Читать книгу Leo - Wismeldas Rache - Eva Haring-Kappel - Страница 15
5. Kapitel
ОглавлениеEs hatte die letzten Tage geschneit, und zwar so heftig, dass das ganze Dorf und der Wald unter einer dicken weißen Decke verschwanden. Durch die Schneepracht wirkten die Häuser plötzlich ganz klein und geduckt, denn nur die Dächer mit den Schornsteinen ragten hervor. Rauch kringelte sich in den grauen Himmel, der immer weiteren Schnee herabschickte. Der Großvater war viele Stunden mit Schneeschaufeln beschäftigt gewesen, um Wege zum Stall und zum Holzschuppen freizumachen, und ich half ihm dabei. Die Landschaft wirkte plötzlich fremd und die Welt schien auf einmal so klein. Der Schnee verschluckte alle Geräusche und es war alles ganz still und weiß.
In der Küche werkelte die Großmutter am Herd und legte Scheit um Scheit Holz nach. Wenn der Großvater und ich durchgefroren ins Haus kamen, brannte ein lustiges Feuer im Ofen, Tee und Kekse standen für uns bereit und es war wunderbar gemütlich, am großen Küchentisch zu sitzen, den heißen Tee zu schlürfen, immer wieder einen Keks zu zerknabbern und dabei dem Schneetreiben vor dem Fenster zuzuschauen.
Meine Freunde kamen vorbei, wir spielten Karten oder überlegten uns, was wir in den Weihnachtsferien unternehmen könnten. In der Schule standen zwar bis dahin noch zwei Schularbeiten und einige Tests an, aber ich hatte mich mittlerweile eingewöhnt und die Lehrer hatten erkannt, dass ich zwar kein Genie war, mir aber Mühe gab, und so drohte mir keine große Gefahr in irgendeinem Fach. Auch Leo gab sich wieder mehr Mühe und hatte aufgehört, Herrn Weixelbaum zu ärgern. Franz laborierte schon länger an einer Angina und fehlte daher in der Schule und ohne ihn war Jo recht harmlos. Es war eine richtig friedliche, schöne Zeit, und wie es manchmal so ist, vergisst man über den guten Tagen gerne, dass es auch schlechte geben kann.
Eines Abends klingelte es. Agnes stand im Schneetreiben vor der Haustür. Sie war ziemlich aufgeregt. Leonore wäre am frühen Nachmittag gleich nach der Schule – sie hätte nur noch eine Kleinigkeit gegessen – mit Prinz Edmund zu einem Spaziergang aufgebrochen und seither nicht mehr zurückgekehrt. Günther habe sich schon mit Bella auf die Suche gemacht, wäre aber nach einer Stunde erschöpft nach Hause zurückgekehrt, weil das Schneetreiben immer stärker geworden sei und er nicht gewusst habe, wo er noch suchen könnte. Nun war Agnes gekommen, um zu fragen, ob Leo bei mir wäre oder ob ich etwas wüsste, ob sie vielleicht uns Freunden erzählt hätte, wo sie hinwollte und was sie vorhätte.
Mir hatte Leo natürlich nichts erzählt, sie war auch in der Schule so wie immer gewesen. Als ich daraufhin Georg, Wendel, Anna und Benni jeweils eine Nachricht schickte, in der ich sie fragte, ob sie vielleicht eine Ahnung hätten, wo Leo stecken könnte, bestätigten sie mir, dass es auch für sie ein Rätsel sei und sie sich nicht denken könnten, wo unsere Freundin abgeblieben wäre außer ...
Der Rosenbusch, schrieb Anna.
Das ist unmöglich, der ist sicher unter einem Meter Schnee begraben, antwortete ich.
Anna gab zu bedenken: Vergiss nicht, es ist der Eingang zu einer anderen Welt, wer weiß, ob er den Naturgesetzen unserer Welt gehorcht.
Das war natürlich ein Argument, da hatte Anna recht. Wer konnte schon wissen, wie das wirklich war mit diesem Rosenbusch, der in den vergangenen Sommerferien, als Leo zum Menschenkind geworden war, das Tor zum Elfenreich darstellte. Ohnehin war die Geschichte um Leo immer schon ein wenig unheimlich gewesen. Ich erinnerte mich mit Schrecken daran.
Ich trat ans Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Das Schneegestöber hielt an. Man sah keinen Meter weit. Die Welt wirkte winzig klein.
