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Nahe der westlichen Grenze des Parkes lagen die Überreste des ehemaligen alten Herrenhauses Baumgarten. Von dem ganzen einst wohlbefestigten und mit Wassergräben umgebenen Ritterschlosse stand nur noch ein Zimmerturm von bedeutenden Dimensionen, an den sich der geschwärzte Mauerrest eines Seitenflügels festklammerte. Vor sechzig Jahren war der Bau niedergerissen worden. Der damalige Besitzer, meist im Auslande lebend, hatte das Herrenhaus im modernen Stil, als Villa Baumgarten, an das entgegengesetzte Ende des Grundstückes, an die Promenade, verlegt, um bei seinem zeitweiligen Aufenthalt in der Heimat »unter Menschen zu sein«, und die schönbehauenen Granitblöcke des alten Schlosses beim Neubau verwenden lassen. Den Turm mit seinem Ruinenanhängsel hatte man als Schmuck der Parkanlagen respektiert. Er erhob sich auf einem grünberasten künstlichen Hügel; um seine Basis drängte sich verwildertes Buschwerk; auf dem anstoßenden Mauerstück mit seinem mächtigen Fensterbogen hatten sich Stachelbeersträucher und Heckenrosen eingenistet, und der wilde Hopfen kletterte ihnen nach und streute grüne Ornamente über das dunkle Gestein.

Diese Ruine inmitten eines Wasserringes hatte jedenfalls ihren Zweck als Dekoration erfüllt, aber nach dem damaligen Besitzer war eine praktische nutzenheischende Generation gekommen – sie hatte das Wasser aus dem Graben abgeleitet und in den vortrefflichen Schlammboden Gemüse gepflanzt. Das war nach dem Ausspruche des Schlossmüllers das einzige Vernünftige gewesen, das er bei seinem Ankauf im Parke vorgefunden, und als solches hatte er auch das einträgliche Stückchen Boden sofort zur eigenen Benutzung reklamiert. Käthe war als Kind sehr gern in dem kleinen Tale, wie sie den Graben nannte, umhergewandert. Das himmelschreiende Attentat auf die Romantik und den historischen Nimbus des ehemaligen Wasserschlosses war ihr selbstverständlich damals nicht zum Bewusstsein gekommen; sie war mit Suse stundenlang pflückend durch die Wildnis der Stangenbohnen und jungen Erbsen geschlüpft, ahnungslos, dass bei einem plötzlichen Durchbruche vom Flusse her die Fluten hereinströmen und sie und Suse und die ganze grüne Herrlichkeit verschlingen könnten.

Heute nun, am fünften Tage nach ihrer Ankunft, betrat sie zum ersten Mal wieder diese entlegene Parkpartie und stand wie geblendet. Noch hingen die Hopfenranken blätterlos wie ein fahles Netz um die Mauern, und der Hügelrasen, winterdürr und zerwühlt, zeigte noch keine grüne Halmspitze, aber die Aprilsonne lag breit und glänzend auf dem ruinengekrönten Hügel und hob ihn malerisch von dem Tannenwalde, der im Hintergrunde sich über eine lange Bergwand hindehnte. Nicht eine Spur von frischem Mörtel zeigte die aufbessernde Menschenhand an den Mauern; kein neuer Stein war eingefügt worden, aber es schien auch keiner zu fehlen; nur die mächtigen Fensterhöhlen des Turmes, vor denen früher vermorschte Holzläden gelegen, gähnten weit offen, und es glitzerte so seltsam aus dem Steinrahmen, als webe ein abgesperrter Sonnenstrahl drin im tiefen Dunkel ein geheimnisvolles Goldgespinnst. Und neues liebliches Leben regte sich um den verfallenen Stammsitz Derer von Baumgarten; über der Mauerkrone des Turmes kreisten in graziösem Fluge weiße und bunte Tauben, und aus dem Dickicht, unter der uralten Nussbaumgruppe hervor, die den Turm nach Süden hin flankierte, kamen lautlos zwei Rehe und wandelten langsam über den Rasenhang. Das kleine Tal aber war verschwunden. Ein breiter funkelnder Wassergürtel umflutete wieder, wie vor Zeiten, den Hügel, alles, was drunten gegrünt und geblüht und emporgestrebt, nivellierend, als habe die regsame Menschenkraft nie seinen stillen Grund usurpiert gehabt.

