nicht auf­zu­hö­ren und als sei­en Schif­fe und Meer nur ein Traum ge­we­sen, eine ge­spens­ti­sche Ver­grö­ße­rung aus un­ru­hi­gem Schlaf, und nun zie­he sich al­les wie­der zu­recht zu ge­ord­ne­ter und be­schei­de­ner Wirk­lich­keit.

Der fla­che Kiel stieß lei­se auf den Sand des Ufers, und er stieg aus. Ohne sich um­zu­se­hen, ging er den Hang zum Hau­se hin­auf und klopf­te an die graue Tür. Als nie­mand ant­wor­te­te, trat er ein.

In dem dämm­ri­gen Licht sah er nur das Feu­er im Herd und eine dunkle Ge­stalt, die hin­ein­starr­te, die Arme auf die Knie ge­stützt, das Kinn in den Hän­den. Da kei­ne Ant­wort auf sei­nen Gruß er­folg­te, ging er um den Mann her­um und setz­te sich auf einen Holz­sche­mel ne­ben dem Herd. Un­ter dem grau­en Haar­busch sah er nun das Ge­sicht des Man­nes, fins­ter, aber nicht böse, wie es un­be­wegt in das Feu­er blick­te, den Wi­der­schein der Flam­me auf der ge­fal­te­ten Stirn und in den fast schwer­mü­ti­gen Au­gen. Ein grau­er Bart hing ihm un­ge­pflegt auf die Brust, und ein dump­fer Ge­ruch von Rauch und Fi­schen ging von ihm aus.

Es war noch stil­ler hier als auf dem Was­ser, nur das Feu­er knis­ter­te hin­ter der halb­ge­öff­ne­ten Herd­tür. Durch die klei­nen Fens­ter fiel das graue Licht wi­der­wil­lig auf die dunklen Boh­len, aus de­nen die Wän­de zu­sam­men­ge­fügt wa­ren. Net­ze hin­gen an Holz­pflö­cken, und Ru­der stan­den in den Ecken.

»Na?« sag­te der Mann und sah ein­mal flüch­tig auf.

Tho­mas er­wi­der­te, dass er sein Nach­fol­ger wer­den wol­le.

»Nach­fol­ger« sei gut, mein­te der Mann und sah ihn von der Sei­te an. »Thron­fol­ger« sei bes­ser, denn die Thro­ne wa­ckel­ten heu­te, und die­ser ins­be­son­de­re, auf den er sich zu set­zen ge­den­ke, sei mehr als wack­lig.

Nun, er habe nicht ge­ra­de die Ab­sicht ge­habt, sich auf einen Thron zu set­zen, sag­te Tho­mas.

Son­dern?

Son­dern zu ar­bei­ten. Er be­kom­me kein Schiff mehr als Steu­er­mann, und es sei ihm auch zu laut in den Städ­ten.

Der Mann nahm die Pfei­fe aus dem Mun­de und sah ihn lan­ge an. »Was du doch für ein ko­mi­scher Vo­gel bist«, sag­te er nach­denk­lich. »Bist du ein Ver­klei­de­ter, hm?«

Nein, er sei nicht ver­klei­det, er­wi­der­te Tho­mas lä­chelnd.

Tja, heu­te sei al­les mög­lich. Von rechts und von links. Nun, mit dem Lärm, da brau­che er hier nicht ban­ge zu sein. Auf der In­sel sei noch kei­ner von den Bon­zen ge­we­sen, um Re­den an das not­lei­den­de Pro­le­ta­ri­at zu hal­ten. Und ar­bei­ten? Das kön­ne er hier schon, wenn es ihm Spaß ma­che, für die Blut­sau­ger zu ar­bei­ten. Ihm ma­che es kei­nen Spaß mehr.

Auf See habe nie­mand da­nach ge­fragt, sag­te Tho­mas, für wen er ar­bei­te. Sie woll­ten eben zur See fah­ren, das sei ih­nen Freu­de ge­nug ge­we­sen. Und so wol­le er hier ar­bei­ten, weil es ihm Freu­de ma­chen wer­de.

»Na ja«, sag­te der Mann. »Warst du schon drü­ben?« Und er deu­te­te mit dem Dau­men über die Schul­ter.

»Nein.«

»Nicht un­eben in sei­ner Art, der Ge­ne­ral, aber däm­lich, sage ich dir, furcht­bar däm­lich. So aus der Zeit der Kreuz­zü­ge, ver­stehst du? ›Mein See, mein Wald, mein Schloss!‹ Nicht bei­zu­brin­gen, dass das eben­so mir ge­hört wie ihm. ›Ei­gen­tum ist Dieb­stahl‹, nie was ge­hört da­von. Aber or­dent­lich aus­ge­spro­chen wir bei­de manch­mal, al­les was recht ist … bis auf die Fah­ne.«

»Wel­che Fah­ne?«

Der Fi­scher knöpf­te lang­sam den Rock auf, an dem die Fisch­schup­pen glänz­ten, und hol­te aus der Brust­ta­sche sorg­sam ein ro­tes Tuch her­aus, viel­fach zu­sam­men­ge­legt und brü­chig in den Fal­ten. Er brei­te­te es auf sei­nen Kni­en aus und strich mit der schwe­ren Hand dar­über.

»Dies eben«, sag­te er. »Ich habe sie auf­ge­zo­gen über dem Haus, und je­des Mal sind sie ge­kom­men und ha­ben sie her­un­ter­ge­holt, er und sei­ne Scher­gen. Schließ­lich habe ich ge­kün­digt, Fah­ne muss sein!« Er stütz­te den Kopf wie­der in bei­de Hän­de und starr­te auf das rote Tuch.

»Aber hier, auf der In­sel?« frag­te Tho­mas. »Muss das sein?«

»Über­all«, sag­te der Mann fins­ter. »Über der In­sel und über dem Sarg …«

»Und nun?«

»Nun? Weiß nicht. In die Stadt zie­hen wahr­schein­lich und ’r­ein­schla­gen in die Ban­de, mit dem Ru­der rechts und links. Kei­ne Lust mehr zu ar­bei­ten. Sech­zig Jah­re ge­ar­bei­tet für einen Dreck, und jetzt kannst du nicht mal die Fah­ne auf­zie­hen, wenn du willst!« Er spuck­te ins Feu­er und nahm einen Schluck aus der wei­ßen Fla­sche.

Nein, Tho­mas dank­te.

»Al­les ler­nen, Freund­chen, hier, al­les ler­nen …«, mur­mel­te er fins­ter.

Tho­mas nahm aus sei­ner Brief­ta­sche ein in Sei­den­pa­pier ge­wi­ckel­tes Päck­chen, dünn wie ein Brief. Er schlug das Pa­pier aus­ein­an­der und nahm einen Tuch­fet­zen her­aus, nicht grö­ßer als eine Hand­flä­che, mit ein­ge­ris­se­nen Rän­dern. Er war schwarz, und nur an ei­ner Ecke, längs ei­ner ge­ra­den Naht, war ein wei­ßer Fleck wie an­ge­hef­tet. »Se­hen Sie«, sag­te er, »das ist nun mei­ne Fah­ne. Sie schlu­gen mich über den Kopf da­mals und war­fen mich über Bord, aber ich ließ nicht los und riss mit der Hand ein Stück her­aus. Ich hielt es noch in der Faust, als sie mich her­aus­fisch­ten, an­de­re, und ich habe es be­hal­ten. Es sieht nicht schlech­ter aus als Ihres, nicht wahr? Nur klei­ner und un­an­sehn­li­cher. Aber auf­zie­hen darf ich sie auch nicht mehr, das ha­ben wir nun ge­mein­sam.« Er lä­chel­te und ließ den Schein des Feu­ers über das Tuch spie­len.

