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Es fiel kein Wort mehr von beiden Seiten. Sie erreichten bald das Haus und traten durch eine Seitentür ein, während drüben die Equipage vom Portale wegfuhr. Ein Bedienter berichtete ihnen, dass die Damen und »der gnädige Herr« im Wintergarten seien, also in den Appartements der Frau Präsidentin.

Käthe hatte ihre ganze heitere Ruhe und Sicherheit wiedergefunden. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie dem Manne hin. »Für den Herrn Kommerzienrat«, sagte sie.

»So steif?« fragte Doktor Bruck lächelnd, während der Lakai geräuschlos über den dicken persischen Korridor-Teppich hinschlüpfte und hinter einer Tür verschwand.

»So steif!« bestätigte sie ernsthaft. »Da ist die weiteste Distanz die beste. Ein biederes Hereinpoltern würde mir jedenfalls sehr schlecht bekommen. Ich fürchte nun selbst, ›den gnädigen Herrn‹ mit meiner unzeremoniellen Ankunft sehr in Verlegenheit zu bringen.«

Sie hatte sich nicht geirrt. Der Kommerzienrat kam im förmlichen Sturmschritte aus den Gemächern, mit dem bestürzten Ausrufe: »Mein Gott, Käthe!« stolperte er über die Schwelle.

Die Richtung seines Blickes war geradezu lächerlich – er suchte den Kopf der wie vom Himmel fallenden Mündel offenbar um zwei Fuß zu tief – und nun trat sie so hochgewachsen und festen Schrittes auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem fast frauenhaft stolzen Kopfneigen:

»Lieber Moritz, sei nicht böse, dass ich der Abrede zuwiderhandle! Aber um mich abholen zu lassen, dazu bin ich nun doch schon ein wenig zu groß.«

Er stand wie versteinert vor ihr. »Recht hast Du, Käthe. Die Zeit, wo ich Dich an der Hand führte, ist vorüber«, sagte er langsam, gleichsam in dem Anblicke ihres mit Rosenglut überhauchten Gesichts verloren. »Nun, sei mir tausendmal willkommen!« Jetzt erst reichte er auch Bruck begrüßend die Hand. »Ein Zusammenfinden im Korridor – da muss ich wohl gleich hier vorstellen –«

»Bemühe Dich nicht, Moritz! Das habe ich bereits selber besorgt«, unterbrach ihn das junge Mädchen. »Der Herr Doktor machte gerade Krankenbesuch bei Suse, als ich in die Mühle kam.«

Das Gesicht des Kommerzienrats verlängerte sich. »Die Mühle war Dein Absteigequartier?« fragte er betreten. »Aber liebes Kind, die Großmama Urach hat mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit erklärt, sich Deiner anzunehmen; mithin verstand es sich von selbst, dass Du Dich ihr sofort vorstelltest; stattdessen gehst Du zu Deiner alten Flamme, der Jungfer Suse! Ich bitte Dich, sage das drin lieber nicht!« setzte er hastig flüsternd hinzu.

»Verlangst Du das ernstlich von mir?« Die fest klingende Mädchenstimme stach seltsam ab von seinem scheuen Flüstertone. »Ich kann doch nicht leugnen, wenn die Sache zur Sprache kommen sollte… Auf das Verheimlichen verstehe ich mich wirklich nicht, Moritz« – sie verstummte für einen Moment, erschrocken über die Feuerglut, die ihm in das Gesicht schoss, dann aber sagte sie resolut: »Habe ich einen Fehler begangen, so will ich mich auch dazu bekennen; es wird ja nicht gleich meinen Kopf kosten.«

»Wenn Du einen gutgemeinten Wink so tragisch nehmen willst, dann habe ich allerdings nichts mehr zu sagen«, entgegnete er verlegen und ärgerlich zugleich. »Den Kopf wird es freilich nicht kosten, aber Deine Stellung in meinem Hause erschwerst Du Dir. Übrigens ganz wie Du willst! Sieh Du selbst, wie Du Dich mit diesem herben ›Geradedurch‹ in unseren hochfeinen Gesellschaftskreisen zurechtfindest!«

Schon bei den letzten Worten hatte sein Ton mehr scherzhaft als pikiert geklungen. Er ließ sich nun einmal nicht gern die behagliche Stimmung verderben. Er bot ihr galant den Arm und führte sie nach dem ehemaligen Speisezimmer, das neben dem Wintergarten lag und dessen Tür er aufstieß.