Eine Brücke, in Ketten hängend, schwang sich über den Graben, und drüben, vor ihren schmalen Ausgang quer hingestreckt, lag eine riesige Bulldogge; den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, beobachtete sie mit wachsamem Auge das jenseitige Ufer.

»Da siehst Du nun Moritzens Tuskulum, Käthe«, sagte Henriette, die an Käthes Arm hing. »Einst Burgverlies mit den üblichen Marterwerkzeugen und Todesseufzern, vor noch vier Monaten unbestrittener Wohnsitz verschiedener Eulen und Fledermäuse und meiner Tauben, und jetzt Salon, Schlafgemach und sogar Schatzkammer des Herrn Kommerzienrat von Römer. … Gelt, schwarz genug sieht das Ding noch aus, und man meint, der nächste Sturmwind müsse das Mauerstück über den Haufen blasen, aber das alles ist niet- und nagelfest, und gerade dort unter den überhängenden Steinen haust Moritzens Diener – der Mensch wohnt beneidenswert.«

Flora war auch mitgekommen. »Wem’s gefällt!« sagte sie trocken und achselzuckend. »Übrigens eine merkwürdig originelle Idee für einen Krämerkopf – meinst Du nicht, Käthe?« Sie schritt an den Schwestern vorbei über die Brücke. Ein Stoß ihres schönen Fußes scheuchte den Hund aus dem Wege, dann stieg sie den Rasenhang hinauf. Schüchtern flohen die Rehe vor der seidenrauschenden Erscheinung; die Tauben flatterten geängstigt von den unteren Fenstersimsen, und der Hund knurrte widerwillig und ging der herrischen Dame um einige Schritte langsam nach. … Wie sie droben stand, die schlanken Hände auf das Schloss der eisenbeschlagenen Turmpforte gelegt und den Kopf mit dem metallisch funkelnden Blondhaar über die Schulter zurückwendend, im hellgrauen, silberflüssig schimmernden Seidenkleid mit Puffärmeln und seitwärts aufgenommener Schleppe, da war sie das leibhaftige Sagenbild der schönen Kaisertochter im Kyffhäuser.

Unwillkürlich glitt Käthes Blick von ihr weg auf Henriette, die sich dicht an ihre Seite schmiegte, und das Herz tat ihr weh. Die hinfällige Gestalt mit ihren eckigen Linien in dem knappanliegenden Überkleid von glänzenden Farben balancierte förmlich auf übermäßig hohen Absätzen. Sie atmete so kurz und hastig und sah so grellbunt, so kokett und dadurch fast lächerlich aus. Aber sie hatte in den letzten zwei Tagen an häufig wiederkehrenden Erstickungsanfällen gelitten, und sie wollte doch nicht krank sein – die Welt sollte nun einmal nicht wissen, dass sie leide. Sie konnte mitleidigen Blicken oder teilnehmenden Bemerkungen gegenüber so zornig und beißend werden. Und doch hatte sie schwerer als sonst gelitten; denn Doktor Bruck, der sie behandelte und ihr stets Linderung zu verschaffen wusste, war verreist, und zwar wenige Stunden nach seinem neulichen Weggange aus der Villa; er sei von einem Freunde telegraphisch nach L…..g berufen worden und werde mehrere Tage ausbleiben, hatte er seiner Braut in einem kurzen Billett mitgeteilt. Der ärztliche Beistand des Medizinalrat von Bär aber war von der Kranken energisch zurückgewiesen worden – »lieber sterben!« hatte sie, mit ihrer Erstickungsangst kämpfend, geflüstert. Käthe hatte die Schwester fast allein gepflegt und hütete sie seitdem mit zärtlicher Sorgfalt. Jetzt legte sie sanft ihren Arm um die gebrechliche Gestalt und führte sie über die Brücke, nach der Ruine.

