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Freundschaft
ОглавлениеI.
Sie sitzen im Wohnzimmer am Abendbrot-Tisch. Zwei Familien. Julia und Peter wohnen schon seit Jahren in dieser Wohnung. Ihr Blick gleitet über die Budaer Berge. Auch ihre Kinder, Zsolt und Zsuzsi genießen die großzügige Wohnlichkeit. Die Gäste kennen die Wohnung auch gut. Sie weilen immer gerne in Budapest. Über die Jahre haben sie schöne gemeinsame Erlebnisse gesammelt. Sie kamen immer gut miteinander aus. Obwohl die zwei Familien unterschiedliche Sprachen sprechen.
Manfred und Elke kommen aus Berlin. Auch beruflich sprechen sie verschiedene Sprachen. Peter ist Künstler. Er lebt für seine Musik und in seiner Musikwelt. Manfred und Elke sind mehr technisch begabt. Er ist Hardware-Ingenieur, sie ist Architektin. Für die Musik – besonders für klassische Musik – haben sie weniger Verständnis. Trotzdem schätzen die Paare einander. Die Gastgeberin, Julia, ist die eigentliche Kontaktperson. Sie ist Mathematikerin. Sie spricht deutsch.
Heute ist die Stimmung gedämpft. Die Kinder versuchen, die Situation aufzuheitern. Sie verstehen einander gut. Zsolt und Zsuzsi lernen deutsch, Jörg und Simone helfen ihnen bei der Sprachübung mit viel Geduld.
Heute sind sie alle ein bisschen traurig. Sie wissen nicht, ob sie je wieder in dieser Runde an diesem Tisch sitzen können. Das ist der Abschiedsabend. Morgen nach dem Frühstück wird alles anders. Wie, das wissen Manfred und Elke noch nicht.
Jetzt wollen alle fröhlich sein. „Könnt ihr euch erinnern, wie wir uns kennen gelernt haben?“
Ja, das war lustig!
II.
„Dürfte ich zwei DDR-Leute für zwei Nächte zu euch schicken? Sie waren schon öfter bei uns. Sehr nette Leute. Diesmal kamen sie früher, als besprochen. Die anderen Gäste fahren erst übermorgen weg. Ich will die beiden Leute aber nicht wegschicken. Ihr habt doch genügend Platz.“
Julias Freundin führt mit ihrer Mutter eine kleine Pension. Durch gute Kontakte zur DDR-Botschaft sind sie mit Gästen immer gut versorgt. Die Gäste fühlen sich gut aufgehoben in „Mamas Pension“, wie sie sie immer nennen. Auch Julia ist oft eingeladen zur „Mama“, weil sie mit den Gästen deutsch sprechen kann. Wenn es um offizielle Formalitäten geht! Weder die Freundin noch die Mutter können deutsch sprechen, trotzdem ist die Kommunikation auch ohne Julia fließend. Ja, dank der ungarischen Gastfreundschaft!
Diesmal geht es aber nicht ums Dolmetschen. Jetzt geht es um ein Notquartier. Okay, wenn es um zwei Nächte geht! Zsolt übergibt sein Zimmer den Gästen. Er zieht derweil zu seiner Schwester in deren Zimmer.
Die beiden DDR-Gäste sind zufrieden mit der Un¬terkunft. Der eine Gast ist sehr zurückhaltend, aber der andere! Schon am ersten Abend lässt er sich im Wohnzimmer nieder und lädt seine Gastgeber zum Gespräch ein. Ob sie vielleicht zusammen einen Tee trinken möchten? Aber bitte, keine Umstände! Ob er wohl einen Tee kochen darf? Schon geht er in die Küche. Dann kommt er zurück. Auf einem Tablett serviert er neben Tee auch Teegebäck. Er fühlt sich bereits wie zu Hause.
Er, Manfred, ist Hardware-Experte bei einer Computerfirma in Ostberlin. Seine Firma vernetzt ein großes Institut in Budapest. Das ist eine langwierige Arbeit. Also wird er öfter kommen.
„Ich habe auch einen Sohn. Und eine Tochter in ähnlichem Alter wie Zsuzsi. Die zwei Mädel könnten miteinander gut auskommen“, meint Manfred. Zum Abschied verspricht er, beim nächsten Mal mit der ganzen Familie zu kommen. Nach zwei anstrengenden Tagen nehmen Julia und Peter diese Ankündigung ohne jubelnde Begeisterung auf.
