Читать книгу Leo - Wismeldas Rache - Eva Haring-Kappel - Страница 11
2. Kapitel
ОглавлениеIn meiner alten Schule hatte es auch so einen Jungen wie Franz gegeben. Er hieß Herbert und war eine Klasse über mir. Auch er war viel größer und stärker gewesen und ich war ihm immer ausgewichen. Er hatte mich wahrscheinlich gar nie bemerkt, so unauffällig gab ich mich. Aber einigen anderen Kindern nahm er das Jausengeld und ihre Handys weg, wer sich weigerte, das Geld herauszurücken, der bekam die Nase blutig geschlagen. Die ganze Schule hatte Angst vor ihm und eines Tages kam die Polizei, denn er hatte, so hieß es, auch noch andere schlimme Dinge gemacht. Dann wurde er in ein Erziehungsheim gesteckt. Ich und viele andere waren sehr froh darüber. Aber mein Papa sagte, er fände das gar nicht gut, denn bestimmt gäbe es einen Grund für das Verhalten von Herbert und er bräuchte sicher viel mehr Unterstützung, als er in dem Heim bekäme. Es sei meist ein Hilferuf, wenn jemand solche Dinge täte.
Ich habe das damals nicht ganz verstanden, aber jetzt fiel mir das wieder ein. Ob das bei Franz auch so war? Brauchte er unsere Hilfe? Nein, das konnte nicht sein, ich hatte keine Lust, mir vorzustellen, Franz helfen zu müssen. Am liebsten wäre es mir gewesen, ich könnte mich für ihn unsichtbar machen. Wenn sogar Georg sich lieber zurückhält, um Streit zu vermeiden, dann sagt das eigentlich schon alles. Normalerweise versucht Georg, jeden zu provozieren. Aber er ficht seine Schlachten mit Worten aus. Er ist sehr redegewandt und das kann ganz leicht zu einem Streitgespräch mit ihm führen. Aber Georg würde niemandem etwas zuleide tun und er unterscheidet sehr genau zwischen Recht und Unrecht.
Wenn er mit jemandem ein Wortgefecht austrägt, dann nur, weil es derjenige verdient hat. Seine Fäuste lässt er dabei in der Hosentasche, obwohl ich glaube, er könnte, wenn er wollte, denn er ist recht groß und stark.
So zitterte ich der nächsten Pause entgegen und dachte insgeheim, es wäre viel schöner, wieder in meiner alten Schule zu sein, auch wenn ich dort auf meine Freunde hätte verzichten müssen. Hier war ich offenbar ganz unverschuldet sofort in den Fokus des rauflustigsten Jungen der ganzen Schule geraten.
Frau Kleinschuster erzählte und erzählte und ich hörte nicht zu. Es ging wohl um die Klassenlehrereinteilung und den Stundenplan der ersten Woche. Aber mein Herz pochte wie wild, weil ich mir stattdessen ausmalte, was dieser Franz alles anstellen würde, um mich zu piesacken, und auch für Leo würde es meiner Meinung nach nicht gut ausgehen können. Schließlich war sie jetzt ein Mensch und hatte ihre Zauberkräfte, die sie als Elfe irgendwann einmal besessen hatte, verloren. Das war ihr aber anscheinend gar nicht richtig bewusst.
Als es zur zweiten Pause läutete und Frau Kleinschuster eilig zur Klassentür hinauslief, machte mein Herz einen richtigen Plumps, bevor es wieder wie wild zu pochen begann. Ich saß auf meinem Platz mit gesenktem Kopf und starrte auf den Tisch vor mir, der etliche Kratzer und Scharten aufwies, die ich nun aufs Genaueste betrachtete, nur um mich ein wenig abzulenken. Da war ein großes, sehr krakeliges L eingeritzt und daneben ein Smiley. Außerdem stand da: Franz ist ein Depp.
