Читать книгу Was bleibt ist qualvolle Angst - Eva-Luisa Menderes - Страница 8
Ein rebellierendes Mädchen
ОглавлениеDie Jahre vergingen und ich war jetzt schon 13 Jahre alt und immer noch ein ‘kleines Mädchen‘, das einfach nicht wachsen wollte. Da mein Bruder Michel plötzlich weg war, musste ich mit im Stall arbeiten, Kühe melken und Traktor fahren. Es war Winter und mein Vater sagte:
„Du kannst die Milch draußen stehen lassen, da passiert nichts.“
Morgens um 5 Uhr gingen mein Vater und ich los um die Kühe zu melken. Da stand noch die Kanne mit der Milch draußen und es war eisig kalt. Mein Vater fragte mich:
„Was ist in der Kanne?“
Und ich dachte, dass es Wasser war. Ich hatte einfach nicht mehr daran gedacht, dass sich ja die Milch vom Vortag in der Kanne befand. Mein Vater nahm die Kanne und kippte sie aus. Dabei bemerkten wir beide, dass es die Milch war. Mein Vater wurde sehr böse, nahm den Deckel von der Kanne und warf ihn mir hinterher. Doch ich rannte wie verrückt um die Ecke und bekam ihn deshalb nicht ab. Dann lief ich nach Hause zu meiner Mama und diese war dann sauer mit meinem Vater. Ich hatte mich in mein Zimmer eingeschlossen und ging vor Angst auch nicht in die Schule.
Es war im Frühling, als die Kühe raus durften und ich musste mit dem Traktor fahren, um sie melken zu können. Eines Tages, ich war schon fertig und wollte nach Hause fahren, als ich sah, dass mein Vater mir winkte. Ich hielt den Traktor an und wartete auf ihn. Ich hatte die Melkmaschine auf der Hydraulik und lies diese herunter, damit mein Vater draufsteigen konnte. Er stieg auf und ich machte die Hydraulik wieder hoch, leider zu schnell, so, dass mein Vater mit dem Kopf gegen das Traktordach stieß.
Der schrie vor Schmerz auf, wurde sehr böse und ich ließ vor Schreck alles wieder runter. Dabei fiel er vom Traktor und ich ließ ihn liegen. Vor lauter Angst fuhr ich einfach los. Als ich nach Hause kam, erzählte ich sofort meiner Mutter davon.
Danach setzte ich mich wieder auf den Traktor und weg war ich. Stundenlang fuhr ich durch Wälder und Wiesen um die Angst vor meinem Vater zu bekämpfen. Dann fuhr ich nach Hause, wo viele Leute standen, die mich suchen sollten. Mutig ging ich auf meinen Vater zu und sagte:
„Los schlage mich wie du es immer machst, aber bedenke, ich habe es nicht mit Absicht getan.“
Er schaute mich an und fragte, wo ich so lange war?
Ich sagte es ihm und er meinte daraufhin nur:
„Mache dich fertig. Wir müssen arbeiten.“
Aber meine Mama sagte bestimmend:
„Nein, die macht diese Woche nichts mehr. Sie ist doch noch ein Kind.“
Mein Vater war streng und wenn ich nicht so war wie er wollte, dann wurde er böse und schlug mich.
Ich sollte meinen Schrank aufräumen, was ich auch machte. Fünfmal warf mein Vater die Sachen wieder raus, weil es ihm nicht gefallen hatte. Als er es das sechste Mal wieder tun wollte, griff meine Mutter ein.
„Wage es, dann kannst was erleben, du blöder Hund.“ warf sie ihm verärgert an den Kopf.
Oh, solche Wörter kannte ich von meiner Mama überhaupt nicht.
Nun wurde die Schule in dem Dorf geschlossen und ich musste ein Dorf weiter zum Unterricht gehen. Da ich ja sitzengeblieben war, musste ich die sechste Klasse wiederholen. Das war mir sehr peinlich, denn ich war viel älter als die anderen Kinder.
Ein Jahr später kam ich aus der Schule und sollte dann auf die Berufsschule gehen. Aber auf die Berufsschule hatte ich erst recht keine Lust. Mein Vater hatte mich bis vor die Schule gebracht und fuhr danach weiter zur Arbeit. Ich wartete bis er weg war, dann kehrte ich um und ging in die Stadt. Irgendwann machte ich das gleiche, rechnete aber nicht damit, dass er plötzlich neben mir stand.
Ich wurde nun ein rebellierendes Mädchen.
Ich lief von zu Hause weg nach Köln und kam in eine ganz andere Welt, als ich es von meinem Dorf mit 80 Einwohnern kannte. Schnell lernte ich neue Menschen kennen, wovon viele Alkoholiker waren, was für mich nicht gut war, denn ich fing auch an zu trinken. Wochen später wurde ich von der Polizei gefunden und nach Hause zurückgebracht.