Etwa zwei Wochen später läutet das Telefon bei der Familie in Budapest. Manfred aus Berlin ist am Apparat. Seine Familie verbringt den Urlaub jedes Jahr in Prerow an der Ostsee. Sie wollen dieses Jahr auch Zsuzsi mitnehmen. Julias erste Reaktion: Empörung. Eine Frechheit! Diese Aufdringlichkeit! Sie denkt aber nach. So schlimm wäre es doch gar nicht. Zsuzsi müsste auch Sprachen lernen. Diese Freundschaft könnte noch hilfreich sein. „Ja, gut, ich spreche mit meiner Tochter.“
Manfred gibt Julia gar nicht erst Gelegenheit nachzudenken oder zu planen. Sein Plan wird ohne Luft zu holen abgespult.
Damit die Familien einander kennen lernen, fliegen sie von Berlin nach Budapest, dort verbringen sie ein paar Tage, Simone bleibt in Budapest; nach 10 Tagen fliegen die Mädel zusammen nach Berlin, von dort fahren sie weiter nach Prerow, am Ende des Urlaubes kann Julia nach Berlin fliegen, um ihre Zsuzsi abzuholen.
Julia ist gar nicht gewöhnt, die Führung aus der Hand zu geben. Doch diesmal nimmt sie das Telefongespräch sprachlos entgegen. Sie ist eingenommen von diesem tatkräftigen, selbstsicheren Menschen.
Im April beginnt Zsuzsi schnell Deutsch zu lernen. Besonders begeistert ist sie nicht, aber sie zeigt es nicht. Ein stilles, fleißiges Mädchen.
III.
Ende Juni. Acht Leute fahren in Budapest mit dem Bus zum Flughafen. Jörg, der Kleine – 5 Jahre alt – muss mit den Eltern zurück nach Berlin. Er ist traurig, er möchte auch bleiben. Wie seine große Schwester.
Die beiden Familien haben schöne Tage in Budapest zusammen verbracht. Das war die erste Begegnung zwischen ihnen. Julia vergaß schon am ersten Tag, mit welcher Empörung sie die Ankündigung dieses Besuches aufgenommen hatte. Jetzt war sie angetan von den Gästen, die eigentlich keine Gäste waren. Sie waren wie Familienangehörige.
Die Männer, obwohl in ihrem Wesen völlig unterschiedlich, kamen gut miteinander klar. Manfred, der für klassische Musik keine große Leidenschaft zeigte, interessierte sich dennoch für Peters Arbeit. Vormittags, wenn Peter zu Hause auf seinem Instrument geübt hat, saß Manfred gerne neben ihm. Er richtete Fragen an Peter, und dieser war froh, dass er seine Kunst, seine Liebe zur Musik auch außerhalb des Theaters den Interessierten zeigen konnte. Die deutschen Freunde zeigten sich als lernfähiges, dankbares Publikum.
Die Frauen flanierten derweil durch die Stadt. Elke war eine hübsche Frau, 10 Jahre jünger als Julia. Auch sie verstanden sich gut. Elke war begeistert vom Warenangebot, von der neuesten Mode. „Ja, Budapest ist eine Weltstadt. Man kann sie mit Ost-Berlin überhaupt nicht vergleichen.“, meinte sie. „Die Regale in den Konsumläden sind zwar bei uns auch vollgepackt, aber du kriegst überall nur Einheitsware.“ Julia war eine großzügige Gastgeberin. Sie suchten Modeartikel für Elke aus. Julia konnte sich erlauben, Elke mit Mode zu beschenken. Sie hatte das Glück, bei einem wissenschaftlichen Institut zu arbeiten. Der Lohn für ihre Arbeit hielt sich zwar in Grenzen, dafür genoss sie das Privileg freier Auslandsreisen. Die Spesen sind`s gewesen.
Zsuzsi und Simone unterhielten sich noch mit Händen und Füßen. Simone ist selbstsicher, wie der Vater. Sie ist handwerklich genauso geschickt wie ihre Eltern. Sie basteln auch zu Hause immer irgendwas. Zsuzsi ist ziemlich scheu. Sie spricht und versteht noch wenig deutsch. Sie ist aber sehr fleißig, lernt von Simone nicht nur deutsch, sondern auch Geschick in Handarbeiten.
Der kleine Jörg verlässt seinen Vater nie. Sie gehen immer zusammen einkaufen. In der Markthalle toben sie sich aus. Sie kommen nach Hause, und der Kleine erzählt begeistert, was für exotische Obstsorten sie da gesehen und natürlich auch probiert haben.
Zsolt freut sich, so ein hübsches Mädchen wie Simone, im Haus zu wissen. Dieser besondere Umstand bewirkt, dass er seine Freundin heute wieder ein bisschen vernachlässigt. Den ganzen Tag hockt er um die Mädchen herum.
