Читать книгу Schlafen - Die Nacht und das Andere - Esther Grünig-Schöni - Страница 5
Wer ist er?
ОглавлениеElsa Mürner hantierte in ihrem Laden. Sie holte die Pakete von der Eingangstüre und packte die Ware aus. Dabei beobachtete sie die Straße. Erinnerungen tauchten auf. Sie roch den Sommer. Jenen Sommer, der ihr erst eine Liebe schenkte und dann wieder nahm. Sie dachte an die schöne Zeit mit dem Mann, sah ihn und sich in der Wiese liegen. Doch sie dachte auch an das Ende. An ihre Enttäuschung. Und daran, dass sie von da an alleine geblieben war. Manchmal, wie heute, fühlte sie Neid in sich aufkommen, wenn sie engumschlungene Paare sah oder Familien beim Sonntagsspaziergang. Dann kam es vor, dass sie ungerechtfertigt über dieses und jenes schimpfte, dass sie den Drang verspürte zu verletzen. Aber nur ab und zu, wenn es ihr schlecht ging.
Im Lauf der Jahre war das ganze Dorf ihre Familie geworden. Die Leute waren beim Einkauf gesprächig, und Elsa galt als gute Zuhörerin und geduldige Klagemauer. Sie mochte es sogar ein wenig, wenn andere Kummer hatten. Sie kannte sich darin aus und konnte Auskunft erteilen. Als junges Mädchen hatte sie ihre kranke, bettlägerige Mutter pflegen müssen. Die Geschwister waren flügge, und so blieb diese Aufgabe an ihr als der Jüngsten hängen. So war sie früh durch Pflichten gebunden. Sie half auch dem Vater im Laden. Als die Mutter starb, und der Vater mit zunehmendem Alter müde wurde, übernahm sie die kleine Kolonialwarenhandlung und führte sie in seinem Sinne weiter. Selbst das Schild mit dem verblichenen Schriftzug entfernte sie dem Hausfrieden zuliebe nicht. Hatte sie je eine Wahl gehabt? Alles war unaufhaltsam in vorgegebenen Bahnen gelaufen und sie hatte sich nie dagegen aufgelehnt. Der Vater lebte mit ihr im Haus, half ab und zu im Laden aus. Die Zeit verging. Ihre braunen Haare waren inzwischen grau durchsetzt. Nicht nur in den Augenwinkeln machten sich Fältchen bemerkbar.
Vom Fremden im Dorf hatte sie gehört. Wenn sonst nichts glatt funktionierte, das Buschtelefon tat's bestimmt und in atemberaubender Geschwindigkeit. In dem Ort gelang es niemandem, etwas längere Zeit zu verheimlichen; nicht vor Elsa, nicht vor Irma von der Post. Im Gegensatz zu Irma hatte Elsa jedoch kein giftiges Mundwerk, eher ein gut informiertes. Gut geölt war es außerdem und ihre Augen und Ohren hatte sie stetig auf Empfang. Sie wusste, dass der Fremde nicht im Gasthaus übernachtet hatte. Susanne und das Stubenmädchen Maria waren schon einkaufen gekommen und hatten berichtet. Wo also war er untergekrochen? „Diese Nacht ist's kaum möglich gewesen, im Freien zu schlafen. Es hat die ganze Zeit geregnet", sagte Maria, und Susanne ergänzte: "Unsere einzige Brücke ist zu niedrig. Da kann keiner drunter hausen." "Sieht er aus wie ein Landstreicher?" "Ja und nein." Susanne schilderte ihre Eindrücke. "Er hat also Geld?" "Ja." "Vielleicht ist er weitergezogen." "Oder er kennt doch jemanden."
Gab's da etwas Verheimlichtes? Das musste herauszufinden sein. Bestimmt würde ihr das gelingen. Elsa war zuversichtlich. Sie putzte das Glas der Schaufenster, saugte das Linoleum und die Fußmatte sauber, kontrollierte dann die gestern gelieferten Waren, machte sich auf den Rechnungen Notizen und füllte anschließend mechanisch die Regale auf.
„Eigentlich könnte ich das Schaufenster umgestalten“, fiel ihr ein. Entschlossen nahm sie die Auslagen heraus, ordnete sie neu, veränderte die Dekoration. Anstatt der Seidenblumen benutzte sie diesmal Strohwaren: kleine Körbchen, Hüte, Puppen und Gestecke. Sie war vertieft in die künstlerische Seite ihrer Arbeit. Als sie doch einmal einen kurzen Blick auf die Straße und den Platz warf, sah sie einen Unbekannten kommen. Das musste er sein! Susanne hatte ihn so beschrieben, dass es ihr schien, als tauchte ein Bekannter auf. Etwas unordentlich sah der mögliche Millionär wirklich aus, soviel konnte sie erkennen. Aber er trug ein Béret. Und eine große Tasche hatte er auch bei sich... Offensichtlich steuerte er ihren Laden an! Nun würde sie sich selbst ein Bild verschaffen. Gewiss gelang es ihr, mehr zu erfahren, gleichsam aus erster Hand. Susanne hatte sich vermutlich ungeschickt beim Aushorchen angestellt. Elsa wurde ganz aufgeregt und wäre beinahe gestolpert, als sie sich schnell aus dem Schaufenster in den Laden zurückzog.