»Also doch ver­klei­det!« sag­te der Fi­scher, beug­te sich aber vor und sah auf den Fah­nen­rest in Tho­mas’ Hand.

»Schlech­te Far­ben«, sag­te er be­küm­mert, »ha­ben vie­le dran glau­ben müs­sen … alle far­ben­blind … hin­ein mit ›Hur­ra!‹ und kopf­über auf den Grund … so dumm die Welt, so furcht­bar dumm …«

»Auch Sie wer­den kopf­über auf den Grund ge­hen, in der Stadt«, sag­te Tho­mas.

Der Mann fuhr mit der Hand waa­ge­recht durch die Luft. »Egal!« sag­te er. »Wer­de aber ei­ni­ge mit­neh­men, und dies kommt auf mei­nen Sarg!«

Er fal­te­te das Tuch wie­der zu­sam­men und barg es un­ter sei­nem Rock. »Mit Sech­zig hat man kei­ne Angst mehr, Freund­chen … ver­wah­re auch du dei­nes, hat mir ge­fal­len, auch wenn du ver­klei­det bist. Wer sich über den Schä­del hau­en lässt da­für, ist or­dent­lich. Die an­de­ren knei­fen nur den Schwanz ein wie die Kö­ter.«

Ja, er wol­le ihm al­les zei­gen, sei nicht viel zu be­se­hen hier. In der Tür blieb er noch ein­mal ste­hen und sah zu­rück. »Fah­nen­wech­sel«, sag­te er, »was für ein Spaß! Wir bei­de, was?« Dann ging er auf dem schma­len Steig vor­an, der durch die Scho­nung bis zu den Ei­chen führ­te. Eine graue Lei­ter war an einen der Stäm­me ge­lehnt, und sie stie­gen sie hin­auf. Oben, zwi­schen den rie­si­gen Äs­ten, war eine klei­ne Platt­form und ein ein­fa­cher Sitz an­ge­bracht. Man sah die gan­ze In­sel un­ter sich, den See, die Wäl­der und ein fer­nes Dorf zwi­schen Wie­sen und Acker­strei­fen.

»Kom­man­do­turm«, sag­te der Alte und lehn­te sich über das Ge­län­der. »Von hier kannst du se­hen, ob sie kom­men, Rote oder Schwar­ze oder Schwarz­weiß­ro­te. Sau­be­rer Platz für ein Ma­schi­nen­ge­wehr, aber ich hat­te keins … nun pass auf! Reu­sen und Stell­net­ze in die bei­den Buch­ten! Bei Ost­wind hier, bei West­wind dort. Vor dem Ge­wit­ter über­all. Bei Nord­wind zu Hau­se blei­ben und Net­ze trock­nen. Krebs­reu­sen dort ent­lang! Zwei bis drei Me­ter tief. Wenn du was nicht weißt, nicht den Ge­ne­ral fra­gen, son­dern durch das Fließ dort in den nächs­ten See fah­ren. Da lebt der Alte, acht­zig oder hun­dert Jah­re alt. Heißt Pe­ter, die Leu­te sa­gen Pe­trus. Habe ihn aber noch nicht auf den Wel­len wan­deln se­hen. Weiß al­les von den Fi­schen, spricht mit ih­nen, weiß, wann sie zie­hen und wann nicht, sieht in die Zu­kunft und priemt … wie heißt du üb­ri­gens?«

»Tho­mas.«

»Na also, die gan­ze Jün­ger­schaft zu­sam­men … und ich hei­ße Chri­stoph und kann euch über das Was­ser tra­gen … will üb­ri­gens gar nicht, dass du viel fängst, der Alte. Stadt­men­schen sol­len ver­hun­gern, meint er. Hast ein gu­tes Le­ber hier, wenn du was aus­ge­fres­sen hast und dich ver­klei­den musst. Kommt hier kei­ner schnüf­feln, nicht mal der Fisch­meis­ter. Angst vor dem Al­ten … Aber ist nicht im­mer so wie jetzt, Freund­chen. Kom­men dunkle Tage, wenn der Schnee­sturm dir über den Schorn­stein heult. Denkst an al­les, was du falsch ge­macht hast, ist kei­ner da, der mit dir eine Pfei­fe raucht. Bloß das Eis brüllt im See, und die Füch­se bel­len, und manch­mal heult der Wolf aus den Scho­nun­gen. Dann fängst du an zu trin­ken, Freund­chen, weil wir nichts an­de­res ha­ben als Schnaps, ver­stehst du? Wer in kei­ner gol­de­nen Wie­ge ge­le­gen hat, kann sei­ne Net­ze stel­len wie er will, sech­zig oder acht­zig Jah­re lang, geht ihm doch der Fisch mit der Gold­kro­ne nicht hin­ein. Ob du Rot hier auf­ziehst oder Schwarz­weiß­rot,1 das bleibt sich al­les gleich … und still wirst du, sage ich dir, so still wie ein Stein auf dem Grund …«

Er fuhr mit der Hand durch den lee­ren Raum und stieg die Lei­ter wie­der ab­wärts. »Stimmt al­les mit den Net­zen«, sag­te er an der Haus­tür, »kei­nes zu viel und kei­nes zu­we­nig. Nur mit den Mäu­sen muss du auf­pas­sen im Win­ter, dass sie dir kei­nen Scha­den ma­chen … Heu­te Abend gehe ich los, der Kahn liegt da an der ho­hen Fich­te.«

Er stand schon in der ge­öff­ne­ten Tür, und Tho­mas schi­en es, als sei er der Geist die­ser In­sel, grau, ver­wit­tert und ge­beugt, und als wür­de er selbst nach zwan­zig Jah­ren auch so da­ste­hen. Das Tor der Zu­kunft tat sich in ge­räusch­lo­sen An­geln auf, mit blit­zen­den Flü­geln, einen Herz­schlag lang. Er sah sich, wie eine Vi­si­on, auf der Schwel­le ste­hen und sich um­wen­den wie je­ner, nur mit ei­nem an­de­ren Ge­sicht, und dann hin­ein­ge­hen und vor dem Feu­er nie­der­sit­zen. Der Schein der Flam­me spielt über den Glo­bus, Län­der und Mee­re, Ber­ge und Strö­me. Er hat den Kopf in die Hän­de ge­stützt und blickt dar­über hin, ohne Wunsch und Be­geh­ren, vie­les hin­ter sich, we­nig vor sich, ein ein­sa­mer Mann, schweig­sam wie die Stei­ne auf dem Grund.