IV.
Zehn Tage später sitzt Julias Familie wieder im Bus zum Flughafen. Diesmal ist Zsolt nicht da. Er hat Dienst. Er ist ein leidenschaftlicher und gewissenhafter Mitarbeiter der ungarischen Fluggesellschaft. Er hat heute für den Flug der zwei Mädel alles vorbereitet. Tickets eingecheckt, Koffer aufgegeben, sie müssten nur noch durch den Zoll gehen.
Für Zsuzsi ist heute ein besonderer Tag. Ein besonders trauriger Tag. Zum ersten Mal geht sie alleine, ohne Eltern, in Urlaub. Zum ersten Mal fliegt sie. Und alleine! Die zwei Mädchen alleine! Sie wollte eigentlich nicht nach Berlin, sie wollte nicht nach Prerow, sie wollte nicht Simone kennen lernen, sie wollte nicht Deutsch lernen. Die strenge, ehrgeizige Mutter! Jetzt kämpft sie aber mit den Tränen. Zsuzsi macht alles ohne Widerspruch mit.
Ein Glück, dass Zsolt heute Dienst hat. Er kann die Mädchen im Transit betreuen, er kann sie beobachten. Abends zu Hause tröstet er die Mutter. „Das hättest du sehen müssen. Ein lustiges Bild! Die Passagiere haben gelacht. Die Mädchen saßen im Transit, scheinbar gelangweilt, wie routinierte, alte Vielflieger. Sie hatten kein Interesse dort herumzugucken, sie waren nicht neugierig, sie wollten nichts im Transitshop kaufen. Pullover haben sie gestrickt.
V.
Am Tisch ist die Stimmung spürbar besser geworden. Die Szene im Transit kam irgendwie bei jeder Begegnung ins Gespräch.
Jetzt wird das Thema Urlaub in Berlin und in Prerow „aufgetischt“.
„Es war für mich eine harte Zeit“, fasst Zsuzsi zusammen. „Drei Wochen lang konnte ich kaum sprechen. Überall nur Deutsche, überall wurde nur deutsch gesprochen. Ich habe sofort Kopfschmerzen gekriegt, wenn ich morgens gehört habe: ‚Guten Morgen, Mädels, ihr sollt euch waschen!‘ Jeden Tag mussten wir uns in der Ostsee waschen. Bei einer Wassertemperatur von etwa 17 Grad C. Und der Manfred, er war schrecklich! Schrecklich streng!“, erzählt sie lachend die Geschichte. Und nicht zum ersten Mal. Heute findet sie dieses Erlebnis nicht so tragisch wie damals. „Fast jeden Tag haben wir Blaubeeren gepflückt. Wie wir nachher aussahen!“, erinnert sich Simone. Sie suchen sofort nach Fotos, obwohl diese alle schon kennen. An Mund und Händen über und über blaubeerblau bekleckert gaben die Mädchen für Erinnerungsfotos den Clown ab. Jetzt können sie darüber gelassen lachen. Dann kommen Zsu¬zsis Geschichten in Ostberlin dran. Lustige Erlebnisse, endlos! Durch Erinnerungen wird das Gespräch immer lockerer.
VI.
Im darauf folgenden Sommer haben die beiden Familien ihren Urlaub gemeinsam in Südungarn verbracht. Die ungarische Familie hat solche Ecken in ihrer Heimat entdeckt, wo sie alleine wahrscheinlich nicht hingefahren wäre. Aber zu¬sammen! Es war immer sehr lustig. Die Kinder haben das Zusammensein besonders genossen. Mal haben sie Fußball oder Handball, mal Gesellschaftsspiele gespielt.
Morgens haben sie immer ein großartiges gemeinsames Frühstück gehabt. Die Männer haben Brötchen besorgt, die Frauen haben sich um den Tisch gekümmert. Manfred war ein leidenschaftlicher Marktbesucher, natürlich auch Käufer. Auf dem Tisch durfte die ungarische Pick-Salami nie fehlen.
Beim Frühstück haben sie viele welterlösende Gespräche geführt. Meistens ging es um den Unterschied zwischen ihren beiden Ländern. Vor etwa fünfzehn Jahren fühlten sich diejenigen aus Ungarn besonders glücklich, die sich einen Urlaub in der DDR erlauben konnten. Heute ist alles umgekehrt. Die DDR-Bürger fühlen sich glücklich, wenn sie in Ungarn verweilen dürfen. Wenn sie auch noch einkaufen können, dann sind sie überglücklich.