Wie oft war sie als Kind den Rasenabhang hinabgelaufen und durch das Gestrüpp gekrochen! Wie oft hatte sie durch das weite Schlüsselloch der Turmpforte gelugt! In den Kellern des Turmes sollte noch Pulver aus dem dreißigjährigen Kriege liegen, und an den Wänden herumhänge »lauter grausiges Zeug«, hatten die Dienstleute gesagt. Aber es war immer rabenschwarze Finsternis drin gewesen, und eine dicke, schwere Luft hatte das lauschende Kindergesicht erschreckend angehaucht; hatten nun gar ein Paar Eulenflügel sich von droben geregt, dann war sie, wie von Furien gejagt, den Hügel hinabgesprungen und hatte sich mit beiden Händen, von Grauen geschüttelt, an Suses Schürze angeklammert. … Jetzt stand sie drin, am Fuße einer teppichbelegten schmalen Wendeltreppe, und bestaunte mit großen Augen die Wunder, die das Geld des reichen Kaufmanns bewirkt. Draußen scheinbar zusammensinkendes Trümmerwerk, und innen ein vollkommenes Ritterheimwesen. Der einst mit den Augen nicht zu durchdringende Raum war ein weites Gewölbe, das mit seinen starken Steinbögen die ganze Last der oberen Stockwerke trug. An den Wänden hing noch »das grausige Zeug«, Helme und Waffen, aber es war geschmackvoll geordnet, und die blanken Flächen sprühten den Sonnenschein zurück, der blendend und ungehindert durch die Fenster fiel. Man hatte, um dem Turme von außen den Charakter der Ruine zu belassen, selbst das Fensterkreuz vermieden und ungebrochene Spiegelscheiben in die dicken Mauern eingesetzt – daher das wunderliche Glitzern tief drinnen. … Der Bau war ein sogenannter Bergfried, in Zeit der höchsten Gefahr ein Zufluchtsort für die Burgbewohner gewesen. Als solcher hatte er damals in seinen oberen Gemächern jedenfalls nur die allerprimitivste Einrichtung enthalten, jetzt aber durfte er sich an Prachtentfaltung getrost mit den ehemaligen, nun längst von der Erde verschwundenen Bankettsälen im Haupthause messen.

Als die beiden Schwestern in das erste Zimmer des oberen Stockwerkes traten, da lehnte Flora bereits, eine glimmende Zigarette in der Rechten, graziös nachlässig zwischen den purpurfarbenen Kissen eines Ruhebettes und sah zu, wie der Kommerzienrat in der silbernen Maschine den Nachmittagskaffee braute. Er hatte die drei Schwägerinnen dazu eingeladen.

»Nun, Käthe?« rief er dem jungen Mädchen entgegen und deutete mit dem ausgestreckten Arme bezeichnend rundum über das Neugeschaffene.

Sie stand auf der Schwelle, einen schwarzen Schleier lose über die goldbraunen Flechten geworfen, hellen, lachenden Auges und so hoch und kraftvoll, als entstamme sie selbst dem alten Reckengeschlechte Derer von Baumgarten.

»Hochromantisch, Moritz! Die Täuschung ist vollkommen«, antwortete sie heiter. »Der da unten« – sie zeigte durch das nächste Fenster hinab auf den flimmernden Wassergürtel – »könnte einen durch seine ernsthafte Verteidigungsmiene erschrecken, wüsste man nicht, dass ein Kommerzienrat des neunzehnten Jahrhunderts dahinter sitzt.«

Er zog die feinen Augenbrauen finster zusammen, und sein Blick streifte unsicher ihr Gesicht – sie bemerkte es nicht. »Hübsch und löblich ist es ganz gewiss nicht gewesen, dass sich Kohl und Rüben früher auf seinem Grunde breit machen durften«, fuhr sie fort; »das weiß ich nun, wenn mich auch das kleine Tal in der Erinnerung anheimelt. Aber ist es nicht ein interessantes, wunderliches Spiel des Wechsels, dass der Kaufmann die Schranken erneut, die das alte Rittergeschlecht zuletzt selbst missachtet und als überflüssig entfernt hat?«

»Vergiss nicht, meine liebe Käthe, dass ich nunmehr der Ritterschaft selbst angehöre!« versetzte er gereizt und in sehr pikiertem Ton. »Traurig genug, dass sich die alten Geschlechter dem Zeitgeist anbequemt und ehrwürdige Institutionen achtlos aufgegeben – nicht ein Jota durften sie fallen lassen. Es ist ein unverantwortlicher Raub an uns, die wir die Nachfolgenden sind.«