»Ich wer­de ihn fan­gen, Chri­stoph«, sag­te er, »den mit der gol­de­nen Kro­ne … ich wer­de ihn fan­gen!«

Aber der an­de­re ver­zog nur die Lip­pen über dem grau­en Bart, wink­te mit der Hand und ging hin­ein.

Eine un­sicht­ba­re Uhr schlug elf hel­le Schlä­ge, als Tho­mas vor der Schloss­trep­pe stand. Das Schloss war nicht mehr als ein großes Guts­haus, mit ei­nem ho­hen brau­nen Dach über zwei Flü­geln. Doch lag es breit und statt­lich über der See­bucht, und der Efeu, der bis an die Fens­ter des obe­ren Stock­werks rank­te, ließ es alt und ganz auf sich zu­rück­ge­zo­gen er­schei­nen. Das Wap­pen über der schwe­ren Tür war so ver­wit­tert, dass es nicht mehr als eine ge­pan­zer­te Faust er­ken­nen ließ, die et­was trug, aber es konn­te ein Li­li­ens­ten­gel wie eine Streitaxt sein. Der Park hin­ter dem Hau­se muss­te gleich in den Wald über­ge­hen, hin­ter dem Hof aber hob sich ge­ra­de der dün­ne Ne­bel über dunklen Fel­dern, die erst vom Ho­ri­zont be­grenzt schie­nen. Ein blau­es Tor tat sich zwi­schen den zie­hen­den Wol­ken auf, und ein hel­ler Schein fiel auf die re­gen­nas­se Erde, auf die leuch­ten­den Dä­cher und auf die Spit­ze der Fa­he­nen­stan­ge, die sich über der Mit­te des Hau­ses er­hob.

Dann stieg Tho­mas die Stu­fen hin­auf. Er läu­te­te an ei­nem al­ten Glo­cken­zug, und die schwe­re Tür wur­de von ei­nem Rie­sen in al­ter­tüm­li­cher Uni­form ge­öff­net. Tho­mas mein­te, sie müs­se aus der Zeit Fried­richs des Gro­ßen stam­men, mit weißem Le­der­zeug und ver­schnür­tem Rock, doch trug der Mann kei­ne Bä­ren­müt­ze, son­dern kurz ver­schnit­te­nes Haar, sah auch so aus, als hät­te man ihn eben vom Pflu­ge fort­ge­holt und er hät­te sich dort woh­ler be­fun­den als in sei­nem ge­gen­wär­ti­gen Amt.

»Der Herr Ge­ne­ral las­sen bit­ten«, sag­te er düs­ter und half Tho­mas aus dem Man­tel. Es klang, als lie­ge der Ge­ne­ral im Ster­ben.

Tho­mas nahm mit ei­nem Blick die rie­si­ge Hal­le wahr, die bis in das obe­re Stock­werk reich­te, eine schö­ne und breit auf­stei­gen­de Trep­pe von dun­kel­brau­nem, glän­zen­dem Holz, Schau­feln, Ge­wei­he, Vö­gel, Waf­fen, Ah­nen­bil­der, einen rie­si­gen Feu­er­platz, in dem ein gan­zer Baum­stumpf ver­kohl­te, und im Hin­ter­grund, zu bei­den Sei­ten ei­ner zweiflüg­li­gen Tür, zwei alte Ka­no­nen aus matt­glän­zen­dem Me­tall, die dunklen Mün­der dro­hend auf den Ein­gang ge­rich­tet.

Doch stan­den kei­ne Ka­no­nie­re ne­ben ih­nen, mit bren­nen­den Lun­ten etwa, wie Chri­stoph er­zählt hat­te, be­reit, das Feu­er so­fort auf je­den zu er­öff­nen, der es etwa an Hal­tung oder Ge­sin­nung gleich beim Ein­tritt sicht­bar feh­len lie­ße. Aber auch eine Re­gi­ments­ka­pel­le, ein Schel­len­baum und Bom­bar­don, wie Tho­mas sie eher ver­mu­tet hät­te, war nicht sicht­bar, so­dass er gu­ten Mu­tes, wenn auch et­was ver­wirrt von dem An­blick düs­te­rer Fei­er­lich­keit, dem rie­si­gen Gre­na­dier oder was er sonst sein moch­te, durch ein bü­cher­ge­füll­tes Vor­zim­mer bis an die Ei­chen­tür folg­te, an der die­ser nun deut­lich, aber doch in ge­zie­men­der Be­schei­den­heit klopf­te.

Eine et­was hei­se­re Stim­me rief »He­rein!«, der Gro­ße öff­ne­te die Tür, trat oder sprang viel­mehr mit er­staun­li­cher Ge­wandt­heit über die Schwel­le, schlug da­ne­ben die Ab­sät­ze sei­ner Schu­he un­ter den ge­schnür­ten Ga­ma­schen zu­sam­men und mel­de­te mit hel­ler Stim­me: »Der Herr Chri­stoph Nach­fol­ger, Herr Ge­ne­ral!«

Ein klei­ner, brei­ter Mann mit grau­er Li­tew­ka2 hob den Kopf von den Pa­pie­ren auf sei­nem Schreib­tisch, sag­te »Schafs­kopf!« zu dem Rie­sen und wink­te Tho­mas mit der Hand, nä­her zu tre­ten. Er wies auf einen Stuhl an der Schmal­sei­te des Ti­sches, war­te­te, bis der Rie­se das Zim­mer ver­las­sen hat­te, und blick­te dann Tho­mas an.

Die­ser mein­te, sein Ge­sicht schon als Kind ge­se­hen zu ha­ben, in der viel­bän­di­gen »Ge­schich­te der Erobe­rung des in­di­schen Rei­ches«, die in den Bü­cher­schrän­ken sei­nes Va­ters ge­stan­den hat­te, ganz un­ten, sechs dun­kel­brau­ne, schwe­re Bän­de, und in de­nen er die Bil­der vor al­lem lieb­te, in mat­ten Was­ser­far­ben, un­zu­rei­chend für die Glut je­ner Land­schaf­ten, aber er­füllt von selt­sa­men Men­schen, Tie­ren und Pflan­zen. Dort, in­mit­ten edel­stein­be­deck­ter Ma­ha­rad­schas und dä­mo­ni­scher Tem­pel, hat­te es auch Por­träts der Ero­be­rer ge­ge­ben, Sol­da­ten, Ka­pi­tä­ne und Kö­ni­ge des Han­dels, mit brau­ner Haut und weißem bu­schi­gem Haar, mit stren­gen, mit­un­ter grau­sa­men Lip­pen und kind­lich ge­blie­be­nen hell­blau­en Au­gen; Män­ner, von de­nen man nie wuss­te, ob sie Blut aus den Hirn­scha­len er­schla­ge­ner Lan­des­fürs­ten tran­ken oder ob sie, wie­der heim­ge­kehrt auf ihre grü­ne, neb­li­ge In­sel, vor den rie­si­gen Ka­mi­nen ih­rer Sch­lös­ser den schwe­ren Wein tran­ken, der in al­ten Ei­chen­fäs­sern die Rei­se nach In­di­en und zu­rück im­mer wie­der ge­macht hat­te, um jene Glut und Mil­de zu ge­win­nen, von der ihre Ge­sich­ter so braun­rot und fröh­lich ge­wor­den wa­ren. Män­ner, die er sich von der Meu­te ih­rer Hun­de und zahl­rei­chen En­kel­kin­dern um­ge­ben vor­ge­stellt hat­te und für die alle es nur einen ge­heim­nis­vol­len und fast tro­pi­schen Na­men in sei­ner Ge­dan­ken­welt ge­ge­ben hat­te: den Na­men der Na­bobs.3 Er hat­te nicht ge­wusst, wo­her die­ser Name stamm­te, aber et­was Dro­hen­des und gleich­zei­tig Hei­te­res war aus dem Klang der Sil­ben auf­ge­stie­gen, Fremd­heit und Zau­ber, Macht und Ein­sam­keit, und ein­mal hat­te er sei­nen Leh­rer in das hilflo­ses­te Er­stau­nen ver­setzt, als er auf die Fra­ge, was er ein­mal wer­den wol­le, laut und ohne Über­le­gung geant­wor­tet hat­te: ein Na­bob!