Das war aber nicht mehr der traute Ess-Salon mit seinen altmodischen, behäbigen, roten Saffianmöbeln. Die Wand, die ihn einst vom Wintergarten getrennt, war verschwunden; an ihrer Stelle trugen schlanke, oben in Rundbogen auslaufende Säulen den Plafond, den der köstlichste Farbenschmuck in maurischem Stil bedeckte. Drunten lief ein niedriges, spitzenklares, vergoldetes Bronzegitter von einer Säule zur anderen – es schied den steingetäfelten Fußboden des maurischen Zimmers von dem weißen Wegsand, dem grünen Flaum kleiner Rasenflecke im Wintergarten. Hinter diesem Gitter grünte und blühte es wonnig; da dufteten Maiblumen und köstliche Bouquets von Parmaveilchen zu Füßen der mächtigen Drachenbäume, des dunklen Lorbeer und der prachtvollen Dekoration von silbergestreiften, metallisch glänzenden Blattpflanzen. Dieses herrliche Pflanzenbild wurde umrahmt und gleichsam in einzelne Felder geteilt durch eine Art von Blumenornamentik. Um die Säulen rankte sich die Clematis und behing die schlanken Schäfte bis hinauf in das feingebogene Rund mit weißen und lilablauen Blüten.

Zwischen den zwei Säulen, die einen Mittelweg in das Zimmer freiließen, stand Flora. Sie war noch in der Straßentoilette und augenscheinlich im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Hoch hinter ihrem federgeschmückten Haupt wölbte der Springbrunnen des Wintergartens seine glitzernde Kuppel. Mit der behandschuhten Rechten hob die schöne Dame das schwere kastanienbraune Sammetkleid, dem das schräg hereinfallende Abendlicht schwachgoldige Reflexe entlockte, ein wenig über den Fuß, die unbedeckte Linke aber legte sich anmutig stützend an die Säule, weiß und zart wie die danebenhängende Clematisblüte.

Beim Eintreten des hochgewachsenen Mädchens öffnete sie zuerst ihre graublauen Augen weit vor Erstaunen, aber auch ebenso rasch kniff sie die Lider zu einem blinzelnd prüfenden Blick zusammen, wobei ein sarkastisches Lächeln um ihre Lippen huschte.

»Nun rate, Flora, wen ich da bringe!« rief der Kommerzienrat.

»Da brauche ich mir nicht lange den Kopf zu zerbrechen – das ist Käthe, die sich allein auf den Weg gemacht hat«, versetzte sie in ihrer eigentümlich nachlässigen und doch so überaus bestimmten Art und Weise. »Wer die alte Sommer gekannt hat, der weiß, dass das stämmige Mädchen da mit dem weiß und roten Apfelgesicht ihre Enkelin sein muss, Augen und Haar aber hat sie frappant wie Clotilde, Deine verstorbene Frau, Moritz.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich gleichsam aus dem Blumenrahmen, trat auf die Schwester zu, und den Kopf in den Nacken zurückbiegend, bot sie ihr die Lippen zum Kuss. Ja, das war noch immer die unvergleichlich schöne Flora, aber das langjährige Herrschertum über die Herzen hatte die weibliche Grazie von ihrer Ausdrucksweise genommen. Ebenso nachlässig wie bei dem kühlen Begrüßungskuss nach sechsjähriger Trennung, war ihr Wesen dem mit eingetretenen Doktor gegenüber. »Grüß Gott, Bruck!« sagte sie und reichte ihm die Rechte, aber nicht wie eine Braut, sondern wie ein College dem anderen. Er erfasste die Hand mit leichtem Druck und ließ es ruhig geschehen, dass sie sofort wieder zurückgezogen wurde.