»Schwachkopf! Er ist katholischer als der Papst«, murmelte Henriette ergrimmt; sie schritt tiefer ins Zimmer, während Käthe mechanisch die Tür hinter sich fester zuzog, ohne den halb erschrockenen, halb nachdenklichen Blick von dem sichtlich erregten Manne am Kredenztisch wegzuwenden. Sie hatte ihn als Kind gerngehabt, wie alle Menschen, die mit ihm verkehrten. Früh verwaist, aus einer braven Handwerkerfamilie stammend, von bestechend schönem Äußern und einschmeichelndem Wesen, war er in das Geschäft des Bankier Mangold als Lehrling gekommen und schließlich dessen Schwiegersohn geworden. Käthe wusste, dass er ihre Schwester Clotilde bis zu deren frühem Tod auf den Händen getragen; sie hatte ihn immer nur fügsam bis zur Unterwürfigkeit ihrem Vater gegenübergesehen, auch war er stets gleichmäßig freundlich und hilfreich selbst gegen die untersten Dienstleute des Hauses gewesen – und jetzt schwebte um den schön geschwungenen Männermund dort ein scharf ausgeprägter Zug von widerwärtigem Hochmut. Der Seilersohn stieß verächtlich die Leiter um, auf der er emporgeklommen; sein Glücksrausch blendete ihn dergestalt, dass er in den Jargon der eingefleischtesten Krautjunker verfiel.

Henriette hatte sich auf einen niedrigen, polsterbelegten Schemel gekauert, und die Arme um die Knie legend, sagte sie beißend: »Liebster Moritz, ich bitte Dich, tue nicht so entsetzlich herausfordernd! Es könnte irgendeine alte Ahnfrau drüber aufwachen und sehen, wie der tapfere Nachfolger und Burgherr Kaffee kocht, und das züchtige Burgfräulein bequem dort liegt und Zigaretten raucht – na, die würde Augen machen!«

Flora veränderte ihre Stellung nicht um eine Linie; sie nahm nur langsam die Zigarre aus dem spöttisch lächelnden Munde. »Geniert es Dich, Schätzchen?« fragte sie in verstellt phlegmatischem Ton und stäubte mit dem Ringfinger die Asche ab.

»Mich?« – Henriette lachte hart auf. »Du weißt, dass ich mich durch Dein genialisches Tun und Treiben nicht genieren lasse – die Welt ist weit, Flora; man kann sich aus dem Wege gehen und –«

»Pst, nicht so bissig, Kleine! Ich fragte aus purem Mitleid, weil Du brustkrank bist.«

Ein fliegendes Rot erschien und verschwand in jähem Wechsel auf den schmalen Wangen der Kranken, und in ihren Augen funkelten Tränen – sie bezwang sich mühsam. »Danke schön, aber sorge Du zuerst für Dich selber, Flora! Ich weiß, es zuckt Dir in allen Fingern, das qualmende Ding da zum Fenster hinauszuwerfen, denn es beräuchert Deine Perlenzähne wie Meerschaum und jagt Dir einen Schauder des Abscheues nach dem anderen über die Haut – trotz alledem diese heroische Selbstüberwindung! Aus Emanzipationssucht? Bah, Du hast zu viel guten Geschmack, Flora, um zu den allerordinärsten Requisiten des Blaustrumpfes zu greifen; auch bringst Du dieser Neigung, die ja schließlich doch nur auf öffentliche Verherrlichung ausgeht, kein Opfer, das verhässlicht –«

»Schau, was sie für eine hohe Meinung von mir hat, die liebe Seele!« sagte Flora, unter ironischem Auflachen den Kopf schüttelnd, zu dem Kommerzienrat.

»Du übst Dich im Rauchen und wirst das vielleicht drei bis vier Wochen konsequent durchführen«, fuhr Henriette unbeirrt, aber mit sichtlicher Erbitterung fort; »weil es Leute gibt, die den Tabaksrauch im Frauenmunde verabscheuen wie Pesthauch. Du suchst Händel, willst erzürnen, es ist der letzte Hebel, den Du ansetzest –«

Flora richtete sich aus ihrer halbliegenden Stellung auf. »Nun, und wenn, mein Fräulein?« fragte sie stolz zurückweisend. »Ist es nicht meine Sache, ob ich gefallen oder abstoßen will?«

»Weit entfernt! In Deinem Falle bleibt Dir nur noch die Aufgabe, zu beglücken«, brauste Henriette empört auf.