Nun muss­te er fast ein Lä­cheln ver­ber­gen, als er be­dach­te, wie we­nig er selbst je­nes kind­li­che Ver­spre­chen ein­ge­löst hat­te, we­der im Äu­ße­ren des Glan­zes noch im In­ne­ren selbst­ge­wis­ser und fast all­mäch­ti­ger Hal­tung, von ei­ner Meu­te von Grau­hun­den so­weit ent­fernt wie von ei­ner Schar hell­blon­der En­kel­kin­der, und wie auch je­ner, des­sen Ge­sicht ihm aus je­nen Bü­chern ver­traut war, in sei­nem Le­ben und Sein, in Erin­ne­run­gen, Macht und Reich­tum wohl weit hin­ter den Ur­bil­dern je­nes selt­sa­men Na­mens zu­rück­ge­blie­ben sein moch­te, au­ßer dass er viel­leicht in den Kel­lern die­ses Hau­ses einen an­sehn­li­chen, aber im­mer mehr ab­neh­men­den Vor­rat je­nes Wei­nes be­sä­ße, der, vor rie­si­gen Ka­mi­nen an lan­gen Aben­den ge­trun­ken, jene Haut­far­be ver­lei­hen moch­te, die wie von in­di­scher Son­ne ge­bräunt und ge­brannt er­schi­en.

Doch fühl­te Tho­mas sich nun durch die­se kind­li­che Erin­ne­rung über die Schran­ken des Al­ters und des Ran­ges leich­ter hin­weg­ge­ho­ben und glaub­te auch alle Wun­der­lich­kei­ten, auf die er vor­be­rei­tet war und de­ren An­fang er nun schon er­fah­ren hat­te, gu­ten Mu­tes über­ste­hen zu kön­nen.

»Hei­ßen Orla?« frag­te die hei­se­re Stim­me, die die Wor­te wie aus ei­ner Ge­wehr­mün­dung her­vors­tieß.

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

»Ge­dient?«

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

»De­ko­riert?«

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

Eine klei­ne Pau­se trat ein, in der der Ge­ne­ral fort­fuhr, sei­nen Be­su­cher gleich­sam durch­boh­rend zu be­trach­ten, nicht etwa aus Miss­trau­en, son­dern aus ei­ner al­ten Übung, die sich ihm vor der er­starr­ten Front un­zäh­li­ger Sol­da­ten­ko­lon­nen als nütz­lich er­wie­sen ha­ben moch­te. Tho­mas war über­zeugt, dass er ein Wai­sen­kind oder ein neu­ge­bo­re­nes Kalb im Stall auf ge­nau die glei­che Wei­se zu be­trach­ten pfleg­te, blieb also un­ver­än­dert in sei­ner gu­ten Hal­tung und wich den blau­en Blit­zen nicht für eine Atem­län­ge aus.

»Gru­ber er­zählt«, fuhr die hei­se­re Stim­me fort, »Steu­er­mann, Ska­ger­rak und der­glei­chen. Miss­trau­isch ge­gen al­les See­fah­ren­de. An­fang mit Schan­de ge­macht. Hof­fe, Re­gel durch Aus­nah­me be­stä­tigt se­hen. Hier nur brau­chen, was in Ge­sin­nung und Hal­tung zu­ver­läs­sig. Zu … ver … läs … sig! Ver­stan­den?«

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

»Gut … Vor­gän­ger Esel. Gü­ter­tei­lung, Welt­frie­de, rote Fah­ne und der­glei­chen. Kein Lump, aber Esel. Auf Bar­ri­ka­den fal­len. Glo­rio­se Zei­ten für Lum­pen und Esel. In­sel Stütz­punkt Was­ser­sei­te. Vor dem Fein­de fal­len, wenn nö­tig, ver­stan­den?«

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

Nach die­ser Ver­si­che­rung ent­spann­te das dro­hen­de Ge­sicht sich ein we­nig, und eine zwei­te Pau­se trat ein, in der Tho­mas sich zu er­in­nern ver­such­te, wel­cher der preu­ßi­schen Kö­ni­ge die­se Re­de­wei­se ge­liebt hat­te. Doch be­gann nun, als er des wei­te­ren Ver­lau­fes si­cher war, die In­sel sich wie­der zwi­schen sei­ne Ge­dan­ken zu schie­ben, und un­ver­mit­telt über­kam ihn nach die­sen ru­he­lo­sen und von frem­den Bil­dern über­la­de­nen Ta­gen das war­me Ge­fühl tröst­li­cher Ge­bor­gen­heit, eine glück­li­che Mü­dig­keit, die da­nach ver­lang­te, den Schein des Herd­feu­ers auf den dunklen Boh­len zu se­hen und den Wind um das Rohr­dach ge­hen zu hö­ren.

Zu­vor aber hat­te er noch ein­mal sei­ne Wor­te mit Be­dacht zu wä­gen, um die et­was zö­gern­den Fra­gen des Ge­ne­rals nach Schul­bil­dung, Rei­sen und Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­sen zu be­ant­wor­ten; emp­fing dar­auf sei­ne Dienst­an­wei­sung, die sich auf den Jagd­schutz er­streck­te, und un­ter­schrieb schließ­lich den kur­z­en Ver­trag, den sein Bro­therr nach ei­nem al­ten, schon ver­gilb­ten Mus­ter mit großen, al­ter­tüm­li­chen Buch­sta­ben auf­setz­te und ihm hin­schob.