Mir fiel jener Abend ein, nachdem wir zuvor Leo das erste Mal im Wald getroffen hatten. Als ich vor dem Schlafengehen aus meinem Fenster geguckt hatte, stand sie mit Prinz Edmund, der damals noch ein namenloses Tier gewesen war, am Waldrand. Dieses Bild hatte mir damals eine ziemliche Angst eingejagt. Jetzt machte ich mir allerdings Sorgen um meine Freundin. Es war schrecklich kalt draußen und Leo war ein Mensch wie wir. Sie konnte sich erkälten und sehr krank werden, sie konnte gar erfrieren und sterben, hoffentlich hatte sie das nicht vergessen.
Ich löschte das Licht und schlüpfte unter meine Decke. Es war warm und kuschelig, aber ich konnte trotzdem nicht einschlafen, weil mir einfiel, wie es im vergangenen Sommer gewesen war, als Leo, kurz nachdem wir sie im Wald entdeckt hatten, ganz plötzlich nach einem Unwetter verschwunden gewesen war, und wie schwierig es gewesen war, sie wiederzufinden und schließlich zu retten. Die Vorstellung, dass sie wieder allein da draußen im Wald sein könnte, ja, dass sie womöglich wieder für längere Zeit oder gar für immer verschwunden sein könnte, machte mir große Angst.
Dann, als ich schon fast eingeschlafen war, kam eine SMS von Anna.
Agnes war gerade bei meinen Eltern. Leo und Prinz Edmund sind zurück. J Durchgefroren, aber gesund. Prinz hat sich die Pfote verletzt, darum hat es so lange gedauert.
Ich war unheimlich froh und erleichtert über diese Nachricht. Waren sie doch bei dem Rosenbusch gewesen oder wo hatte sich der Prinz die Pfote verletzt? Jedenfalls gut, dass sie wieder da waren. Beruhigt drehte ich mich auf die Seite und schlief sofort ein.
Aber mein Unterbewusstsein, das ja aus den Ereignissen, die uns sehr bewegen, unsere Träume webt, war wohl noch nicht ganz beruhigt, denn ich hatte schlimme Albträume. Ich wanderte wie in den vergangenen Sommerferien durch die unterirdischen Gänge, die unsere Welt mit der Elfenwelt verbinden. Weil ich meine Taschenlampe zu Hause vergessen hatte, war es sehr dunkel und ich konnte fast nichts sehen. Irgendwo in der Ferne entdeckte ich ein schwaches Licht. Ich folgte ihm und gelangte zu einer Höhle. Darin stand ein altmodischer Schreibtisch, auf dem eine Kerze brannte, daneben lag ein Federkiel und ein offenes Tintenfass stand ebenfalls da. Der Tisch war übersät mit Notenblättern und es wirkte auf mich, als wäre der Hausherr mal kurz vor die Tür gegangen, denn die Höhle war leer.
Aber ich hatte keine Zeit, groß darüber nachzudenken, denn ein schrecklich lautes Geschrei und Gebrüll ließ mich aufhorchen. Es kam von weiter weg, schien aber näher zu kommen. Bestimmt war das Morrmor, das Schoßtier der Hexe Wismelda, die da unten in der Zwischenwelt zusammen mit ihren quergezauberten Tierungeheuern ihr Unwesen trieb. Ich hörte das Schaben von großen, krallenbewehrten Pfoten, die sich langsam, aber stetig in meine Richtung bewegten. Ich erinnerte mich an den Schatten von Morrmor, wie er sich damals im Sommer an der Höhlenwand abgezeichnet hatte. Die spitzen, langen Zähne, der Feueratem.
Während ich noch überlegte, wo ich mich verstecken sollte, wachte ich auf. Mein Herz klopfte wild und ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass ich sicher in meinem Bett lag und alles nur ein Traum gewesen war. Trotzdem konnte ich nicht gleich wieder einschlafen und rollte mich von einer Seite auf die andere. War es wirklich nur ein böser Traum gewesen oder ging nun alles wieder von vorne los? War tatsächlich etwas im Elfenreich geschehen, das Leos Eingreifen nötig machte? War sie deshalb so unruhig und abwesend und schwang geheimnisvolle Reden? Brauchte sie wieder unsere Hilfe?
Ich sprang aus meinem Bett und rannte ans Fenster, so als könnte ich draußen in der Dunkelheit eine Antwort finden. Ich starrte in den graphitgrauen Himmel, aus dem es unablässig schneite und schneite. Ich blickte zum Waldrand und versuchte, mit meinen Augen die Dunkelheit und das Schneegestöber zu durchdringen. Nichts. Gar nichts.