Diese äußere Zurückhaltung zwischen dem Brautpaar schien sich von selbst zu verstehen. Flora wandte unbefangen den Kopf nach dem Wintergarten zurück. »Großmama«, rief sie mit lächelndem Spott in ihren geistreichen Zügen, »unser Goldfisch macht Dir und Deinen Bekannten die Freude, sich vier Wochen früher anstaunen zu lassen.«

Die Präsidentin war bereits bei Floras ersten Worten hinter einer Kameliengruppe hervorgetreten. Ohne dass sie es vielleicht selbst wusste, hatte sie die Angekommene mit jener Spannung gemustert, welche die meisten Menschen einem sogenannten Glückskind gegenüber an den Tag legen. Floras boshaft übermütiger Zuruf machte diesen Ausdruck sofort verschwinden. Die alte Dame zog unwillig die Brauen zusammen, und ein feines Rot der Verlegenheit flog über ihr bleiches Gesicht hin. »Ich erinnere mich nicht, ein so auffälliges Interesse gerade für jene Eigenschaft Deiner Schwester gezeigt zu haben«, sagte sie kühl und mit einem streng verweisenden Blick. »Wenn ich mich über Käthes Kommen freue und sie freundlich willkommen heiße, so geschieht das, weil sie meines lieben verstorbenen Mangold Kind und Eure Schwester ist.«

Sie ging mit gehobenen Händen auf Käthe zu, als beabsichtige sie eine Umarmung; allein diese verbeugte sich so tief und zeremoniell, als stehe sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor der stolzen Schwiegermutter ihres Vaters. Ein scharfer Blick hätte in dieser einen Gebärde leicht das scheue Zurückweichen vor jeglicher Berührung erkannt, die Präsidentin aber sah darin offenbar nur das Anzeichen eines tiefen Respektes. Sie zog die Hände zurück und hauchte einen Kuss auf die Stirn des jungen Mädchens. »Bist Du wirklich allein gekommen?« fragte sie, ihre Augen suchten unruhig forschend die Tür, als müsse noch irgendeine nicht gerade willkommene Reisebegleitung eintreten.

»Ganz allein. Ich wollte auch einmal selbstständig meine Flügel probieren, und das hat meine Doktorin gern erlaubt.« Sie strich noch einmal wie unbewusst mit den schlanken Fingern über die Stelle, welche die alte Dame mit ihren kalten Lippen berührt hatte.

»Ei, das glaube ich Dir gern; das ist ja ganz im Sinne der alten Lukas«, sagte die Präsidentin mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln. »Sie war ja auch stets sehr selbstständig … Dein guter Papa hatte sie ein ganz klein wenig verzogen, mein Kind. Sie tat, was ihr gefiel; selbstverständlich immer nur das Rechte –«

»Und das Verständige; aus dem Grunde mag ihr wohl auch der Papa seine jüngste wilde Hummel anvertraut haben«, setzte Käthe mit jener heiteren Unbefangenheit hinzu, die ihr ganzes Wesen charakterisierte. Aber gerade dieser Freimut, diese Leichtigkeit und Sicherheit schienen unangenehm zu berühren.

Die Präsidentin zog die Schultern leicht empor. »Dein Papa hat sicher Dein Bestes gewollt, liebe Käthe, und meine Sache ist es nie gewesen, irgendeine seiner Maßregeln zu bemäkeln. Aber er war eine vornehme Natur und hielt streng auf das Dekorum – ob es ihn nun doch nicht einigermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, wenn ihm sein heiteres Töchterchen plötzlich so sans gêne, so frank und frei in das Haus geflattert wäre?«

»Wer weiß?« versetzte Käthe. »Der Papa würde doch wissen, wes Geistes Kind diese Tochter ist« – ein mutwilliger Strahl blitzte aus ihren braunen Augen – »Müllerblut, das schlägt sich tapfer und wohlgemut durch die Welt, Frau Präsidentin.«

Der Kommerzienrat räusperte sich und strich eifrig seinen schönen Lippenbart, während die Präsidentin so betreten aussah, als habe unvermutet ein allzu kräftiger Luftzug ihr vornehmes Gesicht angeblasen, Flora aber brach in ein helles Gelächter aus. »Kind Gottes, Du bist kostbar naiv«, rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Ja, ja: ›Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern,‹« rezitierte sie. »Mit einer solchen Äußerung müsste unser Jüngstes nächstens in Moritzens großer Soiree debütieren, Großmama; da würden sie die Ohren spitzen!« Sie blinzelte die alte Dame schadenfroh an, die jedoch ihr Gleichgewicht schon wiedergefunden hatte.

»Ich vertraue dem angeborenen Takt Deiner Schwester, mein Kind«, sagte sie, ihre Hand nebenbei nun auch dem Doktor zur Begrüßung hinstreckend. Dazu lächelte sie mit jenem feinen Zusammenziehen der Lippen, das nur einen Schein der Zahnspitzen sehen ließ und von welchem man nie wusste, ob es süß oder sauer war.

