Читать книгу Schmetterlingsscherben - Esther Hazy - Страница 4

Kapitel 2

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Ich kicherte albern und zog ihm die dunkelbraune Perücke vom Kopf, die wir in einer alten Truhe im Keller gefunden hatten. Damit sah er aus wie Doras Mama, bloß viel kleiner.

«Du kannst dich gar nicht so gut verkleiden, dass ich dich nicht erkenn», grinste ich frech durch meine Zahnlücke und er streckte mir die Zunge raus. «Wetten?!» Er griff zu einem Haufen alter Kleider und verschwand darunter.

Ich lachte los und schmiss die wunderschönen Tücher in die Höhe. «Ich würde dich immer und überall erkennen, selbst wenn ich nichts sehen kann!»

«Das werden wir ja sehen!», rief er und rannte lachend voran die Treppe hinauf.


Obwohl ich erst seit zwei Wochen wieder hier war, hatte ich schon einen neuen Ruf weg an der Schule. Vielleicht lag es daran, dass ich in letzter Zeit nur noch schwarz trug. Das hatte aber nichts mit meiner Glaubensrichtung zu tun, sondern eher damit, dass ich mich darin momentan einfach am wohlsten fühlte.

Dazu kam wohl die Tatsache, dass mich hier sowieso schon jeder für verrückt hielt und man mir alles zutraute. Jedenfalls galt ich jetzt offiziell als Satanistin, weil irgendjemand Samstagnacht auf dem Friedhof gewesen war und dort ein Grablicht zertreten hatte.

Aber wenn sie einen Grufti haben wollten, sollten sie auch einen bekommen. Vielleicht ließen mich die Leute dann wenigstens in Ruhe.

Ich zog also auch an diesem Morgen wieder meine Kluft aus schwarzen Jeans und Kapuzenpullover an und legte ein bisschen mehr Kajal auf als sonst. Ich stellte überrascht fest, dass ich wie geschaffen dazu war, als Grufti herumzulaufen. Ich hatte nie besonders viel Farbe im Gesicht gehabt und die letzten Wochen hatten mich noch blasser werden lassen. Meine schwarzen Haare umrahmten mein bleiches Gesicht und schimmerten im Neonlicht des Badezimmers leicht bläulich, während sich die Ringe unter meinen Augen deutlich hervorhoben. Ich wirkte ohnehin schon wie ein Zombie.

Vielleicht sollte ich mir ein Nietenhalsband kaufen. Aber dafür müsste ich vermutlich zum Einkaufen nach Hannover oder Bremen fahren. Hier gab es so etwas mit Sicherheit nicht.

Seufzend zog ich mir den Schuh über den rechten Fuß und humpelte die Treppe hinunter, um mit meinem Vater zu frühstücken.

Wir hatten relativ schnell eine gewisse Routine in unser Leben bekommen und starteten den Tag meistens schweigend über einer Schüssel Müsli. Da Rüdiger ein ziemlicher Morgenmuffel war, redete er um diese Uhrzeit eher ungern und verkroch sich meistens schnell hinter seiner Zeitung. Nur ab und zu lugte er darüber hervor und sah mich an, als ob sein Gewissen ihm einredete, dass er gefälligst mit mir reden müsse. Um seine Schuldgefühle ein wenig zu besänftigen, hatte ich es mir angewöhnt, den Regionalteil der Zeitung aufzuschlagen, den er selbst meistens gleich beiseitelegte.

Auch heute Morgen lag der Ausschnitt bereits auf dem Platz neben meiner Müslischüssel und ich grüßte Rüdiger nur kurz, ehe ich die Zeitung aufschlug und mir Milch über die Cornflakes kippte.

Als ich mit dem Frühstück fertig war, machte ich mich auf den Weg zur Schule.

Ich war bereits auf dem Schulhof angekommen, als ich wie vom Blitz getroffen anhielt und vom Rad stieg. Da, direkt vor mir, stand der Junge aus dem Kino halb abgewandt und unterhielt sich lachend mit zwei Schülern, die etwa in seinem Alter sein mussten.

«Lou!» Dora kam auf mich zu gerannt und strahlte mich gut gelaunt an. Ich hatte ihr diesen wirklich dämlichen Spitznamen leider nicht ausreden können.