Meine Mutter war glücklich, dass ich wieder da war, aber mein Vater tobte und drohte. Einige Monate blieb ich zu Hause und lief dann wieder weg.
Ich hatte weder einen Pass noch einen Ausweis und versteckte mich bei sogenannten Freunden. Am Eigelstein in Köln saßen wir und tranken Alkohol. Als die Polizei kam, verschwand ich schnell und das war mein Glück.
Kurz darauf fing ich in einem Krankenhaus an zu arbeiten und es machte mir Spaß. Nebenan wohnte ein junger Mann der mir sehr gefiel. Er war 21 und ich 16. wir freundeten uns an und ich hatte den ersten Sex mit ihm. Irgendwann fragte er mich, ob ich mit ihm zusammenbleiben wollte und ich sagte ja.
Er nahm mich mit zu seinem Freund und dort wohnten wir dann ein paar Wochen, bis ich mitbekommen hatte, dass er ein Verbrecher war, der schon oft im Gefängnis gesessen hatte. Egal dachte ich, er wird sich ändern müssen.
Was ich aber nicht wusste, er war auf der Flucht.
Eines Tages, er war im Badezimmer, klingelte es an der Tür. Ich machte auf und vor mir standen drei Männer. Ich schrie und wollte weglaufen, denn einer davon war mein einarmiger Bruder Louis und zwei seiner Freunde. Sie schnappten mich und trugen mich zu seinem Auto. Mein Freund rannte, halbnackt, hinterher und schrie:
„Lasst sie los, sie gehört zu mir!“
Davon unberührt fuhren sie los und ich sah ihn nie wieder.
Heute denke ich manchmal, dass es für mich so besser war.
Mein Vater steckte mich daraufhin in ein Kloster und meinte dazu:
„Werde Nonne, vielleicht ist das besser für Dich.“
Drei Monate war ich da und es war schlimm. Immer nur beten und nie lachen, das war nicht mein Ding. Nachdem eine Nonne nicht aufgepasst hatte, konnte ich weggelaufen.
Aber mein Bruder Louis, der in Köln arbeitete, fand
mich und brachte mich wieder nach Hause. Doch ich hatte keine Freunde in diesem Dorf, alles war öde und ich fühlte mich so gar nicht mehr wohl. Eines Tages war ich wieder weg, aber diesmal nach Duisburg. Da hing ich erneut mit Alkoholikern ab und trank auch wieder viel.
Einen Ausweis hatte ich immer noch nicht, also half mir ein Mann. Der arbeitete in der Taxizentrale und hatte den Pass von einer 21-jährigen Frau gefunden, die so ähnlich aussah wie ich. Damit hatte ich endlich Ruhe. Auf dem Pass war ich 21, obwohl ich erst knapp 16 war.
Die Polizei kontrollierte mich einige Wochen später in Duisburg am Bahnhof und fragte, wie meine Eltern denn hießen.
„Ich will von denen nichts mehr hören.“ antwortete ich.
Der Polizist nannte zwei Namen und ich sagte:
„Ja, so heißen meine Eltern.
Den Sinn der Frage habe ich bis heute nicht verstanden, da ich gehen durfte, obwohl ich auch noch angetrunken war. Als der Polizist die Tür hinter mir zu machen wollte, rief ich laut:
„Man, was seid ihr Polizisten doof, merkt nicht mal, dass es nicht mein Ausweis ist.“
Au Backe, nun war es zu spät zum Überlegen, ich kam in Arrest. Dort holte mich mein großer Bruder Louis ab und schlug auf mich ein.
Heute weiß ich, dass vieles falsch war was ich machte, aber an der Vergangenheit kann ich nun nichts mehr ändern.
Ich wurde angeklagt, weil ich mich mit einem fremden Pass ausgewiesen hatte, und sollte an dem Tag, als mein jüngster Bruder Enz Kirmes hatte, vor Gericht erscheinen. Da ich aber mit ihm gefeiert hatte, kam ich zum Gerichtstermin zu spät, gerade als die Verhandlung abgebrochen werden sollte. Ich wurde zu drei Monaten Jugendstrafe verurteilt, die ich im Jugendgefängnis in Wetter an der Ruhr verbüßte.
Eine Woche davon verbrachte ich im damals neuen Klingelpütz, in Köln. Das war ein Schock für mich, aber mir war auch bewusst, dass ich selber daran schuld war. In Wetter an der Ruhr hatte ich eine Zelle für mich alleine. Ich bekam gutes Essen, musste zwar arbeiten, aber in der Freizeit spielte ich mit den anderen Insassen viel Völkerball. Die drei Monate gingen schnell vorbei und beim Abschied sagten mir