»Lächerlich! Trage ich hier vielleicht den Ehering?« – Sie zeigte auf den elfenbeinweißen Goldfinger der Rechten. »Gott sei Dank, nein! … Übrigens hast Du am allerwenigsten Ursache, Dich zu echauffieren und eine Lanze einzulegen – Du bist krank, armes Ding, und mehr als je auf Deinen Arzt angewiesen, aber er zieht es vor, eine Vergnügungsreise zu machen und auf die unmotivierteste Weise wochenlang fortzubleiben.«

Jetzt mischte sich auch der Kommerzienrat in den Wortwechsel der erbitterten Schwestern. »Unmotiviert, Flora, weil er Dir den Grund seiner Reise nicht des Langen und Breiten mitgeteilt hat?« rief er ärgerlich. »Bruck spricht nie über seinen Beruf und die damit verknüpften Vorkommnisse, das weißt Du. Er ist ohne Zweifel an ein Krankenbett gerufen worden –«

»Nach L…..g, wo man berühmte Universitätsprofessoren haben kann? Ha, ha, ha! Eine kostbare Idee! Mache Dich doch nicht lächerlich mit dergleichen Illusionen, Moritz! Übrigens ist das ein Punkt, über den ich grundsätzlich nicht mehr mit Euch streite – basta!« Sie streckte ihre Rechte nach der Kaffeetasse aus und schlürfte den köstlich duftenden Trank. Henriette aber schob grollend die gebotene Labung zurück; sie stand auf und trat an die Glastür, die auf die anstoßende Ruine hinausführte. Das Mauerstück war der Rest einer Kolonnade, die einst von dem ersten Stockwerk des Haupthauses in den Turm geführt hatte; die zwei schön gewölbten, auf schlanken Säulchen ruhenden Bögen bildeten jetzt eine Art Söller mit prachtvoller Fernsicht.

Henriette riss den Türflügel auf, und die krampfhaft geballten Hände gegen die Brust drückend, sog sie angstvoll gierig die frische Luft ein, aber eine augenblickliche Erstickungsnot machte sich doch geltend. Käthe und der Kommerzienrat eilten, die Leidende zu unterstützen; auch Flora erhob sich. Sie warf unwillig die Zigarre in den Aschenbecher. »Nun werden wohl die harmlosen Dampfwölkchen schuld sein müssen an dem Anfall«, sagte sie geärgert, »aber ich weiß es besser. Du gehörtest von Rechtswegen ins Bett, Henriette, und nicht in die trockene Frühlingsluft hinaus, die für Leute Deines Schlages wahres Gift ist – ich habe Dich gleich gewarnt, aber Du hast ja nie Ohren für einen wohlgemeinten Rat und möchtest einem am liebsten weismachen, Du strotzest von Gesundheit wie Posaunenengel. Ebenso obstinat bist Du bezüglich der ärztlichen Hilfe –«

»Weil ich meine kranke Lunge nicht dem ersten besten Giftmischer anvertraue«, ergänzte Henriette in mattem, aber sehr entschiedenem Tone.

»O weh, das geht meinem armen, alten Medizinalrate an die Ehre«, rief Flora lächelnd. Sie zog die Schultern empor. »Immerhin, Kind, wenn es Dir Vergnügen macht! Ich kann ja auch nicht wissen, wie er seine Mixturen mischt, soviel aber darf ich behaupten, dass er noch nie einem Patienten ungeschickter Weise nahezu – den Hals abgeschnitten hat.«

Der Kommerzienrat fuhr mit bleichem Gesichte herum und hob unwillkürlich die Hand, als wolle er sie auf den impertinenten, lästernden Frauenmund pressen; er schien sprachlos – sein Blick streifte scheu Käthes Gesicht.

»Du Herzlose!« stieß Henriette hervor.

»Herzlos bin ich nicht, aber unerschrocken genug, böse Dinge beim Namen zu nennen, selbst wenn die harten Worte auf eigene Wunden zurückschlagen sollten. Wo bliebe dann auch das Verdienst der strengen Wahrhaftigkeit? … Denke an jenen schlimmen Abend und frage Dich, wer Recht behalten hat! Ich wusste, dass ein tiefer Sturz aus den Höhen fälschlich erträumter Berühmtheit erfolgen musste – er ist erfolgt, zermalmender, rettungsloser, als ich selbst gefürchtet, oder wollt Ihr auch die einstimmige Verurteilung von Seiten des Publikums wegdisputieren? Dass ich aber nicht mit stürzen will, wird jeder begreifen, der mich kennt. … Ich kann nicht beschönigen und vertuschen, wie es z. B. die Großmama aus dem Fundament versteht; ich will es auch gar nicht. Keine Rolle ist lächerlicher als die jener ahnungslosen Frauenseelen, die da noch öffentlich anbeten, wo, wie die Welt sich zuzischelt, längst nichts mehr zu verehren ist.«

Sie schlug auch den andern Türflügel zurück und trat hinaus auf den Söller. Sie hatte in leidenschaftlicher Steigerung gesprochen; der bleiche Marmorton ihres vom blauen Frühlingshimmel sich scharf abhebenden Römergesichts belebte sich unheimlich; mit den flimmernden Augen voll abweisender Verachtung, mit den nervös bebenden Nasenflügeln war sie die personifizierte brennende Ungeduld.