«Da bist du ja.» Sie nahm mir das Rad aus den Händen, weil ich ja immer noch einen Gips trug und deswegen offenbar auch nicht in der Lage schien, mein Fahrrad selbst anzuketten. Eine Woche noch, dann kam der Gips endlich ab.

«Wer… ist das?», fragte ich möglichst beiläufig, während ich Dora zu den Fahrradständern folgte, den Blick auf den Blondschopf geheftet.

«Wer?», fragte Dora irritiert und sah sich um. Ich nickte in seine Richtung. «Na, der blonde Junge da hinten!»

Dora sah nur kurz zu ihm und dann wieder zu mir. «Das ist Lennard», sagte sie verständnislos. «Den kennst du doch!»

«Lennard», wiederholte ich und spürte, wie mein Frühstück wieder hochkommen wollte. «Lenny Lennard?!», hakte ich nach, nur um ganz sicher zu sein. Dora nickte bestätigend. Lenny Lennard. Das konnte unmöglich sein. Aber das erklärte natürlich auch die Narbe über seiner Augenbraue und die gebrochene Nase.

Das letzte Mal, als ich Lennard gesehen hatte, da hatte er noch ausgesehen wie ein bekloppter Cockerspaniel mit Brille und so `ner freakigen Mütze, die er immer getragen hatte, um seine hässlichen, rotblonden Löckchen darunter zu verstecken.

Das konnte unmöglich Lennard sein. Was machte der überhaupt noch hier an der Schule?! Ich war felsenfest davon ausgegangen, dass er nicht mehr in diesem Kaff festsaß, sondern zum Studieren irgendwo weggezogen wäre. Ich war davon ausgegangen, dass ich ihn nie wiedersehen musste. Aber dieses Glück schien mir nicht vergönnt zu sein.

«Oh mein Gott», murmelte ich und spürte, wie mein Würgereiz immer stärker wurde. Dass Lennard immer noch hier war, war schlimmer als alles andere.

«Ich muss kotzen», raunte ich Dora zu und verschwand hinter dem nächstgelegenen Busch. Nachdem die Cornflakes wieder draußen waren, fühlte ich mich nicht wirklich besser. Als ich wieder auf den Schulhof trat, war Lenny Lennard mit seinen beiden Kumpanen bereits im Schulgebäude verschwunden und ich atmete erleichtert auf. Wie benommen stakste ich hinter Dora her zur Eingangstür, jeden Moment darauf gefasst, dass er irgendwo wieder auftauchen würde. Mir war schwindelig und ich biss mir auf die Zunge, um nicht auch noch ohnmächtig zu werden. Es sollte mir egal sein. Er sollte mir egal sein. Aber irgendwie hatte mein Körper diese Information noch nicht ganz verarbeitet. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend folgte ich Dora die Treppe rauf zu den Klassenräumen. Mein Puls beschleunigte vor jeder Ecke, vor der wir ankamen und beruhigte sich erst wieder, als ich ihn nirgendwo entdecken konnte.

Erst, als wir im Klassenraum ankamen, fühlte ich mich in Sicherheit und ließ mich erleichtert in den Stuhl fallen.

Obwohl ich in der Pause am Liebsten drinnen geblieben wäre, wurde ich wie alle anderen dazu gezwungen, auf den Pausenhof raus zu gehen und die frische Luft zu genießen. Bei schönem Wetter war die Aula gesperrt, nur der Zugang zur Cafeteria war offen.

Jetzt, da ich ihn einmal im Umfeld der Schule entdeckt hatte, sah ich Lenny Lennard ständig. Er stand lässig in der Raucherecke mit seinen bescheuerten Kumpanen und rauchte und fühlte sich offenbar besonders groß.

«Neo, was geht?!», brüllte irgendjemand und klopfte ihm auf die Schulter.

