Читать книгу Schmetterlingsscherben - Esther Hazy - Страница 5

Kapitel 3

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«Und das ist die Göttin der Jagd und des Winters, Skadi», erklärte Lennard, der neben mir auf dem Boden lag und in seinem Buch über keltische Mythologie blätterte.

«Wow!», rief ich und strich über die Figur auf dem Papier. «Sie ist wunderhübsch!»

«So wie du», grinste er jetzt und sah mich an. «Du bist meine Göttin des Winters!»

Ich kicherte albern. «Aber ich bin doch gar keine Göttin!»

«Ab heute nenn ich dich nur noch Ska…» Er sah erneut auf den Namen. «Di.»

«Di?!» Ich lachte erneut und Lennard streckte mir die Zunge raus. «Ska. Meine Ska!»


Ich war wiedermal die Letzte, die aus dem Klassenraum kam. Herr Aschermann hatte offenbar Gefallen daran gefunden, mich täglich noch länger dazubehalten, um seine pseudopädagogische Lehre bei mir anzuwenden. Wenig erfolgreich, aber er war wirklich beharrlich und durchlöcherte mich mit Fragen, ob es mir gut ginge und was ich den Tag über gemacht hätte. Ich beantwortete sie größtenteils patzig und wenig informativ, aber das schien ihn nicht abzuschrecken. Heute war schon der vierte Tag in Folge, an dem er es versuchte. Ich konnte bloß hoffen, dass er das bald wieder aufgab, wenn er feststellte, dass er aus mir nichts herausbekam.

Natürlich war keiner der anderen Schüler mehr da, als ich auf den Schulhof trat. Dora hatte sonst immer auf mich gewartet, aber heute musste sie sich beeilen, weil ihre Oma Geburtstag hatte.

Seufzend humpelte ich also alleine bis zu den Fahrradständern und starrte auf das einzige, noch verbliebene Rad. Jemand hatte beide Reifen davon aufgeschlitzt und die Luft herausgelassen, sodass es nur noch auf den Felgen stand.

«Spitze», murrte ich, öffnete das Schloss und schob das Rad in Richtung Straße.

«Hey! Hey, Ska!» Ich zuckte innerlich zusammen und mein Magen verkrampfte sich, als ich diesen Namen hörte. So hatte mich seit Jahren niemand mehr genannt und ich kannte auch nur eine einzige Person, die mich überhaupt jemals so bezeichnet hatte. Einen flüchtigen Moment überlegte ich, ob ich einfach weitergehen sollte und so tun konnte, als hätte ich ihn nicht gehört. Aber mit meinem Gips war ich nicht sonderlich schnell und er hätte mich vermutlich noch vor der Straße eingeholt. Mit einer unguten Vorahnung drehte ich mich also um und sah Lennard auf mich zukommen. Und ich wusste, dass er sich noch genau erinnerte. An alles.

«Soll ich dich mitnehmen?» Er hielt einen Autoschlüssel in die Höhe und grinste blöd über seine dämliche Visage.

«Da kriech ich lieber auf allen Vieren nach Hause», antwortete ich bissig und schob das Rad weiter.

«Wenn du in dem Tempo weitermachst, schaffst du es bestimmt bis zum Anbruch der Dunkelheit», lachte Lennard und ging weiter neben mir her. «Komm schon. Ich fahr da sowieso direkt dran vorbei. Du musst auch nicht mit mir reden.»

«Lass mich in Ruhe.» Ich hatte jetzt die Straße erreicht und hielt kurz inne, um meinem Fuß eine Pause zu gönnen.

«Na schön, dann ruf ich deinen Vater an und sag ihm, dass er dich abholen soll», seufzte Lennard und zog eines dieser überteuerten Zwitterdinger zwischen Handy und Minilaptop aus der Tasche.

«Untersteh dich!», knurrte ich und griff nach dem Ding. Lennard hielt es so hoch, dass ich nicht mehr dran kam, und grinste feixend. «Fährst du mit?»

«Ich hasse dich», gab ich ihm als Antwort und wendete das Rad, um damit zurück auf den Schulhof und in Richtung Parkplatz zu gehen.

