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1989 Budapest

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Es ist Mitte August 1989. Julias Familie sitzt am Abendbrottisch in ihrer Wohnung in Budapest. Der Mann, die Tochter, Julia und drei Gäste aus Westdeutschland. Sie diskutieren heftig über das immer größer werdende Chaos in Budapest. Über die Szenen, die zu sozialistischen Verhältnissen nicht passen, ist in den Zeitungen natürlich nichts zu lesen. Auf den Straßen von Budapest kriegt man dafür viel mehr mit.

Ungewöhnliche Stimmung auf der Straße, in der ganzen Stadt. Man spürt, man riecht es in der Luft, hier wird etwas nicht Alltägliches passieren. Was ist eigentlich so ungewöhnlich? Die Sonne scheint, wie es im August hier üblich ist, die Donau bei Budapest fließt von Norden nach Süden, wie immer, die gelben Straßenbahnen und die blauen Busse verkehren mit kurzem Zeitabstand, in den Schaufenstern sieht man die neueste Mode. Morgens und abends, wenn Julia zum Institut oder von dort nach Hause fährt, lässt sie an der Haltestelle zwei, drei Züge passieren, weil sie so voll sind. Alles ist wie immer. Oder doch nicht?

Ja, an den Haltestellen wird man oft auf Deutsch angesprochen: „Können Sie uns helfen? Wie kommen wir zur westdeutschen Botschaft?“ Wenn man nur einfach einen Stadtbummel macht, hört man dieselben Fragen. Die Gesichter, die Blicke derer, die diese Fragen stellen, sind meistens unsicher, ängstlich. Sie wissen nicht, ob sie dir vertrauen dürfen. Ob du ein Spitzel bist?! Dann werden sie geschnappt, bevor sie die FREIHEIT erreichen. Sie sind vorsichtig.

Mittlerweile haben viele Budapester jetzt gelernt, wo die westdeutsche Botschaft, wo die Istenhegyi út ist, wie man hinfährt. Ja, die Budapester haben das auch auf der Straße gelernt, – nicht in einer Zeitung gelesen, – diese Leute, die ungewöhnlich vielen Touristen, die in der Stadt scheinbar ziellos herumschlendern, das sind DDR-Bürger. Sie wollen nicht zurück in die DDR. Man kann sie auf der Straße schnell erkennen.

Ja, richtig, das ist ein ungewöhnliches Bild! Die Touristen in einer fremden Stadt gucken rechts und links, am häufigsten in die Höhe, um die Architektur zu bewundern, oder sie gucken sich das reiche Angebot in den Schaufenstern an. Diese Leute gucken nicht in die Höhe, sie interessieren sich nicht für das Warenangebot, sie suchen mit bohrendem Blick deinen Blick. Sie wollen herauskriegen, wen sie ansprechen dürfen und wen nicht. Meistens sind das junge Leute, mit kurzer Hose, mit tagelang getragenem Hemd, Badelatschen und einer Sporttasche auf der Schulter. Sportlich, selbstbewusst. Scheinbar! Man sieht aber auch Familien. Junge oder nicht mehr ganz junge Ehepaare mit Kindern. Sie haben größere Taschen dabei. Ihr Blick ist noch unsicherer. Sie haben mehr zu verlieren.

Mittlerweile haben die Budapester nicht nur gelernt, wo die westdeutsche Botschaft ist, sondern viele von ihnen haben sie auch gesehen. Budapester, wie Julias Sohn, begleiten DDR-Touristen dorthin. Die Familie verbindet eine langjährige Freundschaft mit DDR-Bürgern. Der Sohn kann schnell einen vertrauensvollen Kontakt mit ihnen aufbauen.

Der Sohn arbeitet zurzeit bei der ungarischen Fluggesellschaft. Wenn er frei hat, geht er immer zum „Notdienst“. Er geht auf die Straße und spricht DDR-Leute an. Er erkundigt sich, ob sie genügend Geld haben, ob sie zu essen haben, ob sie Unterkunft haben. An seinen „Notdienst-Abenden“ sind die Stühle an dem großen Esstisch in Julias Wohnung alle besetzt. Sie bewirten die Leute. Manchmal erhalten sie bei der Familie auch Unterkunft, manchmal wollen sie sich nur duschen und schnell zur Botschaft.

Der Sohn begleitet jeden Tag mehrere Leute dorthin. Zu Hause erzählt er, welche seiner „Schützlinge“ schon in den Garten eingelassen wurden. Diejenigen, die schon nah am Zaun sind, können hoffen, dass sie schnell hinein kommen. Obwohl, keiner weiß, wann und wie viele Leute den „freien, westdeutschen Boden“ betreten dürfen. Es gibt keine Regel. Alles ist desorganisiert, alles durcheinander und vor allem alles unsicher! Viele hängen von außen auf dem Zaun. Sie denken, hier kann mir nichts passieren. Das ist hier schon das freie Land, das erträumte Westdeutschland. Wovor haben sie Angst? Man kann wirklich nicht wissen, ob die Aufbruch-Stimmung nicht in einen panikartigen Aufstand umschlägt.

Das ist Gesprächsthema am Esstisch. Die westdeutschen Gäste können natürlich diese Situation nicht so richtig nachvollziehen. Sie hören sich das an, sie empfinden die Spannung, aber sie betrachten die Geschehnisse meist teilnahmslos. Die Diskussion ist relativ laut. Das ist ein bisschen die ungarische Art, ein bisschen Aufregung.

Der Sohn kommt an. Er hört schon an der Tür, am Tisch sitzen wieder Deutsche. Sie werden bewirtet, wie so oft in den letzten Tagen. „Warst du auch auf der Straße? Wo hast du die denn aufgegabelt?“ fragt er die Mutter auf Ungarisch. Nachdem die Situation auch für die Gäste klar geworden ist, lachen alle über das Missverstehen. Obwohl es gar nicht so lustig ist.

Die Frau von hinter dem Eisernen Vorhang

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