Freundlich grüßend trat der Fremde ein. Die Türglocke bimmelte noch hell, als sie den Gruß in gleicher Weise gelassen erwiderte. Nichts verriet ihre innere Spannung. Der Mann war, so machte es den Anschein, viel herumgekommen. Sie stellte sich vor, wie er die Welt mit wachen Augen in sich aufgenommen und was er alles erlebt hatte. Schon nagte in ihr wieder dieser Neid. „Und du sitzt hier fest! Wahrscheinlich bis ans Lebensende“, dachte sie. Ein paar Strohhalme steckten in seinem Haar. Hatte er im Heu übernachtet? Eigentlich hätte der Fremde gut als Dekoration zu ihrer neuen Idee gepasst. Der Duft des Heus, der von ihm ausging, brachte sie darauf, dachte jedoch erneut an vergangene Zeiten … und ärgerte sich darüber. Kühl fragte sie: "Sie wünschen?" "Einen guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?"
Irritiert blickte Elsa den Mann an. Das war nicht die übliche Antwort auf ihre geschäftsmäßige Frage. "Ich? Ja! Aber..." "Entschuldigung! Ich kann's nicht lassen, andere nach ihrem Befinden zu fragen. Ein dunkles Brot hätte ich gerne, dazu ein Stück von dem Käse da, der so gut aussieht. Und vier Äpfel von der einheimischen Sorte..." Sie begann die Sachen bereitzustellen und überwand dadurch ihre Verwirrung. "Sind Sie zu Besuch?", erkundigte sie sich vorsichtig. "Ja." "Freunde?" "Nein. Ich besuche den Ort." "Ach..." "Kann ich bitte noch eine Tüte voll bunter Gummibärchen haben." "Wie? Gummibärchen? Mögen Sie so etwas?"
Sie wurde abgelenkt. Fünf Kinder, die meist – und in den Ferien fast den ganzen Tag - zusammensteckten, drückten ihre Nasen an der soeben blankpolierten Schaufensterscheibe platt. Die Glocke bimmelte diesmal hastig und aggressiv, als Elsa die Tür aufriss. "Wollt ihr wohl da verschwinden! Vor einer Stunde erst habe ich die Scheibe geputzt!" "Aber Frau Mürner..." "Na, wird's bald!" "Wir..." "Nichts da! Seht hier - eure Finger und Nasen! Lauter Abdrücke und Geschmiere!" "Wir machen's weg." "Nein danke! Verschwindet!" "Ja, ja." Sie trollten sich zögerlich. "Was ist denn mit der los?" hörte Elsa sie noch maulen. Eigentlich mochte sie die Kinder und legte meist etwas für sie zurück, Waren, die sie wegen kleiner Fehler nicht mehr anbieten konnte. Diesmal war der Ärger stärker, denn sie spürte vom Fensterputz noch den Schmerz in ihren Armen und den verspannten Rücken. Und überhaupt! Sie wollte den Mann im Laden aushorchen und das schien nicht leicht zu werden. Dabei sollte keiner stören.
Leider war der Fremde mit dem rätselhaften Lächeln nicht gesprächig. Elsa bekam nichts Wesentliches aus ihm heraus. Eher war es umgekehrt. Er guckte hinter ihre Fassade, mit Geschick und einer beunruhigenden Direktheit. Jeder andere wäre ihr durch ein solches Verhalten verdächtig geworden; sie hätte sich normalerweise die schrecklichsten Dinge ausgemalt. Der Mann besaß Wärme und Liebenswürdigkeit. Damit brachte er es fertig, die Ärgerfurchen auf ihrer Stirn zu glätten. Sie sah ihren Laden, den Platz davor und die Straße, ja das ganze Dorf auf einmal heller und den jungen Tag schöner, nahm Einzelheiten wahr, die sie jahrelang übersehen hatte: Wie anheimelnd altmodisch die Straßenlampen doch waren! Und so fand sie den Fremden sympathisch, weil er dies bewirkte, auch wenn sie nichts von ihm wusste. Mit der Tüte in der Hand und seiner geräumigen Stofftasche, in die er die anderen Einkäufe verstaut hatte, verließ er den Laden. Und sie sah, diesmal schon nicht mehr erstaunt, wie er sich auf dem Platz an die Kinder wandte. Sie standen ziemlich ratlos beim knorrigen Kastanienbaum. Er redete und lachte mit ihnen und bot ihnen die Gummibärchen an. Elsa lächelte und sagte laut: "Ich glaube nicht, dass ich mich deswegen sorgen muss."
