Читать книгу Im Hause des Kommerzienrates - Eugenie Marlitt - Страница 2
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ОглавлениеEr schritt jetzt durch den Park nach Hause. Die Lichter der Mühle, die noch eine kleine Strecke weit einen schwachen Schein auf seinen Weg herausgeworfen, verschwanden hinter ihm; er wandelte nun allein mit sich selbst in tiefster Finsternis, und nicht der scharfe Windhauch, der ihn anblies, nicht die vereinzelten Schneeflocken, die wie flatterndes Nachtgevögel eisigkalt an seiner Wange niederstrichen, nein, seine aufgeregten Gedanken und die Erinnerung an den Anblick, den er stundenlang hatte ertragen müssen, sie waren es, die einen Schüttelfrost durch seine Glieder jagten. Auf demselben Wege, dessen Kieselgeröll jetzt misstönend unter seinen Füßen rasselte, war er heute Nachmittag gekommen, eben aufgestanden vom reichbesetzten Mittagstisch, sorglos, seinen vielberufenen Glücksstern über sich wähnend – und nun, nach wenigen Stunden, wollte es fast scheinen, als trage er Mitschuld am Tode eines Menschen, er, der Kommerzienrat Römer, der um seiner empfindlichen Nerven willen nicht einmal ein Tier leiden sehen mochte! Bah, das war der Neid der Götter, der kein ungetrübtes Menschenlos duldet, der dem Glücklichen gern Steine auf die glatte Bahn wirft, und welcher jetzt auch bemüht war, ihm einen Nagel in das Gewissen zu drücken; der heitere Lebensgenuss sollte ihm vergällt werden – mitnichten! Ihn traf nur ein Vorwurf, der des Verschweigens, aber wem schadete er denn damit? niemand, niemand auf Gottes weiter Erde! Basta – er war mit sich fertig. Eben bog er in die breite Lindenallee ein, welche direkt auf die Villa zulief. Ströme silberweißen Lichtes flossen durch Fenster und Glastüren des unteren Balkonzimmers. Von dort her griff das üppige Leben voll Genuss mit weißen, schwellenden Armen nach ihm und zog ihn an sich aus Nachtdunkel und innerer Bedrängnis. Er atmete befreit auf; er warf die schlimmen Eindrücke der letzten Stunden weit hinter sich und ließ sie gleichsam verfließen mit dem Rauschen des Mühlwassers, das in der Ferne allmählich erstarb.
In dem Salon dort, am Tee- und Whisttische der verwitweten Frau Präsidentin Urach, hatte sich eine zahlreiche Abendgesellschaft eingefunden. Die sehr tiefgehenden mächtigen Glasscheiben und das klar durchsichtige Bronzegeflecht des niedrigen Balkongeländers gestatteten einen vollkommenen Einblick in den Salon. Seine farbenglänzenden Wandgemälde, die faltenschweren Türbehänge von veilchenblauem Sammet, der schwebende Kettenleuchter von Goldbronze, den die mit dem Silberlichte des Gases gefüllten Milchglaskugeln wie riesige Perlen umkreisten, ließen ihn feenhaft, aber auch herausfordernd wie eine Schaubühne aus dem intensiven Dunkel des Winterabends treten. … Ein Windstoß pfiff durch die Allee und schüttete ein Gemisch von Schneeflocken und dürren Lindenblättern wie toll über den Balkon her; die vornehme Ruhe hinter den Scheiben ließ sich nicht alterieren durch den groben Gesellen; nicht einmal das luftige Gewebe der Spitzengardinen bewegte sich – höchstens, dass der Feuerkern im Eckkamin unter seinem grimmigen Atem für einen Moment höher aufglühte.