Die Ungarn blicken heutzutage lieber in die westliche Richtung. Sie fahren nach Wien zum Einkaufen. Moderne Völkerwanderung!
Peter geht jeden Sommer auf Auslandstournee. Er bereiste schon die halbe Welt. Seine Kinder sind verwöhnt mit technischen und modischen Artikeln aus aller Welt. Julia hat dienstliche und freundschaftliche Kontakte nach Westdeutschland. Sie ist oft da „draußen“. Auch mit den Kindern zusammen machen sie Familienurlaub. Meistens in Österreich oder in Westdeutschland. Über diese Reisen sprechen sie aber nicht gerne vor den DDR-Freunden. Für diese wäre das zu schmerzhaft. Trotzdem! Elke und Manfred wollen darüber reden. Ihrerseits ist das kein selbstquälerisches Vergnügen, sondern einfach nur Neugier. „Julia, du solltest mal unsere Tante in München besuchen“, schlägt Manfred vor. „Es ist schon lange her, seit sie zuletzt bei uns war. Aber ich bin zuversichtlich, wir werden sie auch bald besuchen können.“
Nach jedem Gespräch registrieren sie – eigentlich überrascht – die gegenseitige Seelenverwandtschaft, eine Verwandtschaft, die zwischen ungarischen und DDR-Bürgern existiert. Sie stellen fest, in vielen Themen sind sie der gleichen Meinung. Ihre Weltanschauung ist auch ähnlich. Durch gemeinsame Erlebnisse wachsen sie immer mehr zusammen, wie die Partner in einer guten Ehe.
Während all der Jahre war Manfred immer wieder dienstlich in Ungarn. Die „Mama“ war nicht beleidigt, dass sie einen guten Gast verloren hatte. Sie hat sich gefreut, dass die Familie durch sie eine echte Freundschaft geknüpft hat. Gäste hatte sie weiterhin genügend. Dank guter Geschäftsverbindungen zwischen DDR und Ungarn, hat die Botschaft sie reichlich mit Gästen versorgt. Für die DDR und für ihre Bürger war Ungarn das PARADIES.
Manfred hat das in Ungarn verdiente Geld auf einem Sparbuch auf Zsuzsis Namen angelegt. Immer wenn auch Elke nach Budapest kam, konnte sie von diesem Geld etwas Schönes, Modernes kaufen. Verzaubert standen sie immer wieder vor den Schaufenstern in Budapest. „In Ungarn kann man alles kaufen. Bei uns bekomme ich solche Besonderheiten nur im Diplomatenladen, für Dollar. Und Dollar haben wir nur, wenn Manfred irgendwo im außereuropäischen Ausland arbeitet.“
Ja, das ist das Schicksal dieser Familie. Manfred, als Computerexperte, kann dienstlich in bestimmte Länder reisen. Elke darf nie mitfahren. Obwohl sie das bezahlen könnten. Darüber sprechen sie nicht gerne, aber sie leiden darunter. Er war schon in China, in der Sowjetunion, in Kuba, in Bulgarien. Einmal war er sogar auch in Westdeutschland. Elke und die Kinder waren noch nie im Westen.
Aber Zsuzsi und Zsolt schon!
VII.
Zsolt, als Mitarbeiter einer Fluggesellschaft, darf fast kostenlos fliegen. Er nutzt diese Möglichkeit restlos aus. Er darf sogar auch seine Schwester mitnehmen.
Für Zsuzsi hat der dreiwöchige Urlaub in Prerow sprachlich viel gebracht. Sie spricht schon ganz gut deutsch. Vor allem mit einer schönen Berliner Aussprache. Ja, ihre beste Sprachlehrerin ist Simone. Zsolt spricht besser englisch.
Die zwei Geschwister fliegen für ein Wochenende nach Berlin. Manfred und Elke organisieren immer etwas für die Kinder. Jetzt ist ein Besuch nach Westberlin geplant. Selbstverständlich nur für Zsolt und Zsuzsi. Sie haben ungarische Pässe. Sie dürfen nach Westberlin. Sie fahren mit der Bahn. Simone und Jörg müssen beim Check-Point-Charlie aussteigen. Sie steigen aus, sie meckern nicht, sie sind nicht mal traurig.
Abends sind sie wieder zusammen in der Wohnung in Ost-Berlin. Die ungarischen Kinder werden mit Fragen gelöchert. „Wie ist die Stadt, sind die Menschen freundlich, habt ihr schöne Schaufenster, schöne Geschäfte gesehen?“ Und sie, die Ungarn, erzählen ihnen, den Deutschen, wie die Welt „auf der anderen Seite ihrer Stadt“ aussieht. Als wenn sie von einem anderen Planet gekommen wären. Irre!
