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1.3. Die Kirche der Laien pflegte ihre eigenen Riten
ОглавлениеDie Kirchengeschichte des brasilianischen Amazonien unterscheidet sich deutlich von der Geschichte der Ortskirchen in anderen Teilen Brasiliens. Die Kirchen der anderen Regionen interessierten sich auch nicht für Amazonien. Amazonien war immer weit, weit weg. Europa schien ihnen näher zu sein. Auch in politischer Hinsicht hat Amazonien seine eigene Geschichte. Als beispielsweise das Königreich Brasilien am 7. September 1822 seine Unabhängigkeit von Portugal erklärte und zum Brasilianischen Kaiserreich wurde, blieb Amazonien noch ein Jahr lang bis zum 15. August 1823 unter der Herrschaft von Portugal.
Die Evangelisierung Amazoniens begann mit der Gründung von Santa Maria de Belém do Grão Pará im Jahre 1616. Bereits im Jahre 1617 kamen die Franziskaner vom Heiligen Antonius, 1626 die Karmeliten, 1640 die Mercedarier. Eine besondere Geschichte ist die des Jesuitenordens in Amazonien. 1636 kam der erste Jesuit, Pater Luis Figueira, nach Grão Pará. Die Jesuiten bekamen sofort die erklärte Feindschaft der portugiesischen Kolonialherren zu spüren, die keine Ordensleute wollten, weil diese die Indigenen gegen die Versklavung verteidigten. Der Einfluss der Jesuiten musste also gebrochen werden und sie wurden bereits 1661, dann wieder 1680 und schließlich definitiv 1759/60 des Landes verwiesen.
Mit der Ausweisung der Jesuiten und anderer Ordensleute blieb die Evangelisierung auf der Strecke. Die jungen Gemeinden waren plötzlich ohne Priester und Sakramente. Aber der Samen des Wortes Gottes ging dennoch auf. Da es in verschiedenen Regionen kaum noch Priester gab, übernahmen Laien die Leitung ihrer Kirche in den kleinen Weilern und Dörfern. Ein populärer Katholizismus entstand mit seinen besonderen Ausprägungen: Marien- und Heiligenverehrung, Prozessionen, Litaneien und Novenen. Iberische, indigene und afrikanische Traditionen vermischten sich. Die noch heute bis in den letzten Winkel verbreitete Volksfrömmigkeit mit ihren religiös-kulturellen Ausdrucksformen und die von Laien ehrenamtlich übernommenen Leitungsfunktionen stammen aus dieser priesterlosen Zeit.
Der relativ lang andauernden Zeit des Laienkatholizismus in Amazonien folgte am Ende des 19. Jahrhunderts eine Epoche sogenannter Romanisierung. Das kirchliche Leben sollte nun wieder auf Linie gebracht und nach den römischen Bestimmungen und Gesetzen organisiert werden. Zeichen für diesen neuen Wind aus Rom waren die Errichtung der Diözese Manaus (1892) und die Erhebung der bereits 1719 errichteten Diözese von Belém do Pará zur Erzdiözese (1906). Dazu kam die sukzessive Errichtung von Territorialprälaturen, die allesamt Ordensgemeinschaften oder Kongregationen aus Europa (später auch aus Nordamerika) überantwortet wurden. Wie ein Fleckerlteppich wurde Amazonien unter den verschiedenen Ordensgemeinschaften und Kongregationen aufgeteilt. Manche Besonderheiten und Baustile von Kirchen, Kapellen und infrastrukturellen Einrichtungen der Pfarren lassen noch heute auf das Herkunftsland der Missionare schließen.
Der Einsatz dieser Missionare und der Ordensschwestern von damals war subjektiv sicher heldenhaft. Viele schenkten ihr Leben bis zum oft frühzeitigen Tod den Völkern Amazoniens. Aber die kulturellen Besonderheiten der Region waren ihnen fremd. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, das kirchliche Leben ganz nach den Vorschriften und Kanones Roms zu gestalten. Das gelang nur bis zu einem bestimmten Grad bei der Sakramentenspendung und den Messfeiern in lateinischer Sprache. Insgeheim aber feierten die Leute ihre Heiligen nach wie vor auf ihre Art und nach ihrem Stil. Es entstand eine Kirche mit den offiziellen Riten und Liturgien neben der Volkskirche mit ihrer besonderen Art von Frömmigkeit, ihren Riten und Liturgien.
Noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stammten über 90 Prozent der Priester und Bischöfe in Amazonien aus Europa und Nordamerika. Ein besonderer Nachteil der Romanisierung war der Rückzug der Laienverantwortlichen. Die sakramentale Betreuung des Volkes stand im Vordergrund. Kulturelle Eigenheiten der verschiedenen Völker wurden nicht berücksichtigt. Es war die Zeit der desobrigas, der wochen- und monatelangen, zum Teil gefährlichen, vor allem aber unendlich strapaziösen Flussreisen der Missionare mit dem ausschließlichen Ziel, die Sakramente zu spenden. Vielerorts wurden die im Laufe der priesterlosen Zeit gewachsenen Traditionen der Volksfrömmigkeit als religiöse Fehlformen und synkretistische Verirrungen getadelt, ja sogar verboten. Aber die confrarias (Bruderschaften) aus jener Zeit verschwanden nie. Sie lebten weiter, wenn auch mehr oder weniger ohne das Wissen der offiziellen Kirche. Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde ihr religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Stellenwert neu entdeckt.