Und dann ganz plötzlich sah ich ihn. Er stand ganz still und stumm da, in seinem rotbraunen, langen Mantel, der sich recht deutlich gegen das Weiß der Winterlandschaft abzeichnete. Er musste wohl schon längere Zeit so verharrt haben, denn auf seinem Hut lag hoch aufgetürmt der Schnee, sodass er gegen den weißen Hintergrund kaum sichtbar war. Es war der Leibarzt von Leo und ihrer Familie, dieser sonderbare Doktor Worschody. Da war ich mir ganz sicher.
Ich hatte das Gefühl, er blickte zu meinem Fenster hoch, und so hob ich meine Hand und winkte zögerlich. Es dauerte einen Moment, dann schüttelte er sich heftig, sodass der Schnee von seinem Mantel stob, lüpfte seinen Hut, schüttelte auch diesen kräftig, setzte ihn wieder auf, fasste an die Hutkrempe, wie man es sonst nur aus Cowboyfilmen kennt, drehte sich um und stapfte in den Wald davon.
War ich verrückt geworden? Gut, meine Fantasie ist ziemlich lebhaft, aber ich hatte ihn wirklich gesehen, dessen war ich mir ganz sicher. Ich rannte zu meinem Bett, sprang hinein, sodass es heftig quietschte und knarrte, und zog meine Decke bis zur Nasenspitze hinauf.
***
Der Vollmond beschien den verschneiten Waldweg und sein sanftes Licht brachte den Schnee zum Glitzern und Leuchten. Rita hatte jedoch keine Augen für die Schönheit dieser Winternacht, ihr Fell war schlammverkrustet und klebte an ihrem Körper. Bei jedem Schritt sanken ihre Läufe tief in das kalte Weiß ein und sie kämpfte sich Meter für Meter voran, immer tiefer in den unbekannten Wald hinein. Das Keuchen ihres Atems und das Rauschen ihres Blutes waren die einzigen Geräusche, die sie hören konnte.
Sie wollte ihren Verfolger abschütteln. Ein Mensch hatte sie aufgespürt, das war am späten Nachmittag gewesen, und nun jagte er sie schon seit mehreren Stunden. Die junge Wölfin hatte sich in ihrer Neugier und Abenteuerlust zu weit von ihrem Rudel entfernt. Nun war sie ganz allein auf der Flucht. Alle Tricks und Ausweichmanöver, die ihr die Stammesälteste beigebracht hatte, um menschliche Verfolger loszuwerden, waren fehlgeschlagen. Nicht mal dass sie durch ein Schlammloch gelaufen war, um ihre Spur zu verwischen, hatte etwas genützt. Immer wieder war dieser Mensch aufgetaucht, immer wieder hatte sie ihn wittern können.
Mittlerweile war sie müde und schwach. Mit ihrer Zunge nahm sie etwas Schnee auf, um ihren Durst zu löschen und sich ein wenig zu erfrischen. Der Wunsch, sich hier mitten auf den Weg zu legen und einfach auszuruhen, war beinahe übermächtig. Unter Aufbietung aller Willenskraft verließ sie den Pfad, der zwischen den hohen, alten Tannen und Fichten durch den Wald führte, und entschied sich für einen Marsch querfeldein, weil sie so immer wieder in dem dichten Gestrüpp Schutz finden konnte.
Aber bald bereute sie diese Entscheidung, denn der Schnee war um einiges höher und nicht festgetreten wie auf dem Weg, hier lag er locker und leicht, sodass sie bei jedem Schritt bis zur Brust darin versank. Nach wenigen Metern war die Wölfin völlig erschöpft. Verzweifelt blickte sie sich um, durch die überhängenden Äste der hohen Bäume drang nur wenig Licht zu ihr durch, die Sicht war sehr schlecht. Witternd streckte sie ihre Nase in die Luft und es schien, als hätte sie es geschafft, den Menschen abzuschütteln.
Während Rita versuchte, wieder ein wenig zu Kräften zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen, knackten plötzlich in ihrer Nähe ein paar Zweige.
Reflexartig duckte sie sich tief in den Schnee, als ein Schuss die Stille des Waldes zerriss und eine Kugel über ihren Kopf hinwegpfiff. Zitternd kauerte sie sich in die durch ihren Körper entstandene Mulde und lauschte in die Nacht hinein. Schritte näherten sich knirschend ihrem Versteck.