»Übrigens hat es ja in seiner Hand gelegen, mich zu bekehren – wie hätte ich ihn dann verteidigen wollen mit Mund und Feder!« fuhr sie fort, während sich ihre feinen Finger in das rasselnde Geflecht verdorrter Schlingpflanzen verstrickten. »Aber er hat es vorgezogen, auf meine erste und einzige dahinzielende Frage stolz wie ein Spanier mit einem Eisesblicke zu antworten –«

»Diese Antwort sollte Dir genug sein –«

»Ganz und gar nicht, mein lieber Moritz; ich finde sie sehr bequem und wohlfeil, und in Bezug auf sprechende Blicke und Gesten bin ich skeptisch – ich verlange mehr. … Aber ich will Dir zeigen, dass mir der gute Wille nicht fehlt, indem ich Dir hiermit noch einmal wiederhole, was ich gleich zu Anfang verlangt habe: Beweise mir und der Welt, dass er seine Schuldigkeit getan hat, denn Du warst Zeuge!«

Er trat rasch von der Türschwelle zurück und legte die Hand schützend über die Augen – das Sonnenlicht, das den Balkon grell überströmte, belästigte ihn unerträglich. »Du weißt allzu gut, dass ich das nicht in der Weise kann, wie Du es forderst – ich bin kein Mediziner«, versetzte er mit tief herabgedrückter Stimme; sie verlor sich fast in einer Art von Murmeln.

»Kein Wort mehr, Moritz!« rief Henriette. An ihrem Körper bebte jede Fiber. »Mit jedem Verteidigungsversuch gibst Du zu, dass diese edle Braut einen Anschein von Berechtigung für sich hat, feig und wankelmütig zu sein.« Ihre großen Augen, in denen das innere Fieber aufglühte, richteten sich hasserfüllt auf das schöne Gesicht der Schwester. »Im Grunde kann man nur wünschen, dass Deine grausamen Manöver möglichst rasch zum Ziele führen möchten, das heißt – sei es endlich einmal in dürren Worten ausgesprochen – dass er in Folge Deiner sichtlichen Entfremdung freiwillig das  Verhältnis lösen hilft; denn er verliert wahrlich nichts an Deiner kalten Seele, die sich nur an äußere Erfolge klammert, aber er liebt Dich und wird weit eher mit vollem Bewusstsein in eine unglückliche Ehe gehen, als sich von Dir trennen – das beweist sein ganzes Verhalten –«

»Leider«, warf Flora über die Schulter herüber ein.

»Und aus dem Grunde werde ich zu ihm stehen und Deine Machinationen vereiteln, wo ich kann«, vollendete Henriette mit zuckenden Lippen und gesteigerter Stimme.

Der mitleidige Seitenblick, mit welchem Flora das tieferregte gebrechliche Mädchen langsam maß, funkelte förmlich in grausamem Spott, aber es war auch, als käme ihr bei dieser Musterung eine überraschende Erkenntnis; sie legte plötzlich den rechten Arm um Henriettens Schultern, zog die Widerstrebende an sich heran und flüsterte ihr mit einem sardonischen Lächeln ins Ohr: »Beglücke Du ihn doch, Kleine! Ich werde ganz gewiss keinen Einspruch erheben – davor bist Du sicher.«

Bis zu welchem frevelhaften Übermute konnte sich doch solch eine eitle Frauenseele versteigen, die sich gefeiert und heiß begehrt wusste! Käthe stand nahe genug, um das Gezischel zu verstehen, und so passiv sie sich auch bisher verhalten, jetzt sprühte ein ehrlicher Zorn aus ihren Augen.