»Takt, Takt – der wird viel helfen«, wiederholte Flora, den Kopf spöttisch wiegend. »Die Müllerreminiszenz ist ihr genau ebenso angeboren. Die gute Lukas hat es eben nicht verstanden, ihr ein wenig Weltklugheit einzupauken – da fehlt’s. Übrigens bin ich wirklich froh, dass Du allein gekommen bist, Käthe; ich hoffe, es wird sich so besser mit Dir leben lassen, als wenn Du am Rock Deiner alten hausbackenen Gouvernante hängst.«

Käthe hatte das Barett abgenommen; die schwüle Blumenluft trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Jetzt, mit der dicken, goldbraunen Haarflechte über der Stirn, sah sie noch größer aus.

»Hausbacken? Meine Doktorin?« rief sie lebhaft. »Eine poesievollere Frau lässt sich nicht denken.«

»Ei, was Du sagst! Sie schwärmt wohl den Mond an, schreibt empfindsame Verse ab, etc. Oder dichtet sie gar selbst? Wie?«

Das junge Mädchen richtete die glänzenden Augen mit klugem Blicke auf das Gesicht der Spötterin. »Verse nicht, aber die Manuskripte ihres Mannes schreibt sie ab, weil die Setzer der medizinischen Zeitschrift seine wunderlichen Krakelfüße absolut nicht entziffern können«, sagte sie nach einem kurzen Moment schweigender Prüfung. »Sie schreibt auch keine eigenen Verse oder Novellen – dazu fehlt ihr die Zeit, und doch dichtet sie. … Ach, Du lächelst noch genau so wie früher, Flora, so tief und so scharf in den Mundwinkeln, aber das Spottlächeln scheucht mich nicht mehr in die Ecken; ich habe eine streitbare Ader und behaupte weiter: Sie dichtet doch in der Art und Weise, wie sie das Leben nimmt und ihm stets eine Seite abzugewinnen weiß, von der ein verklärendes Licht ausgeht, wie sie ihr einfaches Heim ausschmückt – aus jedem Eckchen guckt ein schöner Gedanke – und wie sie es unsäglich gemütlich und doch ästhetisch anregend für ihren braven Mann und mich alten Kindskopf und die wenigen auserwählten Freunde des Hauses zu erhalten versteht.«

In diesem Augenblicke flog ein ganzer Regen von frischen Veilchen gegen die Brust des jungen Mädchens und rieselte auf den Fußboden nieder,

»Bravo, Käthe!« rief Henriette. Sie stand im Wintergarten, dicht am Gitter, und presste die bleichen Hände auf ihre heftig atmende Brust. »Ich möchte Dir gleich um den Hals fliegen, aber – sieh mich doch an! – müsste das nicht zum Totlachen sein? Du, so kerngesund an Leib und Seele, und ich –« ihre Stimme versagte.

Käthe warf das Barett, das sie noch in der Linken hielt, von sich und flog zu ihr. Sie umschlang zärtlich die schwache Gestalt, aber die Tränen des Erbarmens und die Betroffenheit darüber, dass das Gesicht der Schwester »so entsetzlich abgemagert«, wurden weislich unterdrückt.

Flora biss sich auf die Lippen. »Das Jüngste« war nicht nur imposant an Leibesgestalt geworden, es hatte auch in den hellen Augen und auf den Lippen den seltenen Freimut innerer Unabhängigkeit, der manchmal so unbequem werden kann. Ihr kam plötzlich die dunkle Ahnung, als trete mit dem kraftvollen Mädchen dort eine schattenwerfende Gestalt in ihr Leben. … Sie nahm hastig den Hut ab und fuhr mit beiden Händen auflockernd durch die zerdrückten Scheitellöckchen. »Hast Du das poetische Reisebündelchen da wirklich von Dresden mitgebracht?« fragte sie trocken, mit einem blinzelnden Seitenblicke nach dem zusammengeknüpften weißen Tuche am Arme der Angekommenen.