«Wieso nennen diese Spinner ihn eigentlich Neo?», fragte ich Dora und kaute lustlos auf meinem Butterbrot herum. Mir war immer noch schlecht und ich fühlte mich, als würde eine Starkstromleitung durch meinen Körper geleitet werden. Völlig angespannt saß ich auf der Außenseiterbank neben ihr und starrte zu ihm hinüber. Mein Fuß hibbelte unkontrolliert. Seine Gegenwart war geradezu allgegenwärtig, und selbst wenn ich mich dazu zwang, woanders hinzusehen, spürte ich seine Anwesenheit nur allzu deutlich in meinem Rücken.

«Das ist sein Spitzname», erklärte Dora schulterzuckend. «Wegen seines Nachnamens. Du weißt schon.»

Ich sah sie verständnislos an, während Lennard sich in meinen Augenwinkeln lachend zur Seite neigte.

«Matrix?!», half sie mir auf die Sprünge. Richtig. Lennard Anderson. Mr. Anderson. Neo. Ergab irgendwie einen Sinn.

Seufzend ließ ich mein Brot zurück in die Tupperdose fallen und klopfte mir die wenigen Krümel von meiner Hose, ehe ich mich dazu zwang, die Finger still zu halten. In ruhigen Bewegungen knetete ich meine Handflächen.

«Isst du das noch?», fragte Dora und starrte gierig auf mein angelutschtes Sandwich. Sie schien ja wirklich hungrig zu sein. Wortlos schob ich die Dose zu ihr rüber und beobachtete, wie Lennard mit seinen Kumpanen Richtung Cafeteria abzog. Erst, als er ganz außer Sichtweite war, ließ meine Anspannung ein wenig nach und ich sackte innerlich zusammen.

In der letzten Stunde hatten wir Chemie beim Aschermann und ich saß die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen dort und starrte auf die Uhr hinter ihm, während ich dem Ende des Schultages entgegenfieberte.

Als es endlich klingelte, war ich die Erste bei der Tür.

«Louise, kann ich dich kurz sprechen?», rief der Aschermann und ich stöhnte innerlich auf. Seufzend schlurfte ich zurück zu seinem Pult und blieb davor stehen, während alle anderen an mir vorbei aus dem Raum gingen und der Letzte die Tür hinter sich schloss. Großartig.

«Wie geht es dir so?», fragte er und beäugte mich schräg.

«Ganz gut», antwortete ich irritiert. Er lächelte milde. «Wenn du jemanden zum Reden brauchst…»

«Äh. Geht schon.» Irritiert blinzelte ich mir eine Haarsträhne aus dem Auge.

«Hör mal… Ich weiß, dass du es wirklich nicht leicht hast. Und ich verstehe, wenn du dich im Moment mehr zu den Toten hingezogen fühlst, als zu den Lebenden. Aber ein Friedhof ist wirklich kein geeigneter Ort für ein junges Mädchen wie dich, meinst du nicht?»

Ich konnte es kaum glauben. War das etwa wirklich sein Ernst?! «Doch, ich find's da total gemütlich», erwiderte ich also sarkastisch und kreuzte die Arme vor der Brust.

«Louise…» Sein besorgter Blick bohrte sich in mein Gesicht und mir platzte endgültig der Kragen.

«Was ich mit meinem Leben mache, geht Sie jawohl einen Scheißdreck an!», fauchte ich und schmiss mir die Schultasche über den Rücken. An der Tür blieb ich nochmal stehen und funkelte ihn zornig an. «Ich hab übrigens ihre verstorbene Oma ausgebuddelt, ich soll sie schön grüßen!» Damit knallte ich die Tür hinter mir zu und hastete mit hochrotem Kopf den Korridor entlang. Erst als ich auf dem menschenleeren Schulhof ankam und mir der kalte Wind ins Gesicht wehte, beruhigte ich mich wieder. Was interessierte es mich, was der blöde Aschermann von mir dachte? Sollte er doch glauben, was er wollte!

Da sowieso keine Sau mehr außer mir auf dem Platz war, verzichtete ich darauf, meine Sonnenbrille aus der Tasche zu holen und stapfte so weiter.

Ich fuhr schnell, obwohl ich mit dem einen Fuß gehandicapt war und so nicht unbedingt sicher zum Stehen kam. Aber das war mir egal. Dieser Tag war sogar noch schlimmer, als alle anderen zuvor.