«Das ist gut», nickte er. «Hass ist immerhin ein Gefühl. Scheint, als wärest du noch kein Vampir.» Er nahm mir das Rad ab und hielt mir die Hand entgegen, damit ich ihm auch meine Schultasche gab. Ich ignorierte die Geste und ging wortlos an ihm vorbei.

«Du siehst abgemagert aus», rief er und folgte mir.

«Ich lag fünf Wochen im Krankenhaus, Arschloch», fauchte ich. Lennard hatte mich kurz darauf wieder eingeholt. Er war wesentlich schneller als ich mit meinem Gipsfuß.

«Das ist aber schon eine Weile her. Geht's dir gut?», fragte er und beäugte mich schräg.

«Ganz phantastisch.»

«Okay, blöde Frage.» Er verdrehte die Augen. «Tut mir leid, das mit deiner Mutter…»

Ich blieb stehen und funkelte ihn hasserfüllt an. «Hast du nicht gesagt, du hältst die Fresse, wenn ich mitfahre?!»

Er hob entschuldigend die Arme. «Bin schon still.»

Wir hatten jetzt den protzigen BMW seines Vaters erreicht und Lennard öffnete den Kofferraum und zwängte irgendwie mein Rad hinein.

«Hättest du nicht letztes Jahr Abitur machen müssen?», fragte ich mit gekreuzten Armen vor der Brust, als er den Kofferraum zuschlug. Er grinste breit. «Hab in der Elften eine Ehrenrunde gedreht.»

«Wow, wie beeindruckend», gab ich sarkastisch von mir und humpelte zur Beifahrertür. Lennard war schneller und öffnete sie für mich. Wortlos stieg ich in den Wagen, ehe er die Tür wieder zumachte und auf der Fahrerseite einstieg. Er beäugte mich abschätzig. «Was ist mit dir? Wie kommt's, dass du immer noch zwei Jahrgänge unter mir bist?»

«Ich hab ein Jahr pausiert», erklärte ich ihm, zog mir meine Kapuze wieder über und setzte die Sonnenbrille auf.

«Was hast du in der Zeit gemacht? Warst du im Ausland?»

«So was in der Art», antwortete ich ausweichend und schnallte mich an.

Das erste Mal in meinem Leben freute ich mich über die Tatsache, dass dieses Nest so klein war. Wir brauchten keine fünf Minuten bis zu meiner Straße und erleichtert schnallte ich mich ab, als wir vor unserem Haus zum Stehen kamen. Lennard öffnete die Tür und bot mir helfend die Hand an, die ich beiseite schlug und mich selbst irgendwie aus dem Wagen hievte.

Er holte mein Rad aus dem Kofferraum und schob es in unseren Vorgarten, ehe er wieder zu mir kam und mich erwartungsvoll ansah.

«Was?! Ich werde mich bestimmt nicht dafür bedanken, dass du mich genötigt hast, mit dir zu fahren!»

Diesmal lachte er nicht. Er verzog bloß das Gesicht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Du hättest echt nicht wieder herkommen sollen, Ska.» Damit drehte er sich um und ging ums Auto herum.

«Als ob ich mir das ausgesucht hätte», murmelte ich eher zu mir selbst und humpelte zur Tür herüber, während der Wagen hinter mir aufheulte und losfuhr. Ich drehte mich nicht nochmal um, sondern ging direkt ins Haus.

«Hey! War das Lennard da draußen?» Mein Vater kam in den Flur. Offenbar hatte er uns durchs Küchenfenster beobachtet.

«Ja, er… er hat mich hergebracht», seufzte ich, zog die Kapuze vom Kopf und die Sonnenbrille vom Gesicht und schmiss meine Tasche in dieselbe Ecke wie immer. «Meine Reifen sind hinüber.»

«Deine Reifen? Vom Fahrrad? Na, das ist aber nett von ihm, dass er dich da fährt!» Rüdiger lächelte gut gelaunt. «Aber Lennard und du, ihr habt euch ja schon immer bestens verstanden!»