Ich erstarrte, stand da wirklich Franz ist ein Depp? Die Schrift verschwamm vor meinen Augen und ich las nun: Sei nicht so ein Angsthase, Felix! Alles wird gut.
Ich rieb mir die Augen und schaute zu Leo, doch die saß gar nicht mehr neben mir. Als ich voller Verwirrung wieder auf die Tischplatte vor mir starrte, entdeckte ich nur Kratzer, Schrammen und das große L. Aber ich hatte keine Zeit, mich weiterhin zu wundern, denn Georg, Wendel und Benni tauchten jetzt neben mir auf. „Da kommt er“, raunte Georg mir zu und wirklich, der Franz war direkt auf dem Weg zu uns.
Ich beobachtete die gespannten Blicke der anderen, die das Geschehen rund um die Neuen mit unverhohlenem Interesse verfolgten.
„Wohin hat sie sich denn verkrochen, deine schlaue Freundin?“, richtete Franz prompt das Wort an mich.
Ich zuckte mit den Schultern, denn meine Stimme versagte ihren Dienst.
„Mach dir nicht in die Hose vor Angst, du hast mich doch noch gar nicht von meiner schrecklichen Seite kennengelernt, aber das kommt noch, keine Sorge“, prahlte Franz.
Ich nickte verzweifelt, und obwohl meine drei Freunde um mich herumstanden, fühlte ich mich kein bisschen sicherer.
Das gab Franz so richtig Auftrieb. „Warte nur, nach der letzten Stunde kannst du mit meinen Fäusten Kontakt aufnehmen“, behauptete er großspurig.
Jetzt platzte Georg der Kragen. „Da haben wir auch noch ein Wörtchen mitzureden, vier gegen einen ist zwar unfair und eigentlich nicht mein Stil, aber wenn du Felix und Leo nicht in Ruhe lässt, bleibt uns keine Wahl.“
„Ich nehm es mit euch allen auf.“ Franz hielt Georg seine Rechte unter die Nase. „Die da bedeutet Friedhof und die da“, jetzt zeigte er seine linke Faust, „Krankenhaus. Ihr könnt es euch aussuchen.“
„Ja, du bist wirklich stark und wunderbar, wir zittern vor Angst und im Zuge der Gleichberechtigung von Männern und Frauen machst du sicher mit deinen Fäusten auch vor einem Mädchen nicht halt, oder?“
Wo war Leo denn so plötzlich hergekommen?
Franz zögerte kurz, möglicherweise hatte er doch ein paar Skrupel gegenüber einem Mädchen, als er aber in Leonores freches Gesicht sah und ihren herausfordernden Blick bemerkte, waren seine Zweifel wie weggeblasen.
Auch diesmal beendete das Läuten die Streiterei und Frau Kleinschusters Auftauchen löste die kleine Versammlung rund um mich und Leo herum wieder auf.
Der erste Schultag nach den Ferien ist ja immer recht kurz, denn wir Schüler können uns nur langsam wieder an die Regeln und das Stillsitzen, die der Schulalltag mit sich bringt, gewöhnen. Daher war dies nun die letzte Stunde für diesen Tag und ihr könnt euch bestimmt denken, dass ich auch von dieser nicht viel mitbekommen habe, weil mir das sprichwörtliche Grauen im Nacken saß. Als dann zum letzten Mal an diesem Schultag die Glocke bimmelte, krampfte sich mein Magen zusammen, mir war richtig schlecht. Wie sollte ich das Folgende bloß überstehen?
„Du bist käsebleich“, stellte Leo neben mir fest.
Langsam verließen wir die Klasse, dicht gefolgt von Georg, Wendel und Benni. Als wir durch das Schultor ins Freie traten, gesellte sich auch Anna zu uns, Leo war in der zweiten Pause kurz bei ihr gewesen und hatte ihr von der Aktion, die Franz zuvor geliefert hatte, erzählt, so wusste sie schon Bescheid. Franz und sein Kumpan Jo waren vorerst nirgends zu sehen.
