Читать книгу Ich bin ein Zebra - Erwin Javor - Страница 8
Mit einem Schlag ist alles anders
ОглавлениеFür die junge Rose, die in der jüdischen Budapester Bildungsschicht angekommen war, schien es kaum vorstellbar, dass es auch andere Lebensbedingungen geben konnte. Doch als die Pfeilkreuzler, die ungarische Spielart der Nazis, die Macht ergriffen, wurde alles anders. Roses Mann Joseph und ihr Bruder Marzi wurden in ein Arbeitslager verschleppt, das Joseph nicht überlebte. Er starb dort an Entkräftung. Der athletische Hüne Marzi wurde gegen Kriegsende auf dem Todesmarsch im Burgenland von den Nazis erschossen, als er sich, völlig erschöpft, weigerte weiterzugehen.
Rose und ihre neunjährige Tochter Eva schlugen sich in Budapest noch eine Zeit lang durch, bevor sie verschleppt und mit etwa dreißig anderen Juden in eine überfüllte Wohnung im Budapester Ghetto gepfercht wurden. Dort hatten sie unter einem Esstisch ihren Schlafplatz und lebten in ständiger Angst, nach Auschwitz deportiert zu werden.
Als der Krieg endete, hatte Rose ihren Mann, ihren Bruder und die meisten anderen Mitglieder ihrer Familie bis auf ihre Mutter und drei ihrer Tanten an die Mörder des Naziregimes verloren.
Unter dajne wajße Stern, streck zu mir dajn wajße Hand, majne Werter sennen Trern, weln ruhen in dajn Hand. Sej, es dunkelt sejer finkel, in majn kellerdikn Blick, un ech hob gur nischt kajn Winkl sej zu schenkn dir zurick. Un ech will doch Gott, majn trajer, dir vertrojen majn Farmeg, weil es muhnt in mir a Fajer, un in Fajer majne Teg. Nor in Kellern un in Lecher wejnt die merderische Ruh. Lojf ech hecher iber Decher un ech such, wu bis du, wu? | Unter deinen weißen Sternen, reich mir deine weiße Hand, meine Worte sind nur Tränen, wollen ruhen in deiner Hand. Dunkel ist’s in diesem Keller, dir zurückzugeben hab’ ich gar nichts mehr. Und würd’ ich doch, mein treuer Gott, dir mein Vermögen geben wollen, denn wie ein Feuer lodert es in mir. Nur in Kellern und in Löchern find’ ich vor den Mördern noch die Ruh’. Lauf ’ ich höher, über Dächer, such’ ich dich, wo, ach wo, bist du? |
(Text Abraham Sutzkever, Musik Avreml Brodna, deutsche Übersetzung vom Autor)
In Worochta, ganz in der Nähe von Jablonica, begannen die Deutschen 1942 mithilfe der Einheimischen, die ansässigen und die aus Ungarn dorthin deportierten Juden zu erschießen. Fast die ganze Familie Engelstein wurde ermordet. Auch Markus’ Frau, die er noch im Schtetl geheiratet hatte, wurde in Polen von österreichisch angeführten Nazis umgebracht. Pinkas Engelstein, der mit gefälschten Papieren zur polnischen Armee gegangen war, wurde verraten und von der SS erschossen, nachdem er gezwungen worden war, sein eigenes Grab auszuheben. Auch Max Engelstein wurde mit seiner gesamten Familie ermordet. Nur die beiden Brüder Markus und Karol waren, ausgerechnet von einem der als besonders primitiv geltenden Huzulen in Worochta, gewarnt worden: »Geht nicht in euer Haus. Sie erschießen Juden.«
S’ brent! Briderlech, s’brent! Oj, unser orem Schtetl nebbich brent!… | Es brennt, Brüder, ach, es brennt! Ach, unser armes Schtetl, alles brennt! … |
Und ir schtejt un kukt asoj sich mit farlejgte Hent, | Und ihr steht nur da und schaut mit verschränkte Händ’. |
Un ir schtejt un kukt asoj sich – unser Schtetl brent! | Und ihr steht nur da und schaut – unser Schtetl brennt! |
(Text und Musik Mordechai Gebirtig, deutsche Übersetzung vom Autor)
Die beiden Brüder flohen daraufhin mit falschen Papieren über Rumänien und landeten in einem Arbeitslager in Ungarn. Eine einflussreiche polnische Adelige, die sich für ihre Landsleute im ungarischen Arbeitslager einsetzte, erwirkte ihre Freilassung. Markus und Karol kamen zu dem Schluss, dass sie so weit wie möglich östlich, den russischen Truppen entgegen, am sichersten wären. Sie hofften, unter den Russen bessere Überlebensbedingungen vorzufinden.
Nach Jablonica, wo ihre ganze Familie ausgerottet worden war, wollten sie nicht zurück. Aber genau dort landeten sie nach einem unglaublich langen und gefährlichen Fußmarsch letztlich doch wieder. In Jablonica kannten sie sich wenigstens aus und würden es leichter haben, ein Versteck zu finden.
Sie hatten sich allerdings zeitlich verkalkuliert, denn als sie im Ort ankamen, waren die Russen noch nicht dort, und sie saßen abermals in der Falle. Obwohl es riskant war, bat Markus eine der Dorfbewohnerinnen um Hilfe. Sie und ihr Mann beauftragten ihre Pflegetochter, zwischen einem Apfel- und einem Birnbaum ein Erdloch zu graben, in dem sich die Brüder verstecken konnten. Nachts brachte man ihnen Essen und Wasser. Die Angst davor, erwischt und von der Gestapo dafür erschossen zu werden, war groß, wurde aber von diesen einfachen Menschen heldenhaft besiegt.
Zu Kriegsende nach einem halben Jahr im Erdloch hatten Markus und Karol lange Bärte wie Rabbiner – oder Popen, und Popen waren den Russen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls suspekt. Dass sie Juden waren, mussten sie nun nicht verbergen, sondern beweisen. Um den russisch-jüdischen Offizier zu überzeugen, der in diesem Moment ihr Schicksal in der Hand hatte, begannen die Brüder, laut auf Hebräisch zu beten.
Es half, und nachdem zu diesem Zeitpunkt, 1944, nicht allzu viele glaubwürdige Nicht-Nazis in der Gegend zu finden waren, machten die Russen Markus Engelstein im mittlerweile »judenreinen« Jablonica zum Bürgermeister und beauftragten ihn, von Haus zu Haus zu gehen und ihnen die Mörder auszuliefern.