«Können wir einfach essen, Pa?!», fauchte ich eine Spur zu aggressiv. Mein Vater sah mich schon wieder mit diesem furchtbar besorgten Blick an, nickte nur und schob mich voran ins Wohnzimmer. Es tat mir leid, dass ich ihn so angepampt hatte, aber dieser Tag war auch so schon schlimm genug gewesen. Und das Letzte, was ich wollte, war, über Lenny Lennard zu reden.

Nach dem Essen verzog ich mich direkt in mein Zimmer. Ich verriegelte die Tür von innen und drehte die Stereoanlage auf, damit meine Schluchzer im Flur nicht zu hören waren.

Alles, wirklich alles lief im Moment so furchtbar schief. Ich wollte nicht hier sein, ich hatte nie wieder herkommen wollen und einfach alles vergessen wollen, was ich hier erlebt hatte.

Und wieso hatte er mich unbedingt ansprechen müssen?! Hätte er nicht einfach so tun können, als ob er mich nicht gesehen hätte, und mich das dämliche Rad nach Hause schieben lassen? Das wäre mir tausendmal lieber gewesen, als mit ihm sprechen zu müssen.

Ich konnte ihm unmöglich wieder unter die Augen treten. Mir wurde speiübel, als ich an die Schule morgen dachte. Er würde da sein. Bis zu seinem Abitur. Noch einige Monate. Das würde ich nicht durchstehen.

Ich warf mich ins Bett und versuchte an irgendetwas anderes zu denken, aber alles, was ich sah, wenn ich die Augen schloss, war sein Gesicht.

«Du bist so aufgewühlt», murmelte Ramona, die über mir schwebte. «Mach die Augen zu, ich werde dich beruhigen.»

Seufzend senkte ich die Lider, auch wenn es in meinem Magen rumorte wie in einem Betonmischer. Die kleine Engelsfigur pustete sanft auf meine Augenlider und die Stirn und kühlte meine Wangen, die ganz heiß geworden waren.

Irgendwie senkte sich mein Puls und mein Körper entspannte sich. Auf einmal war ich einfach nur noch müde und komplett erledigt und es fiel mir nicht weiter schwer, einzuschlafen.

Mit dem nächsten Morgen kehrte die Panik zurück. Ich konnte unmöglich zur Schule. Das würde ich nicht über mich bringen. Nicht heute. Noch nicht. Vielleicht morgen, oder übermorgen, wenn ich mich irgendwie mit dem Gedanken abgefunden und mich seelisch auf eine zweite Begegnung eingestellt hatte.

Aber auf keinen Fall so.

«Pa?», fragte ich also, als ich im Schlafanzug in die Küche tapste. «Mir geht's nicht so gut. Wäre das okay, wenn ich heute zu Hause bleibe?»

Mein Vater sah erschrocken von seiner Zeitung auf und wurde jäh in seiner Morgenroutine unterbrochen. Besorgt musterte er mich. Ich zog an den Ärmeln meines ausgeleierten Pullovers herum. Ich log nicht gern, aber es ging nicht anders. Und ich fühlte mich tatsächlich schlecht. Ich war mir auch sicher, dass ich nicht besonders gesund aussah.

«Was stimmt denn nicht? Bist du krank? Hast du Probleme? Du weißt, du kannst mit mir reden, Liebling.»

«Ich weiß. Das ist es nicht. Ich hab bloß… meine Tage. Da krieg ich immer so krasse Krämpfe», log ich, weil das irgendwie noch das unverfänglichste war. Sobald er auch nur annähernd vermutete, dass mein seelischer Zustand labil war, würde er bei Doktor Meineken anrufen. Und ich hatte keine Lust mehr auf Therapie. Es hatte nicht geholfen. Und es würde auch nicht mehr helfen. Ich kam alleine klar. Irgendwie.

«Das klingt ja gruselig», rief Rüdiger und verzog das Gesicht. «Dann leg dich wieder ins Bett, Liebling. Ich schreib dir eine Entschuldigung.»

Sobald ich wieder in der Sicherheit meines eigenen Zimmers und unter meiner kuscheligen Decke war, ging es mir besser. Jedenfalls war die Panik verschwunden. Zurück blieb die Einsamkeit. Meine Mutter fehlte mir in diesem Moment so sehr, dass es wehtat.

Schmetterlingsscherben

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