Und der immer rascher daherschreitende Mann draußen überblickte mit einer Art von innerlich zitterndem Wonnegefühl die Gruppen der Versammelten – nicht, dass blonde und dunkle Locken, weiche, schlanke Frauen- und Mädchengestalten sein Auge entzückt hätten, die Frühlingsgenien des Deckengemäldes streckten vielmehr ihre mit Anemonen und Maiblumen gefüllten Händchen über Matronenhäubchen, über gebleichte Scheitel und Glatzköpfe hin – aber welche Namen waren da vertreten! Offiziere von hohem Range, pensionierte Hofdamen und Herren vom Ministerium saßen an den Spieltischen, oder umsaßen, ihren steifen Rücken in den blauen Sammet der Lehnstühle gedrückt, plaudernd den wärmenden Kamin. Auch der alte, hochmütige Medizinalrat von Bär war da. Beim Auswerfen der Karten zuckten Blitze von seinen kostbaren Brillantringen, lauter Geschenken fürstlicher Personen. Und alle diese Leute waren in seinem Hause, im Hause des Kommerzienrat Römer; der rubinfunkelnde Wein in den Gläsern war aus seinem Keller, und die frischen, duftenden Erdbeeren, welche die betressten Diener in großen Kristallschalen eben herumreichten, hatte er bezahlt. Die Frau Präsidentin Urach war die Großmama seiner verstorbenen Frau; sie machte mit unumschränkter Macht über seine Kasse die Honneurs im Hause des Witwers.
Der Kommerzienrat bog um die westliche Seite des Hauses. Hier waren nur zwei Fenster im Erdgeschoss beleuchtet; ziemlich nahe dem einen brannte eine Hängelampe und warf die helle Glut der roten Gardine so weit hinaus, dass der weiße Leib der steinernen Brunnennymphe drüben vor der Boscage in einem vollen Rosenlichte schwamm. Der Kommerzienrat schüttelte den Kopf; er trat in das Haus, ließ sich von einem herbeieilenden Diener den Überzieher abnehmen und öffnete die Tür des Zimmers, in dem sich die roten Vorhänge befanden. Der ganze Raum war rot; Tapeten, Möbelbezüge, selbst der Teppich, der sich über den Fußboden hinspannte, trug die satte, dunkle Purpurfarbe. Unter der Hängelampe stand ein Schreibtisch, ein Möbel von wunderlicher Form, in chinesischem Geschmacke schwarz lackiert, mit Goldgeäder und feinen Goldarabesken; es war ein Arbeitstisch im vollsten Sinne des Wortes; aufgeschlagene Bücher, Papierhefte und Zeitungen bedeckten seine breite Platte, auch ein dickes Manuskript mit quer darüber hingeworfenem Stifte lag da, und daneben stand auf einem kleinen, runden Silberteller ein Kelchglas, zur Hälfte mit dunklem, schwerem Rotweine gefüllt. Das war ein Zimmer, wo keine Blume gedeiht, wo kein Vogel sein störendes Lied singen darf. In den vier Ecken, auf Säulenstücken von schwarzem Marmor, standen lebensgroße Büsten aus demselben Material, das die strenggeschnittenen Köpfe noch herber und härter im Ausdrucke erscheinen ließ, und die eine lange Wand nahmen Büchergestelle ein; sie harmonierten in Farbe und Ausschmückung mit dem Schreibtische und bargen eine ansehnliche Bibliothek in ihren Fächern, schöngebundene Bücher neuesten Datums, aber auch Folianten in Schweinsleder und ganze Stöße abgegriffener Broschüren. Fast schien es, als sei hier das tiefe, gleichmäßige Rot als Grundton nur gewählt, um den Ernst des Gedankens in der Gesamteinrichtung hervorzuheben.
Als der Kommerzienrat auf die Schwelle trat, blieb die Dame, die offenbar da auf- und abgegangen war, inmitten des Zimmers stehen. Man hätte meinen mögen, auch sie sei eben von draußen hereingekommen, direkt aus dem Schneegestöber mit überschneitem Gewande, so blendend weiß stand sie auf dem roten Teppich. Es ließ sich schwer bestimmen, ob die weichen Falten des langen Kaschmirkleides lediglich aus Bequemlichkeit so lässig um Hüften und Taille geschürzt waren, oder ob diesem außergewöhnlichen Arrangement ein sorgfältiges Toilettenstudium zugrunde liege – jedenfalls hob sich die Gestalt von dem dunkelpurpurnen Hintergrunde edel in jeder Linie und taubenhaft weiß ab wie eine Iphigenie. Die Dame war sehr schön, wenn auch nicht mehr in der ersten Jugend. Sie hatte ein feines Römerprofil und zartgefügte, jugendlich biegsame Glieder; nur das aschblonde Haar entbehrte der Fülle; es war kurz verschnitten und bauschte sich, von der Stirn zurückgestrichen, in kleinen durchsichtigen Locken um Kopf und Hals. Das war Flora Mangold, die Schwägerin des Kommerzienrats Römer, die Zwillingsschwester seiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Arme leicht unter der Brust verschränkt und sah ihrem Schwager mit sichtlicher Spannung entgegen.