Der Fremde hatte den Kastanienbaum erreicht. "Hallo! Müsst ihr nicht in der Schule sitzen?" Die Kinder, zwei Mädchen und drei Jungen, musterten ihn unverhohlen, wie's ihrem Alter entsprach. Er war jede Form von Neugier gewohnt; auch das genoss er, spielte damit, benutzte es für seine Zwecke, kehrte um, was umzukehren war, wandelte es in andere Dimensionen um. Geduldig wartete er auf die Antworten. "Nöö!" "Wir haben Ferien." "Noch. Zum Glück." "Schön für euch! Ich hab' keine Kinder, darum weiß ich das nicht. Mögt ihr Gummibärchen?" "Klar!" Eines der Mädchen aber schüttelte ihre langen dunklen Haare, wischte die Stirnfransen aus den etwas traurig blickenden Augen. "Wir nehmen nichts von Fremden!" sagte es mit fester Stimme. "Dann stelle ich mich erst einmal vor. Ich bin Toni."
Das zweite Mädchen, blondgelockt und frech-fröhlich, stieß die Freundin grob an. "Was soll der Quatsch, Mensch! Sind wir etwa klein und hilflos? Und außerdem sind wir zu fünft." "Trotzdem." "Der ist doch kein Unhold! Schau ihn dir an!" "Das kann täuschen. Das sieht man keinem an." "Ach Brigitte, hör auf! - Klar mögen wir Gummibärchen!" Toni lachte. "Gut. Ich gebe' sie dir. Verteil sie, dann kriegt deine Freundin sie von dir. Warum bist du dir so sicher, dass ich keine bösen Absichten habe?" "Och, ich sehe' das!" "Bereits so lebenserfahren?" "Ja, Gabi weiß, was sie will und was läuft!" Ein Junge mit langen blonden Haaren sagte es und seine Freunde – einer mit Bürstenschnitt und ein Schwarzhaariger – nickten dazu eifrig. Toni warf Gabi die Tüte zu. "Warum tun Sie das für uns?" wollte der Schwarzhaarige wissen. Der Mann lächelte. "Sag nicht 'Sie'! Einfach nur Toni." "Ist geritzt! Also warum?" "Weil mir danach ist. Genügt das?" "Akzeptiert!"
Und nun erfuhr er auch die Namen der Kinder. Der langhaarige Blonde war Erich, der Schwarzhaarige Andreas, der mit dem Bürstenhaarschnitt hieß Paul. Und dann waren da noch die misstrauische Brigitte und die freche Gabi. Toni wünschte den Kindern einen schönen Tag und meinte es auch so. Mit einem Lächeln wandte er sich zum Gehen.
Sein Weg führte an einem gepflegten Garten vorbei, in dem sich ein Mann lautstark über die hässliche Hundehütte auf Nachbars Grundstück ärgerte. "Hat der überhaupt eine Bewilligung, um sie aufzustellen? Immer muss der Extras haben! Schau dir bloß diese hellblauen Fensterrahmen und Läden an. Scheußlich! Kann der nichts machen, wie's hier üblich ist? Ist so was nicht verboten? Und wenn nicht, wird’s Zeit, dass es einer tut. Ich werde mich erkundigen." Eine Frau lehnte sich aus dem Fenster und versuchte den Krakeeler zu beruhigen. "Fritz! Reg dich nicht auf! Das tut dir nicht gut. Wen stören denn die blauen Läden und die Hundehütte?" "Na, mich!" Toni grüßte den Mann und die Frau freundlich und der missgelaunte Fritz staunte ihn mit halboffenem Mund an. Für einen Moment vergaß er seinen Ärger. Als aber Toni spitzbübisch lachte und sagte, blau sei eine fröhliche Farbe, brummte er: "Unverschämtheit!" Nun ja, vielleicht war er unverschämt, aber trotzdem freute Toni sich. Heute war ein guter Tag zum Zeichnen. Die Hunde des Ortes hatten ihn entdeckt. Sie wedelten mit dem Schwanz, begrüßten ihn auf ihre Weise. Und auch diesmal redete er mit ihnen. "Ja, ja! Das nächste Mal, Freunde, seid ihr an der Reihe! Dann bringe ich euch etwas mit. Ich verspreche es."