„Gemeinsam sind wir stark“, machte mir Georg Mut. „Wir gehen jetzt einfach mal los, so als wäre nichts, und dann werden wir weitersehen“, bestimmte er.
Zusammen verließen wir also den Schulhof und marschierten in Richtung Dorf. An der unübersichtlichsten Stelle, der Wegbiegung bei der Kirche, die auf einer kleinen Anhöhe thront, lauerten Franz und Jo. Wir hatten sie zuerst nicht gesehen, weil rund um den Friedhof, der hinter der Kirche liegt und von einer hohen Mauer umgeben ist, viele Bäume gepflanzt sind und die beiden sich dort verborgen hatten. Nun sprangen sie hervor wie Kistenteufel und schrien, was das Zeug hielt.
„Stehen geblieben, ihr müsst Weggeld zahlen, sonst gibt es kein Weiterkommen! Wer nicht zahlt, wird vermöbelt!“, brüllte Franz und Jo grinste boshaft.
„Das ist jetzt aber nicht euer Ernst, ihr wollt wirklich zu zweit gegen uns sechs antreten?“, rief Georg.
„Vier, wenn’s hoch hergeht, die Mädchen zählen nicht“, erwiderte Franz, Jo nickte bestätigend und tippte auf seinem Mobiltelefon herum.
Wendel, Benni und ich kramten schon in unseren Taschen nach etwas Geld, das wir diesen Räubern geben wollten, nur um unsere Ruhe zu haben und hier wegzukommen. Nicht so Georg, er pflegte wieder einmal die Tradition der geschliffenen Rede.
„Vom Standpunkt der Logik ist euer Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Anna und Leo nicht in eure fragwürdige Berechnung mit einzubeziehen, weil sie Mädchen sind, ist nicht nur menschlich ein Fehler, sondern auch strategisch.“
„Hä? Was soll die Klugscheißerei? Du hörst dich selbst so gerne reden, Georg, weißt du, das nervt ungeheuer! Lassen wir doch stattdessen unsere Fäuste sprechen, das ist viel mehr nach meinem Geschmack.“ Mit diesen Worten machte Franz einige schnelle Schritte nach vorne, holte mit der Rechten aus und traf ... ins Leere, denn Georg war geschickt ausgewichen.
Franz ließ sich jedoch nicht verdrießen und holte erneut aus, diesmal war Georg nicht schnell genug, der Schlag traf ihn seitlich, oberhalb der Magengrube. Er keuchte erschrocken auf, um sich anschließend vor Schmerz zusammenzukrümmen. Wir anderen waren bis jetzt starr vor Schreck dumm herumgestanden und hatten uns nicht gerührt, aber nun kam Bewegung in unsere Beine, die scheinbar ein Eigenleben entwickelt hatten, und Benni, Wendel und ich rannten los. Wir dachten in diesem Augenblick nicht daran, wie feige das war, wie unfair und wie blöd. Es war einfach der Fluchtinstinkt, der uns loslaufen ließ. Erst als Prinz Edmund hinter der Friedhofsmauer hervortrottete und uns, wie ich fand, sehr vorwurfsvoll anblickte, wurde mir und meinen beiden Freunden bewusst, was zu tun wir da gerade im Begriff waren.
Peinlich berührt blieben wir stehen. Der riesige schwarze Hund kam auf mich zu, hob seinen dicken, schweren Kopf und schnaubte in mein Ohr. Ich könnte schwören, es klang wie: „Schäm dich!“
Wir machten auf dem Absatz kehrt und kamen keine Minute zu früh zurück. Der Kampf war in der Zwischenzeit weitergegangen, Georg lag am Boden, hielt sich den Bauch und heulte, Jo hielt Anna fest, indem er ihre Arme auf dem Rücken fixierte, und Leo und Franz führten ... ja, was war das eigentlich, was die beiden da aufführten? Es sah aus wie ein Volkstanz. Franz stellte das rechte Bein vor, Leo das linke, dann holte Franz aus und Leo duckte sich. Franz stellte das linke Bein vor und holte aus, Leo schob ihr rechtes Bein nach vorn und duckte sich von Neuem. Und so umtänzelten sich die beiden, ohne dass Franz einen Schlag landen konnte. Deshalb war er ziemlich wütend.