»Nun, Flora, Du bist nicht drüben?« fragte er, mit dem Daumen die Richtung des Salons bezeichnend.
»Was denkst Du denn? Ich werde mich wohl in Großmamas Teeklatsch setzen, zwischen Strümpfe und Wickelschnuren für arme Kinder und Altweibergeschwätz«, versetzte sie herb und geärgert.
»Es sind auch Herren drüben, Flörchen –«
»Als ob die sich auf den Klatsch nicht noch besser verstünden, trotz Orden und Epauletten!«
Er lachte. »Du hast schlechte Laune, ma chère«, sagte er und ließ seine schlanke Gestalt in einen Lehnstuhl sinken.
Sie aber warf plötzlich mit einer heftig schüttelnden Bewegung den Kopf zurück und presste die festverschlungenen Hände gegen den Busen. »Moritz«, sagte sie wie atemlos, wie nach einem augenblicklichen Ringen mit sich selbst, »sage mir die Wahrheit – ist der Schlossmüller unter Brucks Messer gestorben?«
Er fuhr empor.
»Welche Idee! Nun wahrhaftig, Euch Frauen ist doch nie ein Unglück schwarz genug –«
»Moritz, ich bitte mir’s aus«, unterbrach sie ihn mit einer stolzen Kopfbewegung.
»Nun ja, allen Respekt vor Deiner Begabung und Deinem ungewöhnlichem Verstande, aber machst Du es denn besser als die anderen?« Er durchmaß aufgeregt das Zimmer – diese ungeahnte Auffassung des Ereignisses traf ihn wie vernichtend. »Unter Brucks Messer gestorben!« wiederholte er mit tief erregter Stimme. »Ich sage Dir, gegen zwei Uhr hat die Operation stattgefunden, und vor kaum zwei Stunden ist der Tod eingetreten. Übrigens fasse ich nicht, wie gerade Du den Mut findest, einen solchen Gedanken so kurz und bündig, fast möchte ich sagen, so mitleidslos auszusprechen.«
»Gerade ich!« betonte sie. Bei diesen energischen Worten drückte sie den vorgestreckten Fuß sichtlich tiefer in den Teppich. »Gerade ich, weil ich nichts Totgeschwiegenes in meiner Seele dulde – das solltest Du wissen. Ich bin zu stolz, zu wenig hingebend, um die dunkle Verschuldung eines anderen mitzuwissen und zu verhehlen – sei dieser andere, wer er wolle! Glaube ja nicht, dass ich dabei nicht leide! Mir geht ein Schwert durchs Herz, aber Du hast das Wort ›mitleidslos‹ gebraucht – verdächtiger konntest Du Dich nicht ausdrücken. Mitleid haben mit der Stümperei in der Wissenschaft, das ist absurd, geradezu unmöglich. Darüber aber bist Du doch, so gut wie ich, im Klaren, dass Brucks Ruf als Arzt bereits stark gelitten hat durch die gänzlich missratene Kur der Gräfin Wallendorf.«
»Ja, ja, die gute Frau hat ihrer Liebhaberei für Gänseleberpastete und Champagner um keinen Preis entsagt.«
»Das behauptet Bruck – die Verwandten haben es widerlegt.« Sie presste die Handfläche an die Schläfen, als schmerze ihr der Kopf heftig. »Weißt Du, Moritz, als die Nachricht von dem Unglück in der Mühle herübergebracht wurde, da bin ich wie sinnlos draußen im Freien auf- und abgestürmt. In allen Schichten der Bevölkerung war der alte Sommer gekannt, alle Welt interessierte sich für die Operation. Sei es denn, wie Du sagst, dass er nicht sofort unter Brucks Händen den Geist aufgegeben hat – die Sachverständigen werden mit Recht behaupten, er habe eben nur, vermöge seiner robusten Natur, einen verlängerten Kampf gekämpft. Willst Du als Laie das besser wissen? Leugne doch nur nicht, dass Du dieselbe Überzeugung hegest! Du solltest Dich nur sehen, wie blass Du bist vor innerer Bewegung.«
In diesem Augenblick tat sich eine Seitentür auf, und die Präsidentin Urach erschien auf der Schwelle. Trotz ihrer siebenzig Jahre konnte man wohl von ihr sagen: sie kam schwebenden Schrittes näher; trotz ihrer siebenzig Jahre war sie eine wunderlich jugendliche Großmama. Sie trug nicht einmal die wohltätig verhüllende Mantille des Alters; ein weißer, auf den Rücken geknüpfter Spitzenfichu legte sich knapp um Brust und Taille, und auf der perlgrauen Seidenschleppe bauschte ein reichgarniertes Überkleid. Ihr ergrautes, aber noch von glänzenden Streifen der ehemaligen Goldfarbe durchzogenes Haar war in dicken Puffen um die Stirn gesteckt, und über dieser Haarkrone lag schleierartig weißer Blondentüll, dessen lange Enden den Hals und die untere Kinnpartie, diese unerbittlichen Verräter des vorgerückten Alters, zugleich verhüllten.