Das junge Mädchen löste die verschlungenen Enden und reichte Henriette die Taube hin. »Ein kleiner Patient, der Dir gehört«, sagte sie. »Das arme Ding ist flügellahm geschossen. Es fiel im Schlossmühlenhofe auf das Pflaster.«

Da war bereits die Einkehr in der Mühle verraten, allein die Präsidentin schien die letzten Worte ganz zu überhören; sie zeigte tief empört auf das verwundete Tierchen und sagte, nach dem Kommerzienrate zurückgewendet, mit strafendem Vorwurfe: »Das ist nun die vierte, Moritz.«

»Und noch dazu mein Liebling, mein Silberköpfchen!« rief Henriette und wischte sich eine Träne des Schmerzes und der Erbitterung von den Wimpern.

Der Kommerzienrat war ganz blass vor Schreck und Ärger. »Liebe Großmama, ich bitte Sie dringend, machen Sie mir daraus keinen Vorwurf mehr!« rief er fast heftig. »Ich tue, was möglich ist, um diesen bodenlosen Nichtswürdigkeiten auf die Spur zu kommen und sie zu verhindern, aber der Täter versteckt sich hinter der Phalanx von zweihundert erbitterten Menschen« – er zuckte die Achseln – »da lässt sich gar nichts tun. Ich habe auch deshalb Henriette wiederholt gebeten, ihre Tauben einzuschließen, bis die Aufregung vorüber ist.«

»Also wir werden in der Tat die Nachgebenden sein müssen? Es wird immer besser«, sagte die alte Dame sehr anzüglich; sie zog und rückte an der Schleierwolke, die ihr um Gesicht und Hals lag, als ob ihr die innere Aufwallung unerträglich warm mache. »Sagst Du Dir nicht selbst, Moritz, dass eine solche Gleichgültigkeit die Verwegenheit geradezu herausfordert? Man wird das geduldete Taubenschießen nachgerade langweilig finden und sich edleres Wild aussuchen.«

»Warum denn so zart verblümt, Großmama? Die Partei selbst nennt das Ding ziemlich unverfroren beim Namen«, warf Flora geflissentlich leicht und nachlässig hin. »Meine Jungfer hat heute Morgen beim Öffnen der Läden wieder einmal einen Drohbrief auf meinem Fenstersims gefunden; sie sah sich gezwungen, ihn mit der Feuerzange anzufassen und mir zur Einsicht hinzuhalten – so unappetitlich war der Wisch; er liegt in ihrer Stube, für den Fall, dass Du ihn zu Deinen Akten legen willst, Moritz. Neues enthält er selbstverständlich nicht – immer dieselben Phrasen! Wissen möchte ich aber doch, weshalb diese Menschen gerade mich so ganz besonders mit ihrem Klassenhasse beehren.«

Käthe konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass es sich hier wohl weniger um den Hass gegen die bevorzugte Klasse, als gegen die Persönlichkeit selbst handle. Sie begriff, dass diese herrische Erscheinung in fürstlich reichen Gewändern, mit den verächtlichen Linien um den Mund und der männlich schroffen Redeweise von Fernstehenden leicht für alle vom Hause ausgehenden Maßregeln verantwortlich gemacht wurde.

»Die gehässigen Angriffe sind doppelt lächerlich durch den Umstand, dass gerade ich mich für die soziale Frage lebhaft interessiere«, fuhr Flora unter kurzem Auflachen fort; »ich habe schon manchen zu Gunsten der Arbeiterklasse wirkenden Artikel in die Welt hinausgeschickt.«

»Mit dem Schreiben allein macht man das heute nicht mehr«, sagte Doktor Bruck vom Fenster herüber. »Die besten Federn haben sich stumpf daran geschrieben und die Wogen der Bewegung gehen immer höher und schwemmen die Theorien vom Papier.«

Aller Augen richteten sich auf ihn. »Ei, und was soll man tun?« fragte Flora spitz.

»Sich die Leute und ihre Forderungen selbst ansehen. Was nützt es, wenn Du aus dem Heer von Denkschriften und Broschüren über dieses Problem ›das Für und Wider‹ an Deinem Schreibtische mühsam zusammensuchst –«

»O, bitte« – in ihren Augen entzündete sich plötzlich ein grelles Feuer.