VIII.
Die Stimmung am Tisch schwankt. Wie die ungarische Volksmusik. Höhen und Tiefen!
„Manfred, hast du schon im Sommer geahnt, welche politische Änderung kommt? Und so rasch! Wer hätte das gedacht!“
„Nein, ich habe das nicht geahnt. Natürlich, man beschäftigt sich mit dem Gedanken – wie lange kann es so weitergehen. Obwohl wir, unsere Familie, keinen Grund hat, zu klagen. Wir haben eigentlich viele Privilegien genießen dürfen. Wir haben ein schönes Wochenendhaus mit großem Grundstück. Ihr kennt es.“ „Ja, euer kleines Paradies. Wirklich! Was wird jetzt mit dem Haus?“
„Ihr kennt mich. Vor kurzem haben wir das Haus an Elkes Eltern ‚verschenkt‘. Ich denke, wir haben alles unauffällig gemacht. Die Wohnung haben wir auch einigermaßen leer geräumt. Sie wird enteignet. Die Nachbarn wissen nur so viel, dass wir jetzt mit euch eine große Ungarnreise machen. Das bedeutet, einen Monat lang rechnen sie nicht mit unserer Rückkehr. Also Zsolt, du hast einen Monat Zeit, unsere Koffer abzuholen. Sie stehen im Schlafzimmer.“
„Okay, aber das kann ich nicht vermeiden, dass die Nachbarn mich sehen. Was sage ich ihnen?“ Zsolt ist besorgt. Der Plan ist aufregend. So etwas hat er bis jetzt nur im Kino gesehen.
„Ich habe ihnen erzählt, dass du vielleicht mit deiner Freundin in Berlin einen kurzen Urlaub machst. Während die Wohnung frei ist.“ „Perfekt organisiert!“
„Ja, aber ich werde erst ruhig, wenn unsere wichtigsten Sachen hier bei euch sind. Das wird der zweite Akt!“
Herr Regisseur, wie geht das Schauspiel weiter?
„Im dritten Akt bist du, Julia, die Hauptdarstellerin. Du pendelst zwischen Budapest und München. Wenn du mit deinen westdeutschen Freunden fährst, mit Münchener Autokennzeichen, werdet ihr sicherlich an der Grenze nicht so streng kontrolliert.“
„Was habt ihr in dem Koffer?“
„Das wichtigste ist, dass unsere Diplome bei uns ankommen. Ich habe mich nicht getraut, sie jetzt in unseren Wagen zu packen. Vorher konnten wir nicht wissen, wie streng die Grenzkontrolle ist.“
„Und wie war sie?“
„Wie ich das gedacht habe! Die Deutschen machen alles gründlich und vorschriftsmäßig!“
„Also noch mal! Zweiter Akt: die vorbereiteten Koffer fliegen von Berlin nach Budapest. Das ist Zsolts Aufgabe.
Dritter Akt: die Koffer fahren weiter von Budapest nach München.
Was passiert im ersten Akt?“
„Wir sind gerade mittendrin. Er ist immer der längste und komplizierteste. Wie in den Opern, die wir Peter zuliebe gesehen haben.“
„Der erste Akt fing in Berlin an, als wir die Kinder mit möglichst wenig Sachen, um nicht aufzufallen, aber mit Bettzeug, weil wir sicherlich auch im Auto übernachten müssen, ins Auto gepackt ha¬ben.
Das zweite Bild spielte sich zwischen Berlin und Budapest ab. Mit besonderer Spannung an den Grenzen!
Das dritte Bild spielen wir grade jetzt. Situationsanalyse. Welche Ereignisse führten hierzu, wie wird die Lösung vorbereitet?
Morgen kommt die Abschiedsszene. Und von da an habe ich leider keinen Einfluss auf die Geschehnisse. Wie, wo und wann der Akt endet, darüber kann ich jetzt noch keine Regie führen.“
Bevor die Familien schlafen gehen, letzte Kontrolle, ob sie alles haben, was sie auf dem Weg ins Ungewisse benötigen. Julia bringt noch schnell ihr Portemonnaie. Sie kann 43 DM als letzte Hilfe zusammenzählen. „Ihr könnt das besser gebrauchen.“
Am nächsten Tag hat das Frühstück nicht so richtig geschmeckt, obwohl ungarische Salami auch auf dem Tisch war.
Der Abschied war kurz, um nicht zu schmerzhaft zu sein.