Die Kirchen der anderen Regionen Brasiliens ignorierten Amazonien. Bewusst oder unbewusst. Erst ab 1972 schien sich eine neue Ära anzubahnen, als die Vorsitzenden der Brasilianischen Bischofskonferenz den Diözesen und Territorialprälaturen Amazoniens das erste Mal in der Geschichte einen Besuch abstatteten und die Realität wenigstens ein bisschen aus der Nähe kennenlernen konnten. Als Folge dieses Besuches rief die Bischofskonferenz ein Projekt ins Leben, das den Namen Igrejas Irmãs (Schwesterkirchen) erhielt. Besser situierte Diözesen in anderen Regionen Brasiliens sollten die Prälaturen Amazoniens finanziell und mit Priestern, Ordensleuten, auch Laienmitarbeiterinnen und Laienmitarbeitern unterstützen.
Dieses Projekt auf interdiözesaner Ebene hat jedoch, mit einigen rühmlichen Ausnahmen, nie richtig gegriffen. Entweder waren die Diözesen nicht bereit, beherzte Priester mit pastoralem Eifer nach Amazonien zu senden, oder die kulturellen Unterschiede zwischen Süden und Norden machten vielen zu schaffen, sodass sie oft nach kurzer Zeit aufgaben und in die heimatlichen Gefilde zurückkehrten. Das Projekt Igrejas Irmãs funktionierte am meisten und besten bei den Ordensgemeinschaften, die Amazonien als neues Wirkungsfeld für ihr Charisma entdeckten und bis heute wertvolle seelsorgliche Arbeit leisten.
Die Distanzen zwischen den einzelnen Bischofssitzen sind immens und bis vor ein paar Jahrzehnten fehlten Telefonnetze und -verbindungen. Daher fühlten sich die Bischöfe oft allein auf weiter Flur, allein mit ihren Problemen und Herausforderungen, allein angesichts des eklatanten Mangels an Priestern und Ordensleuten und dazu noch ohne die nötigen Finanzmittel. Die Prälaturen waren von Rom durch eine feierliche päpstliche Bulle errichtet, einem Orden oder einer Kongregation überantwortet worden, aber damit schien Rom seinen Teil geleistet zu haben.
Die brasilianische Regierung unter Präsident Getúlio Vargas hatte sich gegen eine Klassifikation Amazoniens als „Missionsland“ gewehrt. Das politische Brasilien wollte auf keinen Fall mit Ländern Afrikas oder Asiens verglichen werden. Damit war aber auch mit keiner finanziellen Hilfe seitens der damaligen Propaganda fide (vollständig Congregatio ad propagandam Romanae Sedis fidem, kurz Propaganda fide, heute: Congregatio pro gentium evangelizatione) zu rechnen, die das Resultat der alljährlich im Oktober von den Päpstlichen Missionswerken in allen Ländern durchgeführten Sammlungen an die „Missionsländer“ aufteilte und weiterleitete. Die Prälaturen im Amazonasgebiet gingen leer aus und hingen vom Wohlwollen der einzelnen Ordensgemeinschaften ab.
Der Ordinarius loci war zunächst meist nur ein Praelatus nullius und Apostolischer Administrator ohne Bischofsweihe. Er wurde vom Orden oder von der Kongregation vorgeschlagen und war ziemlich machtlos, weil auch die Devise „Wer zahlt, schafft an“ an der Kirche nie spurlos vorübergegangen ist. Der Prälat befand sich im direkten Abhängigkeitsverhältnis von seiner Ordensgemeinschaft, die in Rom ihr Generalat hatte. Die Prälaturen wurden Vikariate europäischer Ordensprovinzen. Der Orden oder die Kongregation hatte die Priester bereitzustellen und trug die Verantwortung für den Unterhalt des Klerus, während der Praelatus nullius für pastorale Leitlinien und die Überwachung und Ausführung kirchenrechtlicher Bestimmungen zuständig war.
Während des Pontifikates von Papst Pius XII. (1939–1958) nahm diese eigenartige Situation eines Ordinarius sine caractere mit der Bischofsweihe des jeweiligen Praelatus nullius und Apostolischen Administrators ein Ende, aber das Abhängigkeitsverhältnis der nunmehrigen Bischöfe änderte sich nicht. Sie hatten nun den bischöflichen Charakter, aber in einer für uns exotisch anmutenden kirchenrechtlichen Form. Sie blieben weiterhin Prälaten Nullius, wurden jetzt aber gleichzeitig Titularbischöfe irgendeiner untergegangenen Diözese in Nordafrika oder sonstwo im Mittelmeerraum.
Die Realität der Prälaturen änderte sich nicht mit den Bischofsweihen. Die Isolation der einzelnen und die erdrückende Last der pastoralen und sozialen Herausforderungen wogen schwer auf den Schultern eines jeden Bischofs. Jeder war auf sich allein gestellt. Das konnte so nicht weiter gehen. Es musste ein gemeinsamer Weg für die Evangelisierung, die pastorale Arbeit und die Lösung der sozialen Probleme in Amazonien gefunden werden, insbesondere seit die Regierung im Begriffe war, einen Integrations- und Valorisierungsplan für diese Makroregion zu entwerfen und diesbezügliche Projekte zu erarbeiten. Die Bischöfe fühlten sich plötzlich aufgefordert, hier mitzureden und ihre Stimme zu erheben, da sie ja die Probleme Amazoniens weit, weit besser kannten als alle Politiker, Abgeordneten, Minister und Regierungsmitglieder. Das war denn auch der Anstoß zur ersten Versammlung der Bischöfe Amazoniens vom 2. bis 6. Juni 1952 in Manaus. Es war wohl überhaupt die erste Bischofsversammlung einer Makroregion in Brasilien, noch bevor es die Brasilianische Bischofskonferenz gab, die erst einige Monate später, am 14. Oktober 1952, gegründet wurde.