Die fünf beim Kastanienbaum blickten Toni nach, beobachteten grienend die Szene mit dem schimpfenden Fritz und erstaunt die freudig-zutraulichen, sonst recht bissigen Dorfköter. Sie wunderten sich auch über das freundliche Lächeln der Krämersfrau, die in der Tür stand, als der Fremde an ihrem Laden vorbeiging. "Ich glaub', die Mürner guckt verliebt!" "Vielleicht ist sie's." "Nein, das ist etwas anderes!" Gabi kaute schmatzend ein grünes Bärchen. "Der Fremde ist okay." "Ich weiß nicht. Irgendwie seltsam ist er schon." Brigitte blieb misstrauisch. "Quatsch!", widersprach Gabi und hielt der Freundin die Tüte hin. „Ist nicht vergiftet, Gitte!“ "Überleg doch mal. Benimmt sich sonst einer so?" Brigitte steckte sich nachdenklich nun doch eine Süßigkeit in den Mund. Ihr war beigebracht worden, allem und jedem zu misstrauen. Gabi runzelte die Stirn. "Du musst dauernd unken, bist unser düsteres Orakel! Kannst du nicht genießen, ohne lange zu überlegen?" Brigitte war nicht so leicht zu überzeugen. "Ich habe allerhand gehört. Es ist besser, vorsichtig zu sein!" "So'n Käse! Gehört! Pah! Erst seit gestern Abend ist Toni hier und da wollen die Leute schon alles über ihn wissen!" "Sie sind eben aufmerksam. Hier geschieht ja sonst nichts!"
Andi kam mit einer Idee. "Schluss jetzt mit eurem doofen Hin und Her! Wisst ihr was? Wir haben eine neue Detektiv-Arbeit!" "Oje! Jetzt kommt wieder seine Fünf-Freunde-Nummer!", ulkte Paul. "Bist du der Hund?", ärgerte ihn Gabi. "Wauwau!" Paul bellte fast überzeugend. "Hast du etwas Besseres?", murrte Andi. Erich winkte beschwichtigend ab. "Nein. Ist ja gut! Also, was tun wir?" "Das ist klar. Wir versuchen herauszufinden, wer dieser Toni ist. Es könnte interessant werden, wahrscheinlich sogar schwierig. Was will er hier? Was tut er? Mit wem gibt er sich ab? Na... einfach alles!" "Dann muss mindestens einer möglichst unauffällig immer an ihm dranbleiben.", sagte Brigitte. "Ihn beschatten", präzisierte Erich wichtig. "Ja, du Spezialist!" Paul schlug vor: "Wir notieren uns, was wir herausfinden, was wir sehen und was wir denken und vermuten – alles - auch wenn es unwichtig erscheint. Ich sammle eure Notizen und gebe sie in den Computer." "Die Fakten." "Nein, Erich, nicht nur die! Ich sagte - alles. Vermutungen und Empfindungen sind keine Fakten." Andi spottete: "Hört, hört, die Experten im Fachausdruck- Streit!" So lief es immer. Sie waren sehr unterschiedlich, doch sie ergänzten sich und deswegen klappte es im Endeffekt einwandfrei.
Der Computer war Pauls große Leidenschaft. Er nutzte jede Gelegenheit, ihn einzusetzen. Die Freunde schüttelten darüber die Köpfe, spotteten ein bisschen; aber nützlich war's ihnen schon mehrmals gewesen und nicht nur bei ihrem Detektivspiel! Paul fand alles heraus, was sie brauchten oder wissen wollten. Deshalb konnten sie auch als Detektive bereits Erfolge verbuchen: Sie hatten verlorene Handtaschen, Führerscheine, Schlüssel, Pudel gefunden, sogar einen Randalierer entlarvt. Damit hatten sie sich allerdings einen erbitterten Feind geschaffen - Armin Krall.
Eines Nachts hatte dieser Parkbänke zertrümmert und Mauern beschmiert. Nein, keine Graffitis, sondern echt nur widerliches Geschmier, womit auch immer. Sie waren ihm auf die Schliche gekommen, mehr noch, sie konnten es ihm beweisen. Er hatte den Schaden natürlich bezahlen müssen. Seitdem war er stinkesauer auf die fünf. „Das vergesse ich nicht!“, hatte er sie angeschrien. Bis jetzt war's bei der Drohung geblieben. Aber bei Armin konnte keiner sicher sein. Er war ein übler Schläger! Und wenn er eine Gelegenheit fand, würde er sich rächen. Die Verfolgung war beschlossene Sache. Andi begann sogleich, die Aufgaben zu verteilen, denn geplant musste so was werden und geschickt ausgeführt, damit etwas dabei herausschaute. Selbst der kühle Erich wurde vom Jagdfieber gepackt. Vorerst allerdings war es um den Erfolg mager bestellt, denn Toni war nirgends zu finden, obwohl die fünf den ganzen Ort und die nähere Umgebung durchkämmten. Was, wenn er bereits weitergezogen war?