»Und Totes zu dem vielen Toten wirfst?« fuhr er unbeirrt fort. »Deine Artikel werden diesen Leuten schwerlich zu Gesicht kommen, und wenn auch – was helfen sie ihnen? Worte bauen ihnen keine Heimstätte. Gerade den Frauen in den Familien der Arbeitgeber fällt ein bedeutender Teil der Lösung zu, ihrem milden Einfluss auf das härtere Männergemüt, ihrer sanften hilfreichen Vermittelung, ihrer Klugheit. Aber die wenigsten geben sich die Mühe, darüber nachzudenken oder, was ich in erster Linie von ihnen verlange, ihr Herz zu befragen. Sie nehmen die Mittel zur Bestreitung ihrer heutzutage fast schrankenlosen Bedürfnisse aus den Händen der Männer, ohne zu erwägen, dass vor ihrer Tür alle Elemente zu einem furchtbaren Konflikt stetig emporwachsen.«

Die Präsidentin strich mit ihren schlanken Händen langsam über die atlasspiegelnde Fläche ihres Überkleides, und ohne auf den letzten Ausspruch einzugehen, sagte sie gelassen: »Ich gebe sehr gern; nur bin ich nicht gewöhnt, meine Almosen direkt in die Hand der Heischenden zu legen, und so mag es kommen, dass man nicht weiß, wie viel und wie oft ich gebe. Dieses Misskennen lässt mich übrigens sehr ruhig, selbst wenn es mich verantwortlich machen möchte für die Rohheiten, denen wir augenblicklich ausgesetzt sind.«

»Die Rohheiten sind abscheulich. niemand kann sie strenger verurteilen als ich«, versetzte Doktor Bruck ebenso kalt; »aber –«

»Nun, ›aber‹? Sie behaupten schließlich doch, wir Frauen im Hause des Arbeitgebers hätten sie provoziert?«

»Ja, Frau Präsidentin, Sie haben den Arbeitgeber abgehalten, seinen Leuten helfend entgegenzukommen, die Forderung der Arbeiter aber war keine unbillige, keine jener hässlichen Ausschreitungen, welche gegenwärtig die an sich vollkommen gerechte Sache der Partei verdunkeln und anrüchig machen – sie wollten auch kein Almosen, sondern mit Hilfe des Fabrikherrn sich selbst emporarbeiten zu einer beglückteren Existenz.«

Die alte Dame klopfte ihn leicht auf die Schulter und sagte freundlich, aber doch in jenem bestimmten, kurz abfallenden Tone, mit welchem sie das Gespräch abzubrechen wünschte: »Sie sind ein Idealist, Herr Doktor.«

»Nur ein Menschenfreund«, versetzte er flüchtig lächelnd und griff nach seinem Hute.

Seine Braut hatte ihm längst den Rücken gewendet und war in das andere Fenster getreten. Kein Frauengesicht war mehr geeignet, den Ausdruck der Feindseligkeit anzunehmen, als dieses Profil, das die Lippen so fest über den Zähnen zu schließen vermochte. … Der Mann dort hatte mit dürren Worten gesagt, sie suche an ihrem Schreibtische mühsam fremde Ideen zusammen – unerhört, bei ihrer Begabung! Sie  hatte allerdings nie ihre feinen Sohlen mit dem Arbeitsstaub in des Schwagers Spinnerei befleckt; sie wusste auch in der Tat nicht, wie es bei den Leuten aussah, die das dringende Verlangen nach Reformen unter eine Fahne rief und sie zu einer Macht anwachsen ließ, die sich wie ein Keil zwischen die gesellschaftliche Ordnung schob und sie zu zersprengen drohte. Aber wozu denn auch? Musste man denn alles in Wirklichkeit gesehen und erlebt haben, was man schilderte? Lächerlich! wozu waren denn Geist und Phantasie da? … Bis heute hatte der Doktor ihre literarischen Bestrebungen mit keiner Silbe berührt – »aus Scheu und Respekt« hatte sie gedacht, und nun griff er dieses Wirken plötzlich so plump, so verständnislos an – er! Sie rang schwer mit sich. »Ich begreife nicht, Großmama, wie Du Dich zu der Bezeichnung ›Idealist‹ versteigen konntest«, rief sie mit funkelnden Augen herüber. »Ich dächte, Bruck hätte vorhin das große Thema trocken genug beleuchtet. Nach seinem Programme sollen wir schleunigst Komfort und Eleganz abstreifen und in Sack und Asche gehen; wir sollen uns beileibe nicht geistig beschäftigen, sondern Volkssuppen kochen. Dass wir die Stille und Abgeschlossenheit unsers Parkes verteidigen, ist Todsünde – es versteht sich von selbst, dass wir die hoffnungsvolle Schuljugend direkt unter unseren Fenstern turnen und lärmen lassen etc., und wenn wir nicht brav sind und schön folgen, da stellt er uns ein Gespenst vor die Tür.« – Sie lachte kurz und hart auf. »Übrigens verrechnet sich solch ein Menschenfreund mit seinen Sympathien ganz gewaltig. Sollte es wirklich zu dem geweissagten Zusammenstoß kommen, dann wird das Gespenst mit ihm ebenso kurzen Prozess machen, wie mit uns auch.«