Flora fing den Blick auf. »Schau, was das Mädchen für ein Paar Augen machen kann! Verstehst Du denn keinen Spaß, Käthe?« sagte sie halb amüsiert, halb betroffen. »Ich tue Deinem verhätschelten Pflegling nichts, obschon ich das gute Recht hätte, Henriettens kleine Bosheiten endlich einmal derb abzufertigen. … Diese zwei Menschen«, sie zeigte auf den Kommerzienrat und Henriette, »bilden sich ein, über meine Sitten wachen zu müssen, und Du Jüngstes, eben aus dem Pensionsnest geschlüpft, Häkel- und Stricktouren und ein paar französische Brocken im Kopfe, hältst sofort zu ihnen und machst Fronte gegen mich – Närrchen, meinst Du wirklich ein Urteil über Deine Schwester Flora zu haben?« Sie lachte belustigt auf und streckte die Hand gegen einen der Nussbäume aus, von welchem eben eine Taube emporflog; der blendendweiße Vogel stieg hoch in den flimmernden Himmel hinein. »Siehst Du, Kleine, eben noch hockte sie neben den anderen auf dem Aste dort, und die anderen waren Ihresgleichen – und jetzt werfen ihre ausgebreiteten Flügel förmlich Silberfunken, und in der einsamen blauen Höhe wird sie eine selbstständige stolze Erscheinung für die Menschenaugen drunten. Vielleicht lernst Du dermaleinst verstehen, auf welche feurige, dürstende Menschenseele das Bild passt. Apropos, Moritz«, unterbrach sie sich lebhaft und winkte den Kommerzienrat zu sich heraus auf den Söller, »dort hinter dem Gehölze muss ja wohl Brucks Akquisition, das alte Wirtschaftsgebäude, liegen – ich sehe starken Rauch über den Bäumen –«

»Aus dem einfachen Grunde, weil Feuer auf dem Herde brennt«, versetzte lächelnd der Kommerzienrat; »die Tante Diakonus zieht seit gestern ein.«

»In das verwahrloste Nest, wie es ist?«

»Wie es ist. Übrigens war der Schlossmüller ein viel zu guter Wirt, um seine Gebäulichkeiten verfallen zu lassen; in dem Hause fehlt kein Nagel, kein Ziegel auf dem Dache.«

»Nun, Glück zu! Im Grunde ist die Sache so übel nicht. Die vorweltlichen Ausstattungsmöbel der Tante und das Bild des seligen Diakonus passen an die Wände. Platz genug für die Einmachbüchsen und das Backobst wird ja auch da sein, und das Scheuerwasser fließt direkt und unerschöpflich am Hause vorbei.« Sie affektierte einen leichten Nervenschauer und nahm wie unwillkürlich den reichgarnierten Kleidersaum auf, als fühle sie sich plötzlich auf einen frischgescheuerten Dielenboden versetzt. »Es wird gut sein, die Türen zu schließen«, sagte sie rasch in das Zimmer zurücktretend; »der Wind trägt den Rauch und Dampf herüber. Puh –« ihre feinen Nasenflügel vibrierten; sie fuhr mit dem Taschentuche durch die Luft – »ich glaube wahrhaftig, die gute Frau bäckt ihre unvermeidlichen Pfannenkuchen, noch ehe sie einen Stuhl zum Niedersitzen im Hause hat – sie kann nun einmal das Schmoren und Backen nicht lassen.« Damit schlug sie die Türflügel zusammen.

Währenddem hatte Henriette still das Zimmer verlassen. Bei Floras Geflüster war sie in jähem Aufschrecken emporgefahren wie jemand, der sich, plötzlich erwachend, vor einem tiefen Abgrunde findet. Seitdem hatte sie kein Wort mehr gesprochen, und nun war sie hinaufgestiegen in das oberste Gelass des Turmes, wo die Tauben und Dohlen nisteten. Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme – sie wusste, dass die Kranke stets allein sein wollte, wenn sie sich stillschweigend aus dem Kreise der anderen entfernte – das Turmzimmer aber mit den dicken Wänden, der erdrückenden Pracht und der gebieterisch auf- und abrauschenden, kapriziösen Schwester erschien ihr beklemmend unheimlich; war es doch, als fliege der Zündstoff zu Streit und Reibereien unausgesetzt durch die Luft, in der Flora atmete. Das junge Mädchen beschloss deshalb, rasch einen Gang zu Suse zu machen.