Sie kam nicht allein. Neben ihr schlüpfte ein wunderliches Wesen herein, eine im Wachstum sehr unterdrückte Gestalt, nicht gerade unproportioniert in den Gliedern, aber doch auffallend klein und erschreckend mager, und auf diesem dürftigen Körper saß der starkentwickelte Kopf einer jungen Dame von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Die drei im Zimmer anwesenden Frauenköpfe trugen ein und denselben Familienzug – man erkannte sofort die enge Beziehung zwischen der Großmutter und den Enkelinnen; nur bei der Jüngsten erschien das edle, ebenmäßige Profil zu sehr in die Länge gezogen; auch trat das Kinn breiter und energischer hervor. Sie hatte einen kränklichen Teint und seltsam bläuliche Lippen. Durch ihr blondes Haar schlangen sich feuerfarbene Sammetbänder – sie war überhaupt in eleganter Gesellschaftstoilette; nur hing origineller Weise da, wo andere Damen ein Margarethentäschchen tragen, ein ovales Weidenkörbchen, weich gefüttert mit blauen Atlaskisschen, zwischen denen ein Kanarienvogel saß.
»Nein, Henriette!« rief Flora ungeduldig und heftig, als das Vögelchen sofort sein Nest verließ und wie ein Pfeil über ihren Kopf hinflog, »das leide ich absolut nicht. Deine Menagerie lässest Du draußen!«
»Ich bitte Dich, Flora – Hans hat weder Elefantenfüße noch Hörner am Kopfe; er tut Dir nichts«, sagte die kleine Dame gleichmütig. »Komm, Hänschen, komm!« lockte sie das Tierchen, das droben an der Decke kreiste; es kam sogleich pflichtschuldigst herunter und setzte sich auf ihre ausgestreckten Zeigefinger.
Flora wandte sich achselzuckend ab. »Ich begreife Dich und die anderen drüben wahrhaftig nicht, Großmama«, sagte sie scharf. »Wie mögt Ihr nur Henriettens Kindereien und Narrheiten dulden? Sie wird Euch nächstens auch ihre sämtlichen Tauben- und Dohlennester in den Salon schleppen.«
»Ei ja – warum denn nicht, Flora?« lachte die Kleine und zeigte eine Reihe feiner, scharfer Zähnchen. »Die guten Leute müssen sich ja auch gefallen lassen, dass Du wo möglich mit der Feder hinter dem Ohr einhergehst und stets alle Taschen voll Stubengelahrtheit mitbringst –«
»Henriette!« unterbrach sie die Präsidentin streng verweisend. Es war eine wahrhaft fürstliche Hoheit in jeder ihrer Bewegungen; auch in der graziösen Art, wie sie dem Kommerzienrat ihre schlanke Hand begrüßend hinreichte, lag bei sehr viel Güte und Freundlichkeit dennoch eine nicht zu verkennende Herablassung.