Tho­mas las, was er an Rech­ten und Pf­lich­ten be­sit­zen wür­de, an Geld­lohn und »Na­tu­ra­li­en«, er­fuhr, dass Mehl, Kar­tof­feln und Win­ter­obst ihm zu­stän­den, wo­bei er das letz­te be­son­ders be­mer­kens­wert fand, dass »ein grau­er Fi­scher­rock nebst ei­nem Paar Was­sers­tie­feln, so bis über die Knie zu zie­hen«, ihm jähr­lich zu­kämen und dass er »al­le­zeit in Treue zu sei­ner Herr­schaft zu ste­hen« habe, wie auch die­se ge­lob­te, ihn »in Be­dürf­nis­sen des Lei­bes und der See­le gut und ge­ach­tet zu hal­ten«. Schi­en ihm also, als er dies lang­sam ge­le­sen hat­te, dass der Ver­trag wohl aus der Zeit je­nes wort­kar­gen Kö­nigs stam­men moch­te, dass aber gleich­wohl Rüh­ren­des in die­sen al­ten Wen­dun­gen lie­ge, mehr als er sonst in Ver­trä­gen mit Haus­wir­ten oder Mie­tern er­fah­ren hat­te, und als er noch ein­mal, be­vor er die Fe­der an­setz­te, in die Au­gen des al­ten Man­nes sah, wuss­te er, dass die­ser Ver­trag noch nie­mals mit bes­se­rem Wil­len und viel­leicht auch mit tiefe­rer Be­rech­ti­gung un­ter­schrie­ben wor­den war als eben nun.

Eine fes­te, brei­te Hand streck­te sich ihm über die Tisch­plat­te ent­ge­gen, und als er auf­sprang und sie er­griff, war es ihm, als könn­te er für die­sen al­ten, wun­der­li­chen Mann, um den eine ver­gan­ge­ne Zeit gleich­sam wie eine Rüs­tung stand, gern, »wenn nö­tig«, vor dem Fein­de fal­len.

»Gute Hal­tung!« sag­te die dro­hen­de Stim­me. »Gleich ge­sehn. Gut aus­kom­men.«

Sie tra­ten an den Ge­wehr­schrank, und der Ge­ne­ral zeig­te ihm die klei­ne Büch­se und Dop­pel­flin­te, die er ihm ins Forst­haus schi­cken wer­de. »Dem Esel ab­ge­nom­men«, sag­te er. »Auf Ei­che ge­stan­den und auf ›Blut­sau­ger‹ ge­war­tet. Bei ar­men Leu­ten Auge mal zu­drücken, bei Lum­pen Fin­ger krumm ma­chen! Den­ken, dass Ei­gen­tum auf­ge­hört hat. Zucht und Ord­nung hal­ten! Selbst dar­in groß ge­wor­den. Sol­dat blei­ben auch im Fi­scher­rock, ver­stan­den?«

»Ja­wohl, Herr Ge­ne­ral.«

Sie ver­ein­bar­ten, dass Tho­mas den Dienst in vier­zehn Ta­gen an­tre­ten soll­te, mit dem Fisch­fang aber nicht vor dem Mai zu be­gin­nen sei. »Mal auf In­sel be­su­chen«, schloss der Ge­ne­ral und streck­te noch ein­mal sei­ne Hand aus. »Kein Welt­meer her­um, aber gu­tes Was­ser. Nicht schlech­tes­te De­vi­se: ›Ich dien.‹«

Dann war Tho­mas ent­las­sen. Der fri­de­ri­zia­ni­sche Rie­se lehn­te schwer­mü­tig an der Ka­no­nen­mün­dung, und Tho­mas hat­te ihn im Ver­dacht, mit sei­ner Nase be­schäf­tigt ge­we­sen zu sein. Doch half er ihm freund­lich in den Man­tel.

»Un­be­quem?« frag­te Tho­mas und deu­te­te auf die Uni­form.

»Nein, Herr, bloß im Dorf ru­fen sie ›Kas­per­le‹ und schmei­ßen mit Pfer­de­äp­peln.« Er lä­chel­te me­lan­cho­lisch und be­glei­te­te den Gast zur Tür.

»Da­mals«, sag­te Tho­mas und zeig­te auf das wei­ße Ban­de­lier,4 »ha­ben sie noch mit an­de­ren Din­gen ge­wor­fen …«

»Ja­woll, Herr, und ich krie­ge sie schon noch ein­mal!«

Als er die Tür öff­ne­te und Tho­mas hin­austrat, kam ein schwarz­ge­klei­de­tes Mäd­chen die Stein­trep­pe her­auf­ge­stie­gen. Es war viel­leicht drei­zehn Jah­re alt, hielt sich sehr ge­ra­de und warf eben mit ei­ner Kopf­be­we­gung das Haar zu­rück, das ihm lose bis auf die schma­len Schul­tern fiel. Ein jun­ger, ha­ge­rer Mann mit ei­ner Bril­le, eben­falls in Schwarz ge­klei­det, be­en­de­te eben einen Satz, aus dem Tho­mas ent­nahm, dass von der Stel­lung der ger­ma­ni­schen Frau im Al­ter­tum die Rede ge­we­sen war.

Bei­de blie­ben ste­hen und sa­hen Tho­mas an, der jun­ge Mann zer­streut und noch mit sei­ner Be­weis­füh­rung be­schäf­tigt, das Mäd­chen auf­merk­sam und ohne Ver­le­gen­heit.

Tho­mas woll­te mit ei­ner leich­ten Ver­nei­gung zur Sei­te tre­ten, doch blieb er ste­hen, nahm den Hut ab und sag­te zu bei­den ge­wen­det, er sei Tho­mas Orla, der neue Fi­scher.

Wäh­rend der jun­ge Mann sich über­rascht ver­beug­te und einen un­ver­ständ­li­chen Na­men mur­mel­te, neig­te das Kind auf eine al­ter­tüm­li­che Wei­se den Kopf, ohne die Au­gen von sei­nem Ge­sicht zu las­sen, und frag­te: »Wie heißt du?«

Tho­mas wie­der­hol­te sei­nen Na­men.

»Ist das ein Name aus ei­nem Mär­chen­buch?«

Nein, das sei sein wirk­li­cher Name.

Das Kind ließ die lin­ke Hand nach­denk­lich über die schwar­ze Holz­per­len­ket­te glei­ten, die es um den Hals trug. »Ich hei­ße Ma­ri­an­ne von Pla­ten«, sag­te es. »Alle Mäd­chen hei­ßen so bei uns. Und das ist mein Leh­rer, Herr Ber­gen­grün … aber ›Or­la‹ habe ich noch nie­mals ge­hört … wirst du mit Chri­stoph zu­sam­men fi­schen?«

Nein, Chri­stoph gehe fort. Er wer­de al­lein auf der In­sel le­ben.

Chri­stoph sei ein ar­mer Mann, sag­te das Kind. Er habe im­mer böse zu ihr sein wol­len und sei im­mer freund­lich ge­we­sen.

Ob es nicht bes­ser sei als um­ge­kehrt, frag­te Tho­mas.

Das wohl, aber am bes­ten sei es doch, freund­lich sein zu wol­len und es auch zu sein, nicht wahr?

Da habe sie si­cher­lich recht.

»Herr Ber­gen­grün«, fuhr Ma­ri­an­ne fort, »sagt im­mer, alle Men­schen sind an­ders, als sie aus­se­hen. Aber ich glau­be das nicht. Herr Ber­gen­grün sieht im­mer aus wie ein auf­ge­schreck­ter Wich­tel­mann, und so ist er auch, nicht wahr, Herr Ber­gen­grün?« Ein lei­ses Lä­cheln be­weg­te ih­ren Mund, und sie leg­te ihre rech­te Hand mit ei­ner zärt­li­chen Be­we­gung auf den Arm des ver­le­ge­nen Kan­di­da­ten.