»Nun meinetwegen, da gehe in Deine Mühle«, rief der Kommerzienrat ärgerlich, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie zurückzuhalten, »aber erst sieh’ hierher!« Er zog seitwärts an einem schweren Gobelinbehange – dahinter, in einer tiefen Mauernische, stand ein neuer Geldschrank. »Der gehört Dir, Du Gebenedeite; das ist Dein ›Bäumlein rüttle Dich, wirf Gold und Silber über mich!‹« sagte er, und seine Hand glitt förmlich liebkosend über das kalte Metall. »Alles, was Dein Großvater an Haus und Hof, an Wald und Feld besessen hat, da drin liegt es, in Papier verwandelt. Diese Papiere arbeiten bienenfleißig Tag und Nacht für Dich. Sie ziehen unglaubliche Geldströme aus der Welt in diesen stillen Winkel. … Der Schlossmüller hat seine Zeit wohl begriffen – das beweist sein Testament; aber wie fabelhaft seine Hinterlassenschaft in der Form anwachsen wird, das hat er schwerlich geahnt.«

»Sonach bist Du auf dem besten Wege, die erste Partie im Lande zu werden, Käthe – kannst wie im Märchen zu Deinem Hochzeitsmahl den Speisesaal mit harten Talern pflastern lassen«, rief Flora herüber; sie lehnte wieder zwischen den Polstern des Ruhebettes und hatte ein Buch in die Hand genommen. »Schade um das Geld! Schau, Du musst nicht böse sein, Kind, aber ich fürchte, Du bist moralisch allzu viel gedrillt worden, um mit Geist Deinen Goldregen vor der Welt funkeln zu lassen.«

»Das wollen wir abwarten«, lachte das junge Mädchen. »Einstweilen habe ich noch kein Recht, eigenmächtig auch nur einen Taler da herauszunehmen«, sie zeigte auf den Schrank; »aber in Bezug auf die Schlossmühle möchte ich, wenn auch nur für einen Tag, majorenn sein, Moritz.«

»Ist sie Dir unbequem, schöne Müllerin?«

»Meine Mühle? So wenig unbequem wie mein junges Leben, Moritz. Aber ich war gestern im Mühlengarten – er ist so groß, dass Franz die an die Chaussee stoßende Hälfte aus Mangel an Zeit und pflegenden Händen vernachlässigen muss. Er will Dir den Vorschlag machen, das Stück zu verkaufen; es gäbe prächtige Bauplätze zu Villen und würde gut bezahlt werden, meint er, ich aber finde, dass die Landhäuser ganz gut auch wo anders stehen können, und möchte das Grundstück lieber Deinen Leuten geben, die gern in der Nähe der Spinnerei bauen wollen.«

»Ach – verschenken, Käthe?«

»Fällt mir nicht ein. Du brauchst gar nicht so spöttisch mitleidig zu lächeln, Moritz. Ich werde mich wohl in der Villa Baumgarten mit ›Sentimentalität und Überspanntheit‹ blamieren! … Übrigens wollen ja die Leute auch gar kein Geschenk oder Almosen, wie Doktor Bruck sagt –«

»Ei, ›wie Doktor Bruck sagt‹? Ist der auch schon Dein Orakel?« rief Flora, aus den Kissen emporschnellend – sie fixierte über das Buch hinweg scharf, mit einem rätselhaft wechselnden Ausdrucke das Gesicht der Schwester; es errötete allerdings für einen Augenblick tiefer, aber die Augen erwiderten den blinzelnden Blick fest, mit kaltem Ernste. »Ich weiß auch, welchen Wert das Selbsterworbene hat – was ich mir selbst erringen kann, ziehe ich dem bestgemeinten Geschenke weit vor«, fuhr sie fort, ohne auf Floras Einwurf zu antworten; »und schon aus dem Grunde sollen die Leute zahlen, genau das zahlen, was sie für Deinen Grund und Boden geben wollten.«

»Da machst Du ja brillante Geschäfte, Käthe«, lachte der Kommerzienrat. »Mein steriles Stück Uferland wäre schon mit der Summe, die darauf geboten worden ist, schlecht genug bezahlt gewesen – nun gar der prächtige Gartenboden neben der Mühle! … Nein, Kind, so gern ich auch möchte –  mein vormundschaftliches Gewissen gestattet mir nicht, Dich auch nur für eine Stunde majorenn sein zu lassen.«

»Nun, da mögen sich die Baulustigen einstweilen behelfen, wie sie können«, sagte sie weder überrascht, noch ärgerlich. »Ich weiß, ich werde in drei Jahren darüber noch genau so denken, wie heute, dann aber kann es sich schon ereignen, dass ich auch noch den dummen Streich mache, den Leuten das Baugeld ohne Prozente vorzustrecken.«

Sie grüßte ruhig lächelnd und ging hinaus.

Im Hause des Kommerzienrates

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