»Ich habe nicht viel zu verlieren«, sagte der Doktor mit einem halben Lächeln.

Flora kam raschen Schrittes herüber. Ihre Löckchen flogen, und die schwere Sammetschleppe fegte den Marmorfußboden.

»O, seit heute Morgen darfst Du das nicht mehr sagen, Bruck«, entgegnete sie beißend. »Bist ja Hausbesitzer geworden, wie mir Moritz mitteilte. Alles Ernstes – hast Du wirklich Deine Drohung von gestern wahr gemacht und die entsetzliche Baracke drüben am Flusse erstanden?«

»Meine Drohung?«

»Nun, anders kann ich’s doch nicht nennen, wenn Du mir ein solches Schreckbild für die Zukunft hinstellst? Du hast, wie Du es gestern selbst bezeichnet, Deine Ersparnisse in einem Grundstücke angelegt, das für mich das non plus ultra der Einöde, der Ärmlichkeit und der abstoßenden Hässlichkeit ist. Zur Augenweide allein hast Du doch das Kleinod unmöglich an Dich gebracht, und deshalb frage ich Dich ernstlich: ›Wer soll darin wohnen?‹«

»Du brauchst es mit keinem Fuße zu betreten.«

»Das werde ich auch niemals – darauf kannst Du Dich verlassen. Eher –« es war ein schwer zu enträtselnder Blick, mit welchem der Doktor unterbrechend die Hand hob, aber dieser verdunkelte Blick hatte etwas so gewaltig Zwingendes, dass der rote Mund des schönen Mädchens unwillkürlich verstummte.

»Ich habe das Haus für meine Tante bestimmt und werde nur ein Zimmer für mich reservieren, das mir für meine freien Stunden einen ungestörten Arbeitswinkel im Grünen bietet«, sagte er gleich darauf weit ruhiger, als man nach seinem vorherigen Gesichtsausdrucke hätte erwarten können.

»Ah, viel Vergnügen dazu! Also ein spezielles Sommerasyl! – Und im Winter, Bruck?«

»Im Winter werde ich mich mit dem grüntapezierten Zimmer begnügen müssen, das Du in unserer zukünftigen Wohnung selbst für mich bestimmt hast.«

»Aufrichtig gestanden – ich mag die Wohnung nicht mehr. Gerade um dieses Eckhaus tost der Straßenlärm unaufhörlich und wird mich stören, wenn ich arbeiten will.«

»Nun, dann werde ich dem Hauswirte Abstandsgeld zahlen und eine andere suchen«, entgegnete er mit unerschütterlichem Gleichmut.

Flora wandte sich achselzuckend von ihm weg, und zwar so, dass Käthe ihr voll ins Gesicht sehen konnte. Fast schien es, als stampfe die schöne Braut den Boden. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah mit einem Augenaufschlage nach der Zimmerdecke, als ob sie verzweifelt ausrufen wollte: »Gott im Himmel, ist ihm denn gar nicht beizukommen?«

In diesem Augenblicke schellte die Präsidentin so stark, dass das Geklingel scharf und anhaltend vom Ende des langen Korridors hereindrang. Die alte Dame sah streng und beleidigt aus – in ihrem Beisein durfte es zu solchen taktlosen Auseinandersetzungen nicht kommen. »Du magst nicht gerade vorteilhaft über die Gastfreundschaft und den guten Ton im Hause Deines Schwagers denken, Käthe«, sagte sie zu dem jungen Mädchen. »Man hat Dir weder die Reisejacke abgenommen, noch einen Stuhl zum Niedersitzen angeboten; stattdessen musst Du, gleichviel ob Du Lust hast, oder nicht, unnütze Erörterungen anhören und auf dem kalten Steinfußboden stehen, während dort die dicken, warmen Teppiche liegen.« Sie zeigte nach den zwei entgegengesetzten Zimmerecken, welche Gruppen von Polstermöbeln und in der Tat kostbare, schwellende Smyrnateppiche ausfüllten, dann gab sie dem eintretenden Bedienten Befehle für die Hausmamsell hinsichtlich der schleunigen Instandsetzung einiger Gastzimmer.