»Das sind so un­se­re Scher­ze«, sag­te er ent­schul­di­gend, »doch wür­de es uns wohl tun, wenn wir dann und wann auf die In­sel kom­men könn­ten. Mit Chri­stoph hat­te es sei­ne Son­der­hei­ten …«

Mit dir auch, mein Gu­ter, dach­te Tho­mas und sag­te, dass es ihn freu­en wer­de, sie bei sich zu se­hen.

»Und wirst du dort wirk­lich fi­schen?« frag­te das Kind.

»Ja, ich habe Chri­stoph ge­sagt, dass ich den Fisch mit der gol­de­nen Kro­ne fan­gen wer­de.«

»Gibt es den?«

»Die Mär­chen sa­gen es.«

»Und dann?«

»Dann will ich ihn dir schen­ken.«

Sie at­me­te ein­mal tief auf, und Tho­mas sah, wie die Per­len­schnur über der zar­ten Keh­le sich ein­mal be­weg­te.

Dann ver­neig­te er sich ernst­haft wie vor­her und stieg die Trep­pe hin­un­ter.

Im Wal­de erst, als er sei­ne Pfei­fe stopf­te, kam ihm zum Be­wusst­sein, dass es nun ge­sche­hen war, ja dass er dar­über hin­aus ge­lobt hat­te, vor dem Fein­de zu fal­len, wenn es nö­tig sei, und eine gol­de­ne­ne Kro­ne zu ver­schen­ken, wenn er sie ge­wän­ne.

Er saß auf ei­nem Baum­stumpf in der Son­ne und be­gann zu rech­nen. Er war im­mer or­dent­lich in die­sen Din­gen ge­we­sen und wuss­te, was ei­nem Mann an Brot, an Fleisch, an Ta­bak und Klei­dung zu­kam. Er wuss­te auch, was er hier nicht brau­chen wür­de und wo die Gren­ze zwi­schen ge­woll­ter Ein­fach­heit und er­zwun­ge­ner Ärm­lich­keit lag. Es zeig­te sich, dass sei­ne Pen­si­on den Sei­ni­gen ohne Ab­zug blei­ben konn­te und dass ihm je­den Mo­nat eine ge­rin­ge Sum­me üb­rig­blei­ben wür­de, um ein paar Bü­cher zu kau­fen oder einen Gar­ten an­zu­le­gen. Dass also selbst in dem grau­en Hau­se Schön­heit oder Freu­de ein­keh­ren dürf­ten, wenn ihn da­nach ver­lang­te. Ja, dass er so­gar Gäs­te mit An­stand wür­de auf­neh­men kön­nen, das ernst­haf­te Fräu­lein, das wahr­schein­lich aus ei­nem Gol­d­rah­men in der Hal­le her­un­ter­ge­stie­gen war, und den bib­li­schen Beglei­ter, der so fei­er­lich sprach, als wäre er schon mit den Erz­vä­tern durch die Wüs­te ge­zo­gen.

Er sah nun al­les so weit, als hät­ten sich Jah­re da­vor­ge­scho­ben: das Haus mit den Kie­fern im Vor­gar­ten, die don­nern­den Züge der Un­ter­grund­bahn, den Strom mit den Schiffs­lam­pen, ver­trau­te und frem­de Ge­sich­ter. Er be­dach­te, wie leicht es war, sich von al­lem zu lö­sen, au­ßer von dem Kin­de, und er­schrak dar­über. Ein brü­chi­ges Ge­we­be, das un­ter den Hän­den zer­fiel. Es konn­te nicht nur so sein, dass er von al­lem Ab­schied ge­nom­men hat­te, als sie aus­fuh­ren da­mals, in den ers­ten Näch­ten des großen Krie­ges, dass sie die Fä­den auf­ge­löst hat­ten, die sie mit der Zeit ver­ban­den. Denn sie woll­ten doch wie­der­keh­ren, das hat­ten sie doch alle ge­hofft. Aber es war wohl so, dass sie nun mit an­de­ren Au­gen wie­der­kehr­ten, er we­nigs­tens, und die alte Welt ih­nen selt­sam ver­än­dert war, Men­schen, Mei­nun­gen, selbst das Ge­lieb­tes­te der Erde. Das alte Glück war kein Glück mehr, ein wel­ker Strauß stand da, und man ging um ihn her­um, sah, dass es nicht an Was­ser fehl­te, nicht an Son­ne, und doch blieb er welk. Dies war es: der wel­ke Strauß! Man warf ihn nicht fort, wo die fri­schen Blu­men wuch­sen, ganz an­de­re und noch un­be­kann­te, und den an­de­ren schi­en er auch nicht welk, son­dern glü­hend und leuch­tend wie zu­vor. Sie sa­hen den Wurm nicht, aber er sah ihn. Et­was muss­te falsch ge­we­sen sein, von An­fang an, aber er konn­te es nicht er­klä­ren. Er hat­te ge­fühlt, dass er den Bo­den ver­lor, und nichts war da, an das er sich klam­mern konn­te.

Nun also wür­de er fort­ge­hen, und nur als von ei­nem Nar­ren wür­de von ihm ge­re­det wer­den. Sein Va­ter wür­de es wis­sen, aber sein Va­ter war tot. Man muss­te es nun al­lein wis­sen. Sich abends mit fro­hem Her­zen nie­der­le­gen kön­nen, das war viel­leicht das gan­ze Ge­heim­nis. Froh, wenn man an den ge­we­se­nen Tag, und froh, wenn man an den kom­men­den Tag dach­te. Kei­ne Er­leb­nis­se, kei­ne Hel­den­rol­le, kein Glanz um die Stirn. Die Net­ze aus­le­gen und wie­der ein­zie­hen, Haus und In­sel sau­ber­hal­ten, ein paar Sei­ten le­sen und abends am Was­ser sit­zen und in die Ster­ne se­hen. Den Ver­trag er­fül­len, den man un­ter­schrie­ben hat­te.

Wann war er froh ge­we­sen zur Nacht? Er leg­te Jahr auf Jahr bei­sei­te und kam wie­der bis zu sei­ner Kin­der­zeit. Der Va­ter, der gute Nacht sag­te, das of­fe­ne Fens­ter, durch das die lei­sen Geräusche des Guts­ho­fes ka­men, der Zi­gar­ren­rauch aus dem Ne­ben­zim­mer, wo der Va­ter noch über den Rech­nungs­bü­chern saß oder in ei­nem Band Fon­ta­ne las. Die Bil­der, die sich im­mer mehr ver­wirr­ten … der Wei­zen­schlag mit der bren­nen­den Son­ne … der Wald­see mit den al­ten Hech­ten … das Pferd, das er ritt, im­mer mit et­was klop­fen­dem Her­zen … die Uhr auf dem Hof, die ihre Schlä­ge über die neb­li­gen Fel­der schick­te, und der letz­te Schlag tön­te lan­ge nach, Wel­le auf Wel­le, im­mer mehr erster­bend … fro­hen Her­zens, so war er ein­ge­schla­fen und wie­der auf­ge­wacht.