»Wir haben drüben erfahren, dass Du endlich zurückgekommen bist, lieber Moritz; sollen wir noch länger warten?« fragte sie mit ihrer schönen, immer noch weichen Frauenstimme.
Noch vor zehn Minuten hatte er mit dem festen Vorsatz, schleunigst in den Frack zu schlüpfen, das Haus betreten – jetzt sagte er zögernd und unsicher: »Teuerste Großmama, ich möchte Sie bitten, mich für heute zu entschuldigen – der Vorfall in der Mühle –«
»Nun ja, der Vorfall ist traurig genug, aber weshalb sollen auch wir darunter leiden? … Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Dich vor meinen Freunden entschuldigen soll.«
»Sie werden doch nicht so schwer von Begriffen sein, die guten Freunde, um nicht zu verstehen, dass Käthes Großpapa gestorben ist?« warf Henriette über die Schulter herüber ein – sie stand vor einem Bücherbrett und las, wie es schien, eifrig die Vignetten.
»Henriette, ich verbitte mir ernstlich Deine naseweisen Bemerkungen«, sagte die Präsidentin. »Du magst meinetwegen Deinen feuerfarbenen Haarschmuck ein wenig moderieren; denn Käthe ist Deine Stiefschwester, mir und Moritz aber liegt diese Verwandtschaft so weltenfern, dass wir für uns dem Trauerfall offiziell keinerlei Bedeutung zugestehen können, so sehr ich ihn auch beklage. Ich möchte überhaupt nicht, dass die Sache an die große Glocke geschlagen würde – Brucks wegen – je weniger über den Vorfall gesprochen wird, desto besser.«
»Mein Gott, seid Ihr denn alle so ungerecht gegen den Doktor?« rief der Kommerzienrat in ausbrechender Verzweiflung. »Ihm ist auch nicht der allergeringste Vorwurf zu machen; er hat seine ganze Kunst, sein ganzes Wissen aufgeboten –«
»Lieber Moritz, darüber musst Du meinen alten Freund, den Medizinalrat von Bär, hören!« unterbrach ihn die Präsidentin und klopfte ihn leicht auf die Schulter. Sie winkte bedeutungsvoll mit den Augen nach Flora, die an ihren Schreibtisch getreten war.
»O, geniere Dich nur nicht, Großmama! Glaubst Du denn, ich sei so blind und dumm, um mir nicht selbst zu sagen, wie Bär urteilt?« rief das schöne Mädchen bitter. Ihre Lippen zuckten wie im Krampf. »Übrigens hat Bruck bereits sich selbst gerichtet, er hat nicht gewagt, mir heute Abend noch unter die Augen zu treten.«
Henriette hatte bis dahin mit dem Rücken gegen die anderen gestanden. Jetzt wandte sie sich um; eine hohe Röte schoss in ihr fahles Gesicht und erlosch ebenso rasch wieder. Das Mädchen hatte ein wunderschönes, tiefes Auge, ein Auge voll leidenschaftlicher Empfindung. Diese großen flimmernden Sterne richteten sich mit einem Gemisch von scheuem Schrecken und jäh aufglühendem Hass auf das Gesicht der Schwester.