Damit war die atemlose, herzbeklemmende Spannung gelöst, welche sich bei dem zugespitzten Wortwechsel der Zuhörenden bemächtigt hatte. Der Kommerzienrat beeilte sich, der Angekommenen das Jackett abzunehmen, und Henriette verließ mit einer tiefen Fieberglut auf den eingefallenen Wangen den Wintergarten, um ihre Taube fortzutragen.

»Wollen Sie nicht zum Tee bleiben, Herr Doktor?« fragte die Präsidentin den Arzt, der sich abschiednehmend vor ihr verbeugte. Er entschuldigte sich mit einigen Krankenbesuchen, die er noch zu machen habe – Gründe, bei welchen es sarkastisch um Floras Lippen zuckte, aber das schien er nicht zu bemerken; er reichte ihr die Hand, ebenso dem Kommerzienrate, vor Käthe aber neigte er sich ritterlich ehrerbietig, durchaus nicht wie vor einer jungen, neuen Schwägerin; für ihn war und blieb sie vorderhand das Mädchen aus der Fremde, und die anderen schienen diese Auffassung ganz in der Ordnung zu finden … Mit ihm zugleich verließ Henriette das Zimmer.

»Hör’ mal, Flora, für künftig verbitte ich mir dergleichen unerquickliche Szenen, wie wir sie eben mitansehen mussten«, sagte die Präsidentin stirnrunzelnd mit sehr verschärfter Stimme, nachdem sich die Tür hinter den Hinausgehenden geschlossen hatte. »Du hast Dir die vollkommene Freiheit gewahrt, auf Dein Ziel loszusteuern, wie es Dir passt und gefällt – gut – von meiner Seite ist Dir bisher nicht das Geringste in den Weg gelegt worden, aber ich protestiere energisch, sobald Du Lust zeigst, die widerwärtige Sache vor meinen Augen auszufechten. Wie gesagt, ich verbitte mir das ernstlich! Soll ich Dir wiederholen –«

»Liebe Großmama«, unterbrach sie die junge Dame persiflierend und verächtlich, »wiederhole nicht! … Du willst doch nur sagen: ›In diesem Hause kann gemordet werden; es kann brennen – gleichviel, wenn nur die Frau Präsidentin Urach leuchtend wie ein Phönix aus der Asche hervorgeht‹ …. Pardon, Großmama! Ich will es in meinem ganzen Leben nicht wieder tun. Das Haus ist ja groß genug; man kann auch außer Deinem Gesichtskreise auf die Mensur gehen. Ach, wenn es mir nur nicht so entsetzlich schwer gemacht würde! Ich fürchte, eines schönen Tages verliere ich doch die Geduld –«

»Flora!« rief der Kommerzienrat mit einer Art von bittender Mahnung.

»Schon gut, mein Herr von Römer! Ich habe selbstverständlich jetzt auch Rücksicht auf Deine neue Standeswürde zu nehmen. Gott, was alles lastet auf meinen armen Schultern! Und womit verdiene ich die Heimsuchung, dass sich die Herzen wie die Kletten an mich hängen?«

Sie griff nach ihrem Hute und nahm die Sammetschleppe auf, um zu gehen – vor Käthe hielt sie den Schritt an.

»Siehst Du, mein lieber Schatz«, sagte sie und legte der jungen Schwester den Zeigefinger unter das Kinn, »so geht es dem armen Frauenzimmer, wenn es sich für einen kurzen Moment mit der Sentimentalität einlässt und zu lieben sich einbildet. Es hat plötzlich den Fuß im Tellereisen und sieht wehklagend ein, dass die abgedroschene gute Lehre: ›Drum prüfe, wer sich ewig bindet!‹ eine abscheuliche neue Wahrheit enthält – denke an Deine Schwester und nimm Dich in Acht, Kind!«

Damit ging sie hinaus, und Käthe sah ihr mit großoffenen Augen nach. Was für eine seltsame, unbräutliche Braut war doch die schöne Schwester! –

Im Hause des Kommerzienrates

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