Mein Vater war bereits zu Hause und wartete auf mich mit dem Essen, auch wenn ich kaum Appetit hatte und mir immer noch leicht übel war. Eher lustlos stocherte ich in dem Salat herum. Offenbar merkte man mir meine Laune an.

«Ich hab was, das dich aufheitern wird!» Rüdiger strahlte, als ihm etwas einfiel. «Hier! Den hab ich im Vorgarten gefunden!» Er hielt mir den baumelnden Engelsschlüsselanhänger entgegen, der mich feindselig anblickte. Ach du Scheiße, das Ding hatte ich komplett vergessen. «Äh… Danke, Paps. Den hab ich… schon gesucht», murmelte ich ausweichend und griff nach dem kühlen Metall, ohne genauer hinzusehen.

«Demütigend. Zutiefst verletzend. Und wirklich gemein», maulte der Engel vor sich hin. Seufzend vergrub ich ihn in meiner Hosentasche und dämpfte damit immerhin ein wenig den Wortschwall, den mein Vater sowieso nicht hören konnte.

Der Engel war hartnäckig. Den ganzen Nachmittag über beschwerte er sich über meine grobe Art und mein unfreundliches Wesen und dass er wirklich etwas Besseres verdient hätte.

«Gott, dann geh doch einfach!», brüllte ich irgendwann nach dem Abendessen, als mir endgültig der Geduldsfaden riss. «Oder halt wenigstens deine verdammte Fresse!!!»

«Louise? Ist alles in Ordnung bei dir?» Rüdiger klopfte vorsichtig gegen meine Zimmertür und ich fuhr erschrocken zusammen. «Klar, Paps!», rief ich und griff nach meinem Handy, für den Fall, dass er reinkam. «Ich hab nur telefoniert!»

«Das klang aber nicht so gut?», hakte er vorsichtig nach.

«Ach, das ist nur jemand aus der alten Schule gewesen», stammelte ich. «Der schuldet mir noch Geld.»

«Na gut. Aber wenn du Hilfe brauchst oder irgendwie in Schwierigkeiten steckst, würdest du es mir doch sagen, oder?»

«Natürlich.» Ich lauschte angespannt, bis seine Schritte auf der Treppe verklungen waren und er sich wieder im Wohnzimmer ans Schreiben machte. Mein Vater war Autor, jedenfalls versuchte er, einer zu werden. Bisher hatte er allerdings noch nichts veröffentlicht. Immerhin lief es mit seinem Buchladen einigermaßen, sodass er davon leben konnte.

«Und jetzt zu dir, du…», knurrte ich leise und starrte den Engel wütend an. «Dich gibt es nicht. Du existierst gar nicht. Ich sehe dich überhaupt nicht.»

«Na klar gibt's mich!», flötete die Figur und drehte sich einmal um sich selbst. «Ich bin Ramona!»

Ich stöhnte entnervt auf und warf den Kopf in den Nacken. Was hatte Herr Meineken immer gesagt? Du musst es akzeptieren. Du musst wahrnehmen, dass es ein Teil von dir selbst ist. Und dieser Teil will dir irgendetwas sagen. Hör auf dich. Geh in dich. Und erkenne, dass dieses Wesen nicht existiert.

Ich hatte es akzeptiert. Ich wusste, dass es nicht real war. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was mir mein Gehirn mit Ramona mitteilen wollte.

«Ich verspreche, dich nicht nochmal aus dem Fenster zu werfen, wenn du von jetzt an schweigst. Alles klar?»

Ramona nickte artig und hüpfte vom Schreibtisch aus auf den Boden. Seufzend schmiss ich mich ins Bett und schloss die Augen.

Keine Ahnung, wieso Lenny Lennard immer noch in diesem Nest rumgammelte. Ich wusste nur, dass ich seinen Anblick nicht viel länger ertragen konnte. Aber immerhin schien er mich nicht erkannt zu haben. Wenn ich Glück hatte, erinnerte er sich gar nicht mehr an mich. Vielleicht musste ich nicht einmal mit ihm sprechen. Ich würde ihm einfach so gut es ging aus dem Weg gehen müssen und könnte dann vielleicht vergessen, dass er überhaupt existierte.

Schmetterlingsscherben

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