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5. Die Rückbezüglichkeit

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Daß dieser Ruf auch rückbezüglich, also im Sinn einer „Selbsterweckung“ verstanden werden kann, wird – die gnostische Vorstellung von einer Duplizierung und „Vielgestaltigkeit“ Christi zunächst noch beiseite lassend – sowohl durch biblische wie durch kunstund literarhistorische Hinweise nahegelegt. Zu jenen zählt in erster Linie der Selbsteinwand, den Jesus in der Nazaretszene des Lukasevangeliums macht, wenn er dem gegen ihn aufgebrachten Auditorium erklärt:

Sicher werdet ihr mir jetzt das Sprichwort entgegenhalten: Arzt, heile

dich selbst! (Lk 4,23)18

In haßverzerrter Form wird ihm dieser Einwand dann nochmals entgegenklingen, wenn ihn die höhnenden Zuschauer seiner Kreuzigung auffordern, vom Kreuz herabzusteigen, um dadurch seinen Sendungsanspruch unter Beweis zu stellen (Mk 15,32 par). Damit stilisieren sie ihn vollends zur Figur des „verwundeten Arztes“, der die von ihm behandelte Krankheit zuerst am eigenen Leib überwinden muß19. Doch können sie in ihrem Haß nicht ahnen, daß er diese „Heilung“ in Bälde aufs wunderbarste vollbringen wird: im Ereignis seiner Auferstehung. Bevor das geschieht, antwortet er auf ihre Herausforderung, indem er in Gestalt des toten Freundes letztlich sich selbst zu neuem Leben ruft. Als biblischer Hinweis darf aber wohl auch die Aussage des Epheserbriefs über das Heranreifen der Glaubenden zum „Vollalter Christi“ (Eph 4,13) in Anspruch genommen werden20, da die Aussage – im Horizont der paulinischen Lehre vom mystischen Christusleib gesehen – dem Gedanken nahekommt, daß Christus in den Glaubenden zum Vollbewußtsein seiner selbst erwacht. Aus kunsthistorischer Sicht spricht dafür die nach einem Stich Rembrandts gemalte „Auferweckung des Lazarus“ von Vincent van Gogh, die sich wie eine spiegelverkehrte „Nacherzählung“ von Rembrandts „Auferstehung Christi“ ausnimmt: hier die wie unter einer geheimnisvollen Sonne aufscheinende Gestalt des Engels, der sich mit weit ausgebreiteten Flügeln über die Szene erhebt, während er mit der einen Hand die Deckplatte von dem sarkophagartigen Grab Christi emporreißt und in der anderen das Schweißtuch hält, das er vom Gesicht des – mühsam – Auferstehenden weggenommen hatte; dort unter der gleichen Sonne die Gestalt der Schwester, die mit ihren vor Entsetzen und Staunen ausgebreiteten Armen die Flügel des Engels zu imitieren scheint. Auch sie hat das Schweißtuch vom Gesicht des Toten entfernt und in freudigem Erschrecken die Zeichen des wiederkehrenden Lebens wahrgenommen. Die Gestalt Christi fehlt. Ist es ein Zufall, daß der Auferweckte nach Haltung und Physiognomie dem auferstehenden Christus auf dem Rembrandt-Gemälde gleicht? Oder wird hier das Motiv der Vorwegnahme der Auferstehung Jesu in der Erweckung des Lazarus bis an den Rand der Gleichsetzung vorangetrieben, so daß die Szene auf den – umgedeuteten – Besuch der Frauen am Grab Jesu durchsichtig wird?

Dem ist als literarische Parallele noch die eigentliche Verdoppelung der Christusfigur in Hölderlins Hymne „Friedensfeier“ hinzuzufügen21. In abendlicher Stille, in der der Geist aufblüht, ruft der Dichter zum Fest, zu dem sich „liebende Gäste“ beschieden haben, versammelt um den „Fürsten des Fests“, in dem der in Christus Gestalt gewordene Friede in Erscheinung tritt. Zu ihm ruft der Dichter den Jüngling, wie er ihn von der Szene am Jakobsbrunnen her – „unter syrischer Palme“, umrauscht vom Kornfeld, das reif zur Ernte steht – kennt22. Das aber ist eindeutig der Fall einer Anrufung Jesu, jedoch im Sinn einer Einladung zu sich selbst, also einer Hinführung des historischen Jesus zur Hoheitsgestalt seiner Verherrlichung und „Idealisierung“, insbesondere zur Gestalt des von ihm gegebenen (Joh 14,27) und mit ihm identischen (Eph 2,14) Friedens.

Der besondere Wert dieses literarischen Belegs liegt in der nunmehr möglichen Rückkoppelung des Gesagten mit dem Anliegen der Anrufung. Was, wenn auch nur umrißhaft, deutlich wurde, war die Vorstellung einer Evokation Jesu zu sich selbst. Im Hintersinn der Lazarusepisode wurde der Befehl Jesu als Aufruf an sich zum Ziel der Erweckung zu seinem definitiven Leben hörbar. Nun aber zeigt sich, daß diese Selbstbegegnung auf den Vorgang seiner Anrufung zurückweist und an ihn anknüpft. Insofern macht sich der Dichter das Interesse aller zueigen, wenn er den „Jüngling“ des Evangeliums zum Fest des „Fürsten“ einlädt. In diesem Sinn begann Hölderlin einen Entwurf zu seiner Friedenshymne mit der Strophe:

Versöhnender der du nimmergeglaubt

Nun da bist, Freundesgestalt mir

Annimmst Unsterblicher, aber wohl

Erkenn ich das Hohe,

Das mir die Knie beugt,

Und fast wie ein Blinder muß ich

Dich, himmlischer fragen wozu du mir,

Woher du seiest, seeliger Friede!23

Eindringlicher kann nicht mehr umschrieben werden, warum jeder Vertiefung in die geistige und zumal in die religiöse Situation der Zeit, analog zur Anrufung der Musen, eine Anrufung Jesu vorangehen muß.

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