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4. Komm heraus!

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Wenn die Szene im Sinn einer christologischen Anrufung zum Sprechen gebracht werden soll, muß zunächst die refrainartig wiederholte Anrede der beiden Schwestern stärker als in der üblichen Auslegung ausgeleuchtet werden. Denn in nahezu wörtlicher Wiederholung wenden sich beide an den „zu spät“ am Ort des Geschehens eingetroffenen Jesus mit den Worten:

Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben

(Joh 11,21).

Wenn Maria dann im Unterschied zu ihrer Schwester Marta nicht auch noch die Beteuerung hinzufügt:

Aber selbst jetzt weiß ich, daß Gott dir geben wird, um was du ihn

bittest (Joh 11,32),

ist das im Vergleich dazu nicht, wie vielfach angenommen wird, ein Defizit, sondern eine Steigerung, weil Maria im Anschluß an ihre Frage, ebenso wie in der Folge auch Jesus selbst, in Tränen ausbricht und so in eine einzigartige emotionale Verbindung mit Jesus tritt. Ebensowenig bezieht sich die „Erregung“, in die Jesus bei ihren Worten gerät (Joh 11,32), auf den mangelnden Glauben der Umstehenden oder auf die ihm im Tod des Freundes entgegentretende Macht des Todes15, sondern auf den Übergang vom Schmerz zur rettenden Tat. Wenn es sich aber so verhält, hat Jesus die Anrede der Schwestern, die schwerlich einer Bitte gleichkam, in sich in eben diesem Sinn zu Ende gedacht. Er fühlt sich in seiner rettenden Machtvollkommenheit angerufen und zur Wundertat provoziert. Dann aber beginnt die Szene tatsächlich mit einer, wenn auch nur ihm verständlichen, Anrufung. Doch wem gilt sie?

Wenn das deutlich werden soll, muß die Sache der Anrufung auf eine breitere Basis gestellt werden, wie sie Paulus schuf, als er angesichts des sich ins Überdimensionale dehnenden Missionsfeldes die geradezu selbstquälerischen Fragen stellte:

Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben?

Wie sollen sie glauben, wenn sie nichts gehört haben?

Und wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet?

(Röm 10,14)

Kurz zuvor hatte er diese Bedenken noch mit dem Einwand unterlaufen:

Sprich nicht in deinem Herzen: Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?

– nämlich um Christus herabzuholen. Oder: Wer wird in den

Abgrund hinabsteigen, um Christus von den Toten heraufzuführen?

Denn so sagt die Schrift: Nahe ist dir das Wort, es ist in deinem

Mund und in deinem Herzen (Röm 10,6ff).

Zwar nimmt Paulus, wenn er, fast widerwillig, auf seine „Erscheinungen und Offenbarungen“ zu sprechen kommt und berichtet, daß er einmal „bis in den dritten Himmel“ entrückt worden sei (2Kor 12,1f), durchaus nicht für sich in Anspruch, von dort den erhöhten Christus herabgeholt zu haben; wohl aber erweckt das Johannesevangelium an einer Stelle den Anschein, daß das Umgekehrte einer Heraufführung Jesu aus dem Totenreich geschah. Das ist der Hintersinn der Szene von der Auferweckung des Lazarus, obwohl dafür nur Irritationen und Wahrscheinlichkeiten zu sprechen scheinen.

Dazu gehört schon das von Guardini als auffällig empfundene Schweigen des Auferweckten16. Hätte er sich nicht spätestens bei dem zu Ehren des Wundertäters veranstalteten Festmahl veranlaßt sehen müssen, sich bei seinem Retter, wie andere, denen vorher geholfen worden war, zu bedanken? Indessen ist die Erwähnung der Gastmahlsszene ohnehin sekundär. Damit verstärkt sich die Schemenhaftigkeit des Auferweckten, die schon dadurch betont war, daß er – ein „Wunder im Wunder“17 – an Händen und Füßen gebunden, aus der Grabhöhle, offensichtlich mehr noch vom Machtwort Jesu gezogen als aus eigener Initiative, hervorkommt.

Entscheidend fällt aber erst die Beobachtung ins Gewicht, daß die Szene konsequent auf die Auferstehung Jesu hin stilisiert ist. Zu dieser verhält sie sich wie eine zeichenhafte Vorwegnahme, ja wie ein Versprechen zu seiner Erfüllung, um nicht zu sagen, wie die Exposition zur Durchführung. Darauf deutet schon die Beschreibung des Grabes hin (Joh 11,38), erst recht die gleichsinnige Erwähnung von Schweißtuch und Leinenbinden, insbesondere aber der die endzeitliche „Stimme des Gottessohnes“ (Joh 5,25-29) antizipierende „Befehlsruf”: „Lazarus, komm heraus!“ (Joh 11,43), mit welchem Jesus den Toten zu neuem Leben erweckt.

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