Aber dann nicht mehr. Nicht als Ka­dett und nicht als Leut­nant. Dienst und Pf­licht im­mer wie eine Rüs­tung auf der Brust, und manch­mal schmerz­te die Rüs­tung … die Se­gel, der Mast­korb und dann die Ge­schüt­ze, die Na­vi­ga­ti­on, Zah­len, For­meln, Kur­ven, Rech­nun­gen, Ge­sich­ter, die fei­er­lich oder höh­nisch oder spöt­tisch wa­ren … und dann der Krieg, Men­schen­le­ben und Boo­te, die in sei­ner Hand la­gen, und die Hand war nicht im­mer stark, nein, nicht im­mer … kein fro­hes Herz, auch nicht un­ter den Ka­me­ra­den, ein Son­der­ling, still, scheu, ver­schlos­sen … der Krieg, ein bit­te­res Hand­werk, ohne Glanz, tö­ten und ver­nich­ten … und dann das Ende und die Lee­re der Tage und Näch­te, wie ein Brett auf dem Ozean, auf … ab. auf … ab … wie ein Ge­schwätz …

Dies aber war gut, die ho­hen, grau­en Stäm­me, ernst wie Mas­ten; die Wip­fel, aus de­nen der Dampf ver­gan­ge­nen Re­gens stieg; der Specht, der hin­ter dem Hü­gel häm­mer­te, flei­ßig wie ein ein­sa­mer Haus­va­ter; der See, der durch die Bäu­me blitz­te, und Vö­gel rie­fen über sein Glän­zen hin; Wol­ken, hoch im blau­en Raum, durch den die Kei­le der Kra­ni­che sich dräng­ten. Gut und still. Alte Ge­set­ze, de­nen die Krea­tur ge­horch­te, die den Tag ein­schlos­sen und die Nacht. Krieg auch hier, Lei­den auch hier, aber aus Ge­setz und nicht aus Will­kür.

Und der Ver­trag, der ihn ein­schloss in die­se Welt, der ihm die Stun­de er­füll­te und die ge­öff­ne­ten Hän­de. Ein ein­fa­ches Werk, in dem die Rä­der sich kreuz­ten und über­schnit­ten, ein Werk, das nichts brauch­te als Fleiß und gu­ten Wil­len und Ge­hor­sam vor der Ord­nung der Din­ge. Zu er­fül­len auch von de­nen, die noch die al­ten Waf­fen tru­gen, de­ren Sinn nach dem Ein­fa­chen trach­te­te, weil sie fremd wa­ren im Ver­wi­ckel­ten der Zeit. Die ein Dach woll­ten, einen Herd, eine Ar­beit und ein fro­hes Herz.

Es fiel ihm ein, dass er die Mön­che im­mer ge­liebt hat­te, ob­wohl er an­de­ren Glau­bens war. Die aus der al­ten Zeit, die den Wald ur­bar mach­ten und beim Ker­zen­licht die großen Buch­sta­ben auf gel­be Per­ga­men­te mal­ten. Die das Schwert nah­men, wenn es um den Acker ging oder um Gott, aber es wie­der fort­stell­ten, wenn der Acker und Gott ge­ret­tet wa­ren. Fern rausch­te ih­nen die Welt, ein Strom hin­ter Wei­den, aber sie woll­ten nichts von ihr. Sie woll­ten den Pflug und das Bild der Hei­li­gen Mut­ter und den Ker­zen­schein über der wei­ßen Zel­len­wand. Sie woll­ten sein wie die Stei­ne auf dem Grund, und das Werk ih­rer Hän­de sprach im­mer noch, hin durch die Jahr­tau­sen­de. Kein ver­ta­nes Le­ben, kein Aufruhr, kein Ge­schwätz. Ge­treue Knech­te, die un­ter Stein­plat­ten schlie­fen, aber der Haus­va­ter hat­te ihre Na­men ge­sam­melt und be­wahrt.

Wenn sie äl­ter ist, dach­te Tho­mas und stand auf, wird sie wis­sen, dass die gol­de­ne Kro­ne un­sicht­bar ist, und viel­leicht wird auch Joa­chim es wis­sen. Dass es nur das Letz­te des Le­bens ist, sein wah­rer Sinn, her­auf­ge­zo­gen mit dem Netz, an dem das Le­ben ge­spon­nen hat. Güte und Weis­heit und nichts ha­ben wol­len. Frie­den schlie­ßen, aber den Frie­den, hin­ter dem kein Krieg mehr steht … viel­leicht ge­win­ne ich es, dass ich es ih­nen zei­gen kann, nur ihr und ihm … zwei Men­schen sind schon viel, und ich selbst bin der drit­te … drei … was für eine große Zahl, was für eine Rie­sen­zahl für eine Men­schen­hand … Es war schwer, das Kind dort zu las­sen, schwe­rer als al­les an­de­re, aber es gab Wege, die man ohne Kin­der ge­hen muss­te, ohne Frau und auch ohne Kind. Erst muss­te man fest ste­hen wie der Mann im Zir­kus, be­vor man Frau und Kind auf sei­ne Schul­tern he­ben konn­te. Und er wür­de Joa­chim bei sich ha­ben, ein paar­mal im Jahr. Er wür­de ihn er­fül­len mit dem, was er in­zwi­schen ge­won­nen ha­ben wür­de. Er wür­de ge­treu­lich tei­len. Nur das Ge­rings­te wür­de er für sich selbst be­hal­ten wol­len. Er ging schon zu Tal, aber das Kind wür­de fort­zu­set­zen ha­ben, in das neue Le­ben hin­ein …

Der Förs­ter stand am Zaun und wink­te ihm. »Ein gu­tes Jahr, lie­ber Herr. Die Saat steht schön, und auf der In­sel wird es wie­der le­ben­dig sein. Ein Geist hat da ge­wohnt, und nun zieht der Mensch wie­der ein. Ein gu­tes Jahr …«

Sie hat­ten ein schweig­sa­mes Mahl, und dann war Tho­mas den gan­zen Nach­mit­tag auf dem Was­ser. Er fuhr das Ufer ab. Bucht für Bucht und Schilfrand nach Schilfrand. Er be­trach­te­te den Grund, Sand und Moor, See­ro­sens­ten­gel und ver­wit­ter­te Baum­stäm­me, de­ren Äste hin­auf­grif­fen, einen schma­len Pfad im ho­hen Gras und die Ot­ter­spur, die sich weich in den Bo­den drück­te. Er fuhr um die Wal­de­cke und wei­ter bis zum Fließ, hin­ter dem der zwei­te See be­gann. Und über­all Wald und Wie­se, Er­len­ge­hölz und Feld, ein grau­es Dorf vor ei­nem bläu­li­chen Kie­f­ern­strei­fen, ein Land ganz für sich, mit ei­nem ho­hen Him­mel, un­ter dem nur der Wind lei­se tö­nend ging.

Er sah Chri­stoph ab­fah­ren und das Boot an der ho­hen Fich­te ver­las­sen. Er trug einen Sack auf dem Rücken, sein gan­zes Hab und Gut, und grau und ge­beugt ver­schwand er im Ufer­wald, die Fah­ne si­cher­lich um den Leib ge­bun­den, ein Mann nach ei­ner ver­lo­re­nen Schlacht.