»Nun, diesen Verdacht wird er widerlegen – er kommt noch, Flora«, sagte der Kommerzienrat sichtlich erleichtert. »Er wird Dir selbst sagen, dass er den Tag über wie gehetzt gewesen ist. Du weißt ja, dass er mehrere Schwerkranke in der Stadt hat, darunter das arme, kleine Mädchen des Kaufmann Lenz, das heute Nacht noch sterben wird.«
Die junge Dame stieß ein leises, bitteres Lachen aus. »Wird es sterben? Wirklich, Moritz? … Nun sieh, Bär war auch hier bei mir, ehe er zu Großmama ging; er sprach auch von dem Kinde, das er gestern gesehen hatte, und meinte, der Fall sei leicht – er fürchte nur, Bruck sei auf falscher Fährte. Bär ist eine Autorität –«
»Ja, eine Autorität voll zitternden Neides«, sagte Henriette mit vibrierender Stimme. Sie war rasch hinzugetreten und legte ihre Hand auf den Arm ihres Schwagers. »Gib es auf, Moritz, Flora zu bekehren! Du siehst doch, sie will ihren Bräutigam schuldig finden.«
»Ich will? … Boshaftes Geschöpf! Ich gäbe sofort mein halbes Vermögen hin, wenn ich noch so denken könnte, wie zu Anfang meiner Brautschaft, so stolz, so zuversichtlich zu Bruck aufsehend«, rief Flora leidenschaftlich. »Aber seit dem Tode der Gräfin Wallendorf trage ich stillschweigend die fortgesetzte Qual der Zweifel, des Misstrauens mit mir herum – heute zweifle ich nicht mehr, denn ich bin überzeugt. Jene Schwäche des Weibes kenne ich freilich nicht, das nur liebt, ohne zu fragen: ist der Geliebte der Hingebung auch würdig? … Ich bin ehrgeizig, glühend ehrgeizig, das können alle wissen. Ohne diese Triebfeder würde ich auch mit dem großen Haufen der Schwachen und Indolenten meines Geschlechts auf der breiten Heerstraße der Alltäglichkeit ziehen. – Gott soll mich behüten! Wie andere strebende und denkende Frauen es möglich machen, ruhig und gleichmütig mit einem unbedeutenden Mann durchs Leben zu gehen, ist mir stets unfasslich gewesen – ich würde zeitlebens erröten unter den Blicken der Menschen.«
»O – so verschämt würdest Du sein? Sieh, sieh! – Allerdings, dazu gehört auch mehr Mut, als vor einem kecken Auditorium von Studenten über Ästhetik und dergleichen zu lesen«, rief Henriette, jetzt in der Tat mit einem boshaften Lächeln.
Flora ließ einen Blick voll Verachtung über die kleine Schwester hinstreifen. »Solch eine kleine Viper lässt man ruhig zischen. Was weißt Du von einem Ideal?« sagte sie achselzuckend. »Aber Recht hast Du, wenn Du glaubst, mein Platz sei weit eher auf dem Katheder, als an der Seite eines Mannes, der sich als Stümper in seiner Wissenschaft dokumentiert – eine solche Fessel ertrage ich nicht.«
»Kind, das ist Deine Sache«, erklärte die Präsidentin gelassen, während der Kommerzienrat in namenloser Bestürzung zurückfuhr. »Du wirst Dich erinnern, dass Dich niemand gezwungen, noch überredet hat, Deinen Kopf in diese Fessel zu stecken.«
»Das weiß ich sehr genau, Großmama; ich weiß auch, dass Du es weit lieber gesehen hättest, wenn ich die Frau des an Geld und Körper bankerotten Kammerherrn von Stetten geworden wäre. Ich gebe Dir ebenso gern zu, dass ich mich nie von irgendeinem Menschen beeinflussen oder gar leiten lasse, weil ich am besten wissen muss, was mir frommt.«
»Das wird Dir auch stets unbenommen sein«, versetzte die Großmama mit vornehmer Kälte. »Nur eines gebe ich Dir zu bedenken: Du wirst eine entschiedene Gegnerin an mir haben, wenn die Sache auf einen Eklat hinausläuft. Darin kennst Du mich hoffentlich. Ich ertrage weit eher inneren Unfrieden, als einen Familienskandal nach außen. Ich lebe mit Euch zusammen und habe gern die Repräsentation dieses Hauses übernommen; dafür verlange ich aber auch die unbedingteste Rücksicht für meine Stellung und meinen Namen. Ich will nicht, dass man in der Gesellschaft über uns flüstert und zischelt.«
Der Kommerzienrat wandte sich rasch ab. Er trat an das eine unverhüllte Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Der Wind, der sich allmählich zum Sturme steigerte, fauchte rüttelnd an den Scheiben hin, und in dem feurig roten Streifen, den die Lampe des anderen Fensters stet und unbeirrt über die windgeschüttelten Büsche warf, fuhren die blutig gefärbten Schneeflocken im rasenden Wirbel durcheinander, wie die marternden Gedanken in seinem Kopfe. Er hatte vorhin mit sich gekämpft, ob er nicht Flora wenigstens den Vorfall wahrheitsgetreu mitteilen solle – jetzt wusste er, dass gerade ihr gegenüber kein Laut über seine Lippen kommen durfte, wenn er nicht wollte, dass die Präsidentin um des »Zischelns und Flüsterns in der Gesellschaft« willen sich von ihm lossagte; er musste sich eingestehen, dass das ehrgeizige schöne Mädchen sofort sein Geständnis in die Welt hinausschreien würde, weniger aus Liebe, als um den Schein von sich zu wenden, dass sie sich hinsichtlich der Wahl ihres Herzens oder eigentlich ihres Verstandes geirrt habe.
