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Branson gegen Bezos – Suborbitaler Wettflug und einige Nachträge
ОглавлениеLange Zeit herrschte „Tote Hose“ auf dem Gebiet des suborbitalen Weltraumtourismus. Sir Richard Bransons Weltraumflugzeug SpaceShipTwo (SS2) stolperte 16 Jahre lang von einem technischen Missgeschick ins Nächste, und auch das Entwicklungstempo des New Shepard (NS) von Jeff Bezos glich eher der Bewegung eines Gletschers – und zwar noch vor dem Beginn der Klimakrise – als den dynamischen Prozessen, die man heute von einem modernen Technologieunternehmen erwarten sollte.
Doch plötzlich ist alles anders. Diese beiden Marathonläufer, die sich lange Zeit irgendwo in der Landschaft verirrt zu haben schienen, sind plötzlich unvermutet gleichzeitig im Stadiontor erschienen und rannten jetzt Kopf an Kopf der Ziellinie entgegen. Und es wurde ein Foto-Finish.
Erste Anzeichen für eine Belebung der lange Zeit recht statischen Szene gab es bereits Ende April, als Jeff Bezos verkündete, dass am 20. Juli der erste bemannte Einsatz seines New Shepard erfolgen werde. Nach vorausgegangenen 15 unbemannten Testeinsätzen in einem Zeitraum von neun Jahren. Das war allerdings schon keine besondere Neuigkeit mehr, denn einen bemannten Einsatz in diesem Sommer hatte Blue Origin schon zu Beginn des Jahres angekündigt. Nicht bekannt war nur das genaue Datum und wer da mit an Bord sein sollte. Für die Experten war aber klar: Es wird eine firmeninterne Blue Origin-Testcrew sein. Das stellte sich allerdings bald als Irrtum heraus.
Anfang Mai begann dann das, was einige Medien ziemlich despektierlich als das „Wettpissen der Weltraumbarone“ bezeichneten. Den Beginn machte Jeff Bezos, der verkündete, einen der Sitze an Bord seiner New Shepard-Kapsel versteigern zu wollen. Dazu veranstaltete er eine Art „Vorauswahl der Anbieter“ auf einer eigens dafür geschaffenen Seite im Internet. Nach einer Weile lag dort das höchste Gebot bei 4,8 Millionen Dollar. Die finale Auktion erfolgte am 12. Juni und die wusste Jeff Bezos gehörig zu befeuern, denn am 7. Juni, also noch vor der Schlussversteigerung, verkündete er, beim bemannten Erstflug seines New Shepard höchstpersönlich mit an Bord zu sein. Nicht nur das, sein jüngerer Bruder Mark werde ihn beim Kurztrip ins All begleiten.
Dann kam die Schlussauktion. Die dauerte ganze sieben Minuten. Vier Minuten weniger, als der Flug am Ende selbst dauerte. Die Versteigerung erzielte ein Gebot von sage und schreibe 28 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Ein Sitz in einem Raumschiff von Elon Musk für einen drei- bis fünftägigen Orbitalflug (ohne Anlegen an der ISS) kostet derzeit etwa 50 Millionen Dollar. Diese Summe schiebt Jeff Bezos übrigens nicht in die eigene Tasche, wie giftige Kommentare auf Twitter vermuten ließen. Vielmehr spendet er sie für einen wohltätigen Zweck. Das Geld geht an die „Club for the Future“-Stiftung. Die allerdings Jeff Bezos betreibt. Nun gut.
Bis auf den heutigen Tag ist übrigens immer noch nicht bekannt, wer dieser generöse Mensch war, denn geflogen ist dieser Bieter (bislang) nicht, sondern überließ seinen Platz am Ende jemand anderem. Vielleicht ist an dieser Stelle etwas Statistik angebracht, um das Ereignis richtig einordnen zu können. Zum Stand Ende Juni 2021 waren insgesamt 583 Menschen in den Weltraum geflogen. 567 davon flogen in eine Erdumlaufbahn oder darüber hinaus. 24 flogen auf eine suborbitale Bahn, wobei wir für diesen Zweck alles als Weltraum definieren, was es jemals über 80 Kilometer Höhe geschafft hat, denn tatsächlich flogen von den 24 nur sieben über 100 Kilometer hoch. Acht von diesen 24 haben zusätzlich auch noch orbitale Flüge unternommen, entweder vor ihrem suborbitalen Flug oder danach. Die Mischung ist dabei sehr bunt. Da ist zum Beispiel Alan Shepard mit dabei, der erste Amerikaner im Weltraum. Er flog im Jahre 1961 mit Mercury-Redstone 3 (Friendship 7) suborbital, und 1971 mit Apollo 14 zum Mond. Dann gibt es da insgesamt acht X-15 Piloten, die in den 60er Jahren schon beinahe regelmäßig Flüge auf über 80 Kilometer Höhe unternahmen. Einer von ihnen, Joe Engle, flog später zweimal mit dem Shuttle in den Orbit. Da gibt es vier Männer, die bei Startabbrüchen mit Orbitalraketen einen suborbitalen Flug durchgeführt haben (die Russen Lazarew, Makarow und Owtschinin, sowie der Amerikaner Nick Hague). Alle vier flogen zuvor (Lazarew) oder danach auch noch orbital. Darunter sind auch Leute wie Mike Melville und Brian Binnie, die im Rahmen des X-Price-Wettbewerbs zweimal, respektive einmal mit dem SpaceShip1, dem Vorgänger von SpaceShipTwo, suborbitale Flüge durchgeführt hatten.