Leo hingegen lachte fröhlich und rief: „Fang mich doch, wenn du kannst, aber dafür musst du anscheinend noch üben.“
Anna fauchte Jo an: „Aua, du tust mir weh, lass mich los, damit ich dir eine scheuern kann!“ Aber ihr Aufpasser lachte nur und rührte sich nicht.
Sie alle waren dermaßen abgelenkt, dass niemand uns kommen sah. Ich lief zu Georg und half ihm auf, Wendel und Benni packten Jo, sodass er Anna loslassen musste, die sich sofort lautstark beschwerte.
„Na, das wurde aber auch Zeit! Ihr rennt einfach weg, hallo, geht’s noch?“
Aber das Beste war, dass Franz, der immer noch verbissen versuchte, Leo zu verprügeln, zur Salzsäule erstarrte, als Prinz Edmund auf ihn zukam. Es gibt Menschen, die hatten noch nie ein Haustier oder sie mögen einfach keine Tiere. Sie haben Angst vor Hunden, Katzen, Pferden, Mäusen, Vögeln, allem, was läuft, fliegt, bellt, miaut und knurrt. Franz war offenbar so jemand. Er kannte Prinz Edmund nicht, hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen und ich muss zugeben, wenn man nicht weiß, wie lieb er ist, kommt er ganz schön Furcht einflößend rüber.
Die große schwarze Dogge stand einfach nur da und schaute Franz an, ruhig und lange, seine Lefzen zitterten möglicherweise ein bisschen, vielleicht sah man seine großen, spitzen Reißzähne für einen kurzen Moment, vielleicht knurrte er ein wenig, was es auch war, es ging unheimlich schnell und zeigte Wirkung.
Franz und Jo gaben Fersengeld. Sie sprinteten den Kirchhang hinunter, über die Fußballwiese auf den Wald zu und hinter ihnen lief langsam und majestätisch Prinz Edmund. Es war ein wunderbarer Anblick.
***
Gwendolyn saß am Ufer des Baches und hielt ihre Hand ins Wasser. Ein Fisch schwamm neugierig heran, und erst als die Elfe ihre Finger bewegte, tauchte er ab und versteckte sich unter einem Stein.
Rainer, der kleine Fuchs und Gwendolyns bester Freund, saß neben ihr und beobachtete die Szene. Eigentlich hatte er nach diesem Manöver des Fisches mit dem hellen Lachen seiner Freundin gerechnet, aber die Elfe schwieg und blickte ernst und gedankenverloren ins Wasser, so als hätte sie den Fisch gar nicht bemerkt. Zart stupste der Fuchs sie mit seiner Nase an. Als darauf keine Reaktion erfolgte, versuchte er es ein zweites Mal, nun ein wenig fester. Auch das schien Gwendolyn nicht zu bemerken. Rainer nahm einen kleinen Anlauf, und gerade als er zum Sprung ansetzte, erhob sich das Elfenmädchen. Der Fuchs konnte nicht mehr bremsen und landete mit einem lauten Platsch im Wasser. Prustend, spuckend und völlig durchnässt krabbelte er zurück ans Ufer.
„Was ist denn mit dir los, Rainer? Ist es für ein Bad nicht ein wenig kühl?“, fragte Gwendolyn mit leiser, trauriger Stimme.
Rainer seufzte. „Ja, meine Liebe, ein Bad war eigentlich auch nicht geplant. Ich wollte dich lediglich aus deinen düsteren Gedanken holen.“
„Ach, Rainer, du bist lieb, aber du kannst mir nicht helfen. Geh nach Hause, ich muss nachdenken, dabei brauche ich meine Ruhe.“