Währenddem stand Henriette, das kleine, missgestaltete Mädchen, mit Augen voll Grimm und Spott vor der Großmutter. »Also nur in Rücksicht auf das Gerede der Leute wünschest Du, dass sich meine Schwester tadellos aus der Affäre ziehe? Damit kommt sie ja sehr wohlfeil weg. Du sprichst sie ohne Bedenken frei, wenn sie nur dem Treubruche ein seidenes Mäntelchen umzuhängen versteht. Übrigens brauchst Du wegen des Eklat wirklich nicht so entsetzlich penible zu sein, Großmama – man muss im Salon leben, wie wir, um zu wissen, dass die Gesellschaft es mit so manchen vornehmen Sündern hält, wie mit dem alten Meißner Porzellan: je öfter gekittet, desto begehrter!«
»Ich werde Dich wohl ersuchen müssen, den Rest des Abends auf Deinem Zimmer zu verbringen, Henriette«, zürnte die Präsidentin jetzt ernstlich. »Mit dieser verbitterten Stimmung kann ich Dir die Rückkehr in den Salon nicht gestatten.«
»Wie Du befiehlst, Großmama! Gelt, Hans, wir gehen mit tausend Freuden«, sagte sie lächelnd und drückte die Wangen auf das Gefieder des Vögelchens, das noch auf ihrer Rechten saß. »Du kannst auch die alten Hofdamen nicht leiden, und die große medizinische Autorität, den Herrn von Bär, zwickst Du regelmäßig in den Finger, wenn er Dich mit Zucker kirren will, braver Bursche … Gute Nacht, Großmama – gute Nacht, Moritz!« Sie hemmte noch einmal ihre hastigen Schritte und wandte sich zurück. »Die Charaktervolle dort«, sagte sie mit schneidender Ironie, »wird hoffentlich den Weg innehalten, den ihr der selige Papa unerbittlich vorgeschrieben haben würde – mit ihrer Renommage bezüglich des eigenen Willens hat sie sich zu seinen Lebzeiten niemals hervorwagen dürfen. Er würde ihr nie gestattet haben, einem Ehrenmanne das gegebene Wort zu brechen.«
Mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe ging sie hinaus, aber schon auf der Schwelle stürzten ihr die heißen Tränen, die bereits in ihren letzten Worten mitgeklungen hatten, unaufhaltsam über die Wangen.
»Gott sei Dank, dass sie geht!« rief Flora. »Man braucht wirklich das höchste Maß von Selbstbeherrschung, um nicht ihr gegenüber die Geduld zu verlieren.«
»Ich vergesse nie, dass sie eine Kranke ist«, bemerkte die Präsidentin trocken zurechtweisend.
»Und in einer Art hatte sie doch auch Recht, Flora«, wagte der Kommerzienrat einzuwerfen.
»Denke darüber, wie Du willst, Moritz!« entgegnete die junge Dame kalt. »Ich habe Dich nur dringend zu bitten, mir durch Deine Einmischung die inneren Kämpfe nicht zu erschweren. Wie bereits gesagt, bin ich gewohnt, mit mir und anderen allein fertig zu werden, und so will ich’s auch in diesem Falle gehalten wissen. Übrigens dürft Ihr ruhig sein – Du und die Großmama – es widerstrebt mir selbst, hart und gewaltsam vorzugehen; ich habe eine geräuschlose Verbündete, und das ist – die Zeit.«
Sie nahm das Kelchglas vom Schreibtische und netzte die fast weißgewordenen Lippen mit einigen Tropfen Rotweins, während die Präsidentin, ohne ein Wort weiter zu verlieren, sich anschickte, in den Salon zurückzukehren.