Nun war nie­mand auf der In­sel. Die Son­ne sank hin­ter die Ei­chen­wip­fel, Ge­wit­ter­wol­ken ho­ben sich bläu­lich über den Wald, über dem Schorn­stein hing kein Rauch, ein großer Vo­gel kreis­te über dem grau­en Dach und ver­schwand im dunklen Ge­wölk.

Tho­mas hol­te das lee­re Boot und fuhr zur Förs­te­rei zu­rück. Sie woll­ten zu­sam­men das Haus an­se­hen und was ge­än­dert wer­den soll­te, so­lan­ge Tho­mas wie­der fort war. Am nächs­ten Mor­gen woll­te er fah­ren und nach zwei Wo­chen wie­der­kom­men.

Es war nie­mand auf dem Hof, aber aus dem klei­nen Gar­ten hör­te er wie­der den lei­sen, schlaf­wand­le­ri­schen Ge­sang. Die Frau stand über der frisch­ge­gra­be­nen Erde, im schwar­zen Kleid wie bis­her, ein Tuch um die Schul­tern, und streu­te Sa­men in die neu­en Bee­te. Aber es war nichts in ih­rer Hand. Die Hand war leer, und nur die Ge­bär­de war vol­ler Sinn. Das Lied ging ein­tö­nig durch die Stil­le, ein­fach und fast hei­ter, wie ein Kin­der­lied oder ein Lied über kind­li­chem Schlaf. Und Tho­mas mein­te ihn dort kni­en zu se­hen, den das Feu­er im dunklen Turm ver­sengt hat­te, zu Staub und Asche ver­wan­delt, eine klei­ne Ge­stalt, die nach den Sa­men­kör­nern griff, und sie wuss­te noch nichts von der kom­men­den Ern­te der Zeit.

Die Luft war schwül wie am Abend zu­vor, die Wol­ken hat­ten die Son­ne be­deckt, und ein ge­dämpf­tes Licht fiel von den glü­hen­den Rän­dern über die Erde. In die­sem Licht ging der schwar­ze Arm der Frau lang­sam hin und her, die Rei­hen der Bee­te auf und ab, eine arme, kind­li­che Müh­le, die das tote Le­ben streu­te.

Wie­der frös­tel­te es Tho­mas, und er ging lei­se ins Haus. »Ja, ein frü­hes Ge­wit­ter kommt«, sag­te der Förs­ter. »Dann ist sie un­ru­hig und bleibt nicht im Hau­se. Sie kann das große Feu­er nicht se­hen über dem Wald, und doch bleibt sie auf, so­lan­ge das Wet­ter leuch­tet, die Hän­de vor den Au­gen. Sie sieht ihn wohl im Feu­er, lie­ber Herr …«

Sie fuh­ren schwei­gend über den See und tra­ten ins Haus. Es war so leer wie zu­vor, und es war nicht zu se­hen, dass ein Mensch es ver­las­sen hat­te. Sie sa­hen al­les an, und Tho­mas schrieb sich die Maße in sein Buch. Er wuss­te gleich, was er brauch­te, und sie rech­ne­ten die Prei­se aus. Ein Fuß­bo­den soll­te ge­legt, ein klei­ner Herd zum Ko­chen im Ne­ben­raum ge­setzt und das Fens­ter soll­te hö­her und um das Vier­fa­che ver­brei­tert wer­den. Al­les an­de­re soll­te un­ver­än­dert blei­ben, und der Förs­ter woll­te zu­se­hen, dass in zwei Wo­chen al­les fer­tig wäre. »Ein Palast, lie­ber Herr«, sag­te er lä­chelnd, »und im Win­ter wer­de ich das Licht durch die Bäu­me se­hen … Gott seg­ne Ihren Ein­zug, lie­ber Herr!«

Ja, Tho­mas woll­te noch ein we­nig auf der In­sel blei­ben. Er sah das Boot zu­rück­fah­ren, in die Däm­me­rung hin­ein und ver­schwin­den. Das Licht über dem See war schon er­lo­schen, und hin­ter den Ufer­wäl­dern flamm­te das Wet­ter schon röt­lich auf.

Tho­mas ging um die In­sel her­um über Sand und brau­nes Gras, am Schilf ent­lang, des­sen Hal­me sich lei­se an­ein­an­der rie­ben, und wie­der zu­rück. Er war so ein­sam wie auf dem Ozean. Sein Herz schlug, wie es vor der Schlacht ge­schla­gen hat­te, aber was vor ihm lag, war schö­ner als eine Schlacht. Er fand eine Stel­le auf der West­sei­te des Hü­gels, un­ter­halb der Ei­chen, wo Hei­de­kraut und jun­ge Fich­ten sich zum Ufer senk­ten. Dort konn­te man auf ei­nem Baum­stumpf sit­zen und weit über das Was­ser se­hen. Es war wie auf ei­ner Brücke, und hin­ter ihm rag­ten die Mas­ten auf.

Es dun­kel­te jetzt über den Wäl­dern, und das Feu­er hin­ter den Wol­ken blitz­te scharf und röt­lich über das Was­ser hin. Der Wind strich nied­rig über das Schilf, und wenn er erstarb, hör­te Tho­mas das lei­se er­ze­ne Dröh­nen hin­ter der Wol­ken­wand. Mit­un­ter tas­te­te nur ein fah­ler Schein über die In­sel und den Wald, da­zwi­schen aber flamm­te es böse und dro­hend auf, wie von lan­gen Roh­ren über grau­er Pan­zer­wand, ein grel­ler Strahl schoss den Him­mel hin­auf, und lan­ge hin­ter­her, aus be­gra­be­ner Fins­ter­nis, roll­te der fer­ne Don­ner lan­ge nach und be­weg­te die Erde, auf der Tho­mas saß.

Er sah mit weitof­fe­nen Au­gen in das Licht hin­aus. Er sah die grau­en Lei­ber vor­wärts­stür­men und die zer­wühl­te See zwi­schen ih­nen. Er hör­te Glo­cken, Si­gna­le und ver­we­hen­den Schrei. Er saß wie in ei­nem Traum, und vor sei­nen Au­gen und Ohren zog es vor­bei, die Sum­me ver­gan­ge­nen Le­bens, die Pro­be vie­ler Jah­re, die Ent­schei­dung jun­ger und be­ben­der Her­zen: die Schlacht.

Dann hör­te er die Flü­gel der großen Vö­gel rau­schen und den hei­se­ren, schwan­ken­den Schrei. Er sah sie im nächs­ten Leuch­ten über sich, den schma­len Hals ge­ho­ben, und wie die tro­ckenen Wip­fel un­ter ih­nen er­beb­ten.

Da ging er lei­se fort, zum Ufer hin­un­ter und an die­sem ent­lang bis zu sei­nem Boot. Ein paar Trop­fen fie­len, warm und schwer, und er stand noch eine Wei­le, be­vor er ab­fuhr, das Ge­sicht zu ih­nen auf­ge­ho­ben, mit of­fe­nen Au­gen, in de­nen die Blit­ze sich spie­gel­ten.

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3 rei­cher Mann <<<

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Das einfache Leben

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