Genug der Statistik, zurück zum Ereignis. Die Medienaufmerksamkeit für den Konkurrenten wurmte Sir Richard mächtig. Sein SpaceShip2 war nach einer gelungenen Demo-Mission mit zwei Piloten an Bord am 22. Mai eigentlich noch mindestens einen weiteren Flug von einem ersten Testeinsatz mit „Versuchspassagieren“ entfernt. Erst dann – nach eben diesem weiteren Versuchsflug und geschätzt irgendwann im Frühherbst 2021 – sollte auch Sir Richard seinen seit vielen Jahren angekündigten „Einweihungsflug“ des kommerziellen Systems durchführen.
Das allerdings hätte bedeutet, dass der Erzrivale Bezos noch vor ihm im Weltraum sein würde. Eine Schmach, die er unmöglich auf sich sitzen lassen konnte. Und so verkündete Richard Branson, dass er bereits beim nächsten Flug des SS2 mit an Bord sein werde. Damit war klar: Der „Endkampf“ zwischen Virgin Galactic und Blue Origin war entbrannt. Allerdings war da noch ein kleines Problem zu lösen. Virgin Galactic hatte das Vorhaben als „Testflug“ angemeldet, und die Freigabe der FAA (Federal Aviation Administration) für diesen mit sechs Personen besetzten „Testflug“ war unter der Voraussetzung erfolgt, dass alle Besatzungsmitglieder erstens Angestellte des Unternehmens sein mussten, und zweitens mit missionstechnisch notwendigen Funktionen betraut sein mussten. Bei einem „Testflug“ musste schließlich – die Bezeichnung drückt es aus – ja irgendwas „getestet“ werden. Bei fünf der sechs Personen war das kein Problem: Die Piloten Dave Mackay und Mike Masucci mussten an Bord sein, ohne die ging es nicht. Platz drei war für Beth Moses bestimmt, die „Astronautentrainerin“ von Virgin Galactic. Sie war schon einmal bei einem Testflug im Februar 2019 mit an Bord, somit ist auch sie eine logische Wahl. Platz vier nahm Colin Bennett ein, der Chefingenieur von Virgin Galactic für Flight Operations. Also auch klar. Bei Sitz Nummer 5 wurde der Begriff „missionstechnisch notwendig“ schon etwas gedehnt, der ging an Sirisha Bandia. Sie ist zuständig für das institutionelle Geschäft und für die Betreuung von Versuchsanordnungen. Aber auch das ging am Ende in Ordnung, denn während des Fluges war es ihre Aufgabe, ein Experiment der Universität von Florida abzuwickeln. Somit waren das fünf Leute, jeder mit einer definierten „missionstechnisch notwendigen“ Aufgabe.
Jetzt galt es nur noch eine sinnvolle Rolle für Sir Richard zu finden, der sich so kurzfristig auf die Besatzungsliste gedrängelt, und damit vermutlich einen weiteren Virgin Galactic-Ingenieur um seinen Platz gebracht hatte. Doch das war kein Problem: Richard Branson ist schließlich als Chairman der Virgin Galactic-Holding auch irgendwie ein Angestellter des Unternehmens, und die Firma kann jeden Angestellten für einen Testflug benennen, den sie für nötig hält. So bekam auch Richard Branson eine Testfunktion zugewiesen: „Research of Customer Experience“. Etwas banaler ausgedrückt: „Probekunde“. Das nächste Problem für Virgin Galactic hing mit dem Flugtermin zusammen. Bezos hatte für den New Shepard-Flug den 20. Juli angekündigt. Der Termin wurde weniger aus technischen Gründen gewählt, sondern wegen seiner historischen Bedeutung: Es ist der 52. Jahrestag der ersten Mondlandung. Für Bezos war der Termin leicht zu schaffen. Für Branson kam er allerdings verteufelt früh. Die Testflüge von Virgin Galactic sind berüchtigt dafür, in enormen Zeitabständen zu erfolgen. Meist sind sie viele Monate voneinander getrennt. Noch vor dem 20. Juli zu fliegen, und das bei seinem extrem wartungsintensiven System, war schwierig. Aber um es vor Bezos zu schaffen, musste das Unternehmen nun ins Risiko gehen, und so legte Branson seinen Starttermin kurzerhand auf den 11. Juli. Das war nur 51 Tage nach dem letzten Testflug, eine Turn-around-Zeit, die Virgin Galactic bei raketenbetriebenen Flügen bislang noch nie auch nur annähernd geschafft hatte.