»Apropos, Moritz!« rief sie, die Hand auf das Türschloss legend. »Was wird nun mit Käthe geschehen?«
»Darüber müssen wir das Testament entscheiden lassen«, versetzte er, wie befreit aufatmend. »Ich bin völlig ahnungslos, wie der Schlossmüller verfügt hat. Käthe ist seine einzige Erbin; ob er sie aber auch als solche bestätigt, das fragt sich; er ist ihr ja immer gram gewesen, weil ihre Geburt seiner Tochter das Leben gekostet hat. … Auf jeden Fall wird sie für einige Zeit hierherkommen müssen.«
»Gib Dir keine Mühe – die kommt nicht; die hängt noch heute so fest an den Rockfalten ihrer alten, unausstehlichen Gouvernante, wie zu Papas Lebzeiten«, sagte Flora. »Man muss nur ihre Briefe an Dich lesen.«
»Nun, vielleicht ist’s auch besser, sie bleibt, wo sie ist«, meinte die Präsidentin fast lebhaft. »Aufrichtig gestanden, ich verspüre nicht viel Lust, sie unter meine Flügel zu nehmen und vielleicht stündlich an ihr herumzumäkeln – das gibt viel stillen Ärger. … Ich habe mich nie recht für sie erwärmen können, nicht etwa, weil sie das Kind der ›anderen‹ war – darüber habe ich stets gestanden, aber sie kroch mir zu viel drüben in der Mühle herum, hatte stets die Zöpfe und Kleider voll Mehlstaub und war ein recht eigenwilliges kleines Ding.«
»Ja, so ein rechter Querkopf aus dem Volke, und doch – Papas Liebling«, warf Flora mit bitterm Lächeln hin.
»Scheinbar, Kind, weil sie seine Jüngste war«, sagte die Präsidentin, die grundsätzlich nie den Gedanken aufkommen ließ, dass eines ihrer Angehörigen je zurückgesetzt werden könne; »er hat Euch ebenso lieb gehabt. Nun, Moritz, wirst Du mitkommen?«
Er bejahte hastig. beide entfernten sich, Flora aber schellte ihrer Kammerjungfer. »Ich will mich in mein Schlafzimmer zurückziehen und dort arbeiten – trage das Schreibzeug und diese Papiere hinüber!« befahl sie. »Selbstverständlich bin ich für niemand mehr zu sprechen.«
Der feurig rote Streifen draußen erlosch; das weiße Licht des Salons aber schimmerte bis weit über Mitternacht in die dunkle, sturmgepeitschte Allee hinein. … Der Kommerzienrat saß am Spieltische. Alle Anwesenden hatten bei seinem Eintreten einen liebenswürdigen Gruß, ein vertrauliches Händeschütteln für ihn gehabt, und das hatte sein beklommenes Herz durchwärmt und umschmeichelt wie Sonnenschein. Inmitten dieser Gesichter, mit der Vornehmheit des Adels oder dem Beamtenhochmute in den Zügen, fand er seine Handlungsweise so vollkommen gerechtfertigt, dass er die quälenden Skrupel der letzten Stunden fast nicht mehr begriff. Weshalb sich einem schiefen Urteile aussetzen, wenn man sich bewusst ist, nicht einmal in Gedanken gesündigt zu haben? Und um welche Gemeinheit handelte es sich! All’ den allerliebsten Skandalgeschichtchen, die auch jetzt von Mund zu Mund schlüpften, hing man mit feinem, verständnisinnigem Lächeln »das seidene Mäntelchen« um – es waren ja insgesamt noble Passionen und Verirrungen, die man geißelte, bei dem Verdachte eines gemeinen Attentates auf den Geldschrank des Schlossmüllers aber ließe sicher alle diese Leute den ohnehin in ihren Kreis Eingeschmuggelten gnadenlos fallen. … Allerdings durfte er sich jetzt nicht mehr damit trösten, dass sein Verschweigen niemand schade; es drohte scheidend zwischen zwei Menschen zu treten, die bereits durch den Verlobungsring aneinander gekettet waren – bah, Flora war ein exzentrisches Wesen! Bei der nächsten Auszeichnung, die Bruck zuteilwurde – und die konnte bei seinen Verdiensten, seinem Wissen nicht ausbleiben –, besann sie sich eines Bessern. … Er schlürfte ein Glas köstlicher Bowle, und das spülte die letzte Skrupel gründlich weg.