Sie schloss die Augen, sich ihrem Schicksal ergebend, als eine Stimme direkt neben ihrem Ohr flüsterte: „Los, komm mit, beeile dich gefälligst oder willst du ein Loch in deinem Pelz riskieren?“
Als sie ihre Augen öffnete, erblickte sie einen kleinen Fuchs, der den Kopf aus einer Schneewehe streckte. Vorsichtig schob sie sich darunter und bemerkte, dass dies der Eingang zu einer Fuchshöhle sein musste.
Nun war es ein Glück, dass Rita noch so jung war, ihr schmaler, sehniger Körper passte sich widerstandslos dem engen Gang an, der tief unter die Erde führte und schließlich in einer geräumigen Höhle, die erstaunlicherweise hell erleuchtet war, endete.
Dort wartete der Fuchs auf sie. „Da bist du ja“, empfing er sie freundlich.
„Danke, ich danke dir so sehr, du bist mein Retter!“, stöhnte Rita erleichtert.
„Keine Ursache“, murmelte der Fuchs etwas verlegen, „der Schuss hat mich aufgeschreckt, und da du direkt vor meiner Höhle lagst, war es ganz einfach, dich zu retten. Darf ich mich übrigens vorstellen? Mein Name ist Rainer, Rainer Reinecke, stets zu Diensten“, fügte er mit einer kleinen Verbeugung hinzu.
Die Vorderläufe der jungen Wölfin begannen zu zittern und knickten wie von selbst ein. „Endlich in Sicherheit“, war der letzte Gedanke, der durch Ritas Gehirnwindungen sauste, bevor sie an Ort und Stelle einfach umfiel und in einen tiefen, traumlosen Schlaf versank. Rainer starrte ziemlich perplex auf den großen, schlammbedeckten Körper, der beinahe seine ganze Höhle ausfüllte. Mühsam zwängte er sich in eine Ecke und überlegte, was nun zu tun wäre.
Sorgenvoll beobachtete er, wie durch die Wärme in seiner Behausung langsam, aber unablässig der in Ritas Fell festgefrorene Schnee zu tauen begann und sich unter der Wölfin eine Pfütze aus Schlamm und Wasser bildete. Ängstlich schob Rainer Laub und trockenes Gras darüber. Er war stolz auf seinen Fuchsbau, durch die Freundschaft mit Gwendolyn, der kleinen Elfe, besaß er einige Dinge, die für jeden anderen Fuchs nicht selbstverständlich waren.
Da war zuallererst das Glas mit Feenstaub. Es ermöglichte ihm, sich auch tief unter der Erde, wo es normalerweise stockdunkel war, wann immer er es wünschte, an wunderschön glitzerndem Licht zu erfreuen.
Als Zweites gab es eine kuschelige, bunte Decke, von Feen gewebt und gefärbt, ein Geschenk des Königs an ihn. Sie wärmte ihn in einsamen Stunden. Er benutzte sie nur, wenn er sicher sein konnte, ganz sauber zu sein, um sie ja nicht irgendwie zu beschmutzen oder zu beschädigen.
Als Drittes und Letztes gab es ein kleines, wunderbares Daunenkissen. Es hatte einst Gwendolyn gehört, für sie hatte es ausgedient und darum hatte sie es an Rainer weitergereicht. Obwohl es schon recht abgenutzt war, liebte es der Fuchs sehr, es duftete immer noch nach dem Haar seiner Lieblingselfe, und wenn er seine Nase ganz tief darin vergrub, konnte er entfernt den Geruch von Gänsen wahrnehmen, deren Daunen das Kissen so unvergleichlich weich und gemütlich machten. Viele wunderbare Träume hatte er auf diesem Kissen schon geträumt, von satten grünen Wiesen, auf denen ganze Scharen von fetten Gänsen weideten.
Jetzt war er um Schadensbegrenzung bemüht. Verzweifelt versuchte er, seine Kostbarkeiten vor der stetig wachsenden Schlammpfütze zu retten. Da fiel sein Blick auf die schlummernde Wölfin. Im Schlaf hatte sie sich auf die Seite gedreht, sodass das weiße Brustfell, das bereits völlig trocken war, seidig hervorschimmerte. Ihre langen Vorderläufe hatte sie lässig und entspannt von sich gestreckt, ihr edler Kopf ruhte inmitten von Laub, Schlamm und Erde.
Manchmal lief ein leises Zittern durch ihren Körper, so als fröre sie. Sie war von anrührender Schönheit, das musste sich Rainer eingestehen und ganz impulsiv schob er ihr das Kissen unter die Schnauze und breitete die Decke vorsichtig über sie. Dann rollte er sich zusammen, sodass sein Rücken an ihren stieß, schloss die Augen, genoss ihre Nähe und schlief ein.