Aber Branson musste der Erste sein, der flog. Unbedingt. Zunächst einmal natürlich weil es genau darum ging. Aber es gab noch einen zweiten Grund, der fast genauso entscheidend ist: SpaceShip2 ist deutlich weniger leistungsfähig als der New Shepard. Wenn also schon weniger Leistung, dann musste Branson zumindest eher unterwegs sein. Und seien es nur neun Tage. Weniger Leistung UND Zweiter werden, das ging gar nicht.
SpaceShip2 kann nicht mehr als etwa 90 Kilometer Höhe erreichen, der New Shepard dagegen locker mindestens 105. Das ergibt dann knapp unter, respektive knapp über drei Minuten Schwerelosigkeit. Plus natürlich der Erfahrung eines Weltraumstarts und einer Landung aus dem Weltraum. Bei Branson an Bord eines schicken Raketenflugzeugs, bei Bezos in einer klassischen Raumkapsel. Das mit den „nur 90 Kilometern“ rieb Blue Origin dem Rivalen gleich mal kräftig unter die Nase. In einer E-Mail des Blue Origin CEOs Bob Smith hieß es mit Bezug auf Branson. “Wir wünschen ihm einen fabelhaften und sicheren Flug. Aber sie werden nicht über die Karman-Linie hinauskommen, und das ist dann schon eine sehr unterschiedliche Erfahrung”. Auf den sozialen Medien schob Bezos gleich noch etliche hämische Infografiken hinterher, die den Konkurrenten in Misskredit bringen sollten.
Tatsächlich bleibt Branson unterhalb der Karman-Linie, die heute – mit Ausnahme der USA – weltweit als die „offizielle“ (wenngleich nicht physikalisch korrekte) Grenze zum Weltraum gilt. Branson markiert sie gezwungenermaßen nach der US-Definition: Für die beginnt der Weltraum in nur 50 Meilen (also bei etwa 80,5 Kilometern) Höhe. Diese US-Definition, das nur am Rande, geht zurück auf den US-Juristen Andrew Hawley. Der war seinerzeit Präsident der International Astronautical Federation, die sie 1957 mit 275.000 Fuß festlegte, also 52,1 Meilen oder 83,8 Kilometer. Die US-Luftwaffe, die als erste praktisch mit dem Problem zu tun hatte, rundete das einfach nach unten auf die besagten 50 Meilen ab. Ursprünglich hatte Branson für sein SS2 durchaus ebenfalls die 100-Kilometer-Marke im Auge. Aber im Laufe des langjährigen Entwicklungsprozesses geriet das Schiff schwerer und schwerer, und so musste Branson die Erwartungen an sein suborbitales Raumflugzeug reduzieren.
Auch Art und Dauer des Erlebnisses sind unterschiedlich. Bei Virgin Galactic dauert die ganze Mission etwa 75 Minuten. 60 davon braucht es aber schon, bis das WhiteKnight2-Mutterflugzeug das raketenbetriebene SpaceShip2 auf seine Absetzhöhe bringt. Immerhin dürfte auch das schon ganz schön aufregend sein. In 13.500 Metern Höhe angekommen wirft das Mutterflugzeug die geflügelte Rakete ab, und die eigentliche Show beginnt: Eine Minute angetriebene Flugphase mit bis zur vierfachen Erdbeschleunigung, drei Minuten Schwerelosigkeit auf einer Wurfparabel, die bis auf die erwähnten knapp 90 Kilometer Höhe führt, dann eine Minute „Wiedereintritt“ mit Belastungen bis zu fünf g, und schließlich ein etwa zehnminütiger Gleitflug zurück zum Spaceport America in der Nähe der White Sands Missile Range in New Mexico.
Der New Shepard dagegen startet auf dem Privatgelände von Jeff Bezos in Texas. Der so genannten „Corn Ranch“, auf der es nichts weniger gibt als „Corn“ (also: Mais), sondern nur eine nahezu vegetationslose Wüste. Das Gelände ist nicht viel kleiner als der Staat Luxemburg. Der Start der einstufigen Rakete dauert etwa drei Minuten und ist deutlich sanfter als der Flug von SS2. Danach löst sich die himbeerbonbonförmige Kapsel. Nun folgen gut drei Minuten Schwerelosigkeit und das Abfliegen einer steilen Parabel mit einem Scheitelpunkt in etwa 105 Kilometern Höhe. Danach folgt der „Wiedereintritt“ mit kurzzeitigen Belastungen bis etwa fünf g und schließlich die Landung am Fallschirm in der Wüste. Gesamtdauer von der Zündung der Rakete bis zum Aufsetzen der Kapsel: knapp elf Minuten.
Damit waren die Eckpunkte abgesteckt: SpaceShip2 ist ein klassisches, analoges, anmutig anzusehendes Raketenflugzeug, das von zwei Piloten handgesteuert in den Himmel steigt. Branson fliegt neun Tage früher als Bezos, aber nicht so hoch. Der New Shepard dagegen ist eine moderne Rakete bei der alles vollautomatisch läuft. Es gibt keine Piloten an Bord, die irgendetwas steuern müssten. Bezos fliegt etwas später, ist aber, ungeachtet welche Definition man auch immer anwendet und anders als Branson, definitiv im Weltraum. Somit könnte man meinen: Wenn alles klappt, hat die Sache zwei halbwegs gleichberechtigte Sieger.
Doch so wollte das Jeff Bezos nicht stehen lassen. Der hatte ja seiner „Jungfernflugmission“ bereits durch die Auktion einen philantropischen Touch gegeben. Jetzt legte er nochmal eins drauf und lieferte die nächste Sensation: Er lud für den Flug die inzwischen 82-jährige Wally Funk ein. In Deutschland ist sie unbekannt, für die US Aerospace-Gemeinde ist sie aber eine Legende. Nicht nur dass sie in ihrem Berufsleben als Pilotin fast 20.000 Flugstunden absolviert (und als Fluglehrerin mehrere hundert Piloten ausgebildet) hat, sie war auch Mitglied der legendären „Mercury 13“, jener Gruppe von Frauen, die sich in den Frühtagen des bemannten US-Raumfahrtprogramms allen medizinischen Tests unterwarfen, welche auch die männlichen Raumflug-Aspiranten erfüllen mussten. Diese Tests, das nur nebenbei, führte keineswegs die NASA durch, wie heute oft behauptet wird, sondern eine rein private Initiative. Keine von ihnen kam damals zum Zug, denn Präsident Eisenhower legte, um die Pilotenauswahl abzukürzen fest, dass sich die zukünftigen Weltraumflieger aus den Reihen der militärischen Testpiloten rekrutieren mussten.
Es gibt dabei noch eine besonders pikante Note: Wally Funk hatte sich nämlich bereits 2010 ein „Ticket“ bei Virgin Galactic gekauft. Für damals 170.000 Dollar. Das Unternehmen konnte aber bis zum heutigen Tag die seinerzeit verkaufte Leistung nicht liefern. Nun ist also Blue Origin dafür eingesprungen und gibt ihr einen kostenlosen Flug und das sogar in eine größere Höhe als Virgin Galactic schaffen würde. Somit hatte Bezos Branson wieder eins ausgewischt. Die Durchführung der Flüge ist bekannt. Es wurde vielfach darüber berichtet, deshalb hier nur eine stichwortartige Zusammenfassung: Am 11. Juli erfolgte wie geplant der Flug der VSS Unity mit Dave Mackay, Mike Masucci, Beth Moses, Sirisha Bandla, Colin Bennett und Sir Richard Branson an Bord. Die Mission ging auf eine Flughöhe von knapp über 86 Kilometern und schien zunächst vollständig erfolgreich verlaufen zu sein (zum „schien“ gleich mehr). Am 20. Juli flog auch der New Shepard mit Jeff und Mark Bezos, Wally Funk und dem zahlenden Passagier Oliver Daemon. Die Kapsel erreichte eine Flughöhe von knapp über 107 Kilometern. Und es gab noch einige „Weltrekorde“ einzuheimsen, denn erstmals flog ein Brüderpaar in den Weltraum (Jeff und Mark Bezos), zusammen mit dem ältesten Menschen, der je einen Raumflug unternommen hat (Wally Funk mit 82) und dem jüngsten Menschen im Weltraum (Oliver Daemon mit 18). Insofern könnte man an dieser Stelle vermelden: Mission accomplished. Gleichstand zwischen den Ego-Shootern. Jeder der beiden Alphatiere konnte sein Gesicht waren. Doch das stimmt nicht ganz. Sehen wir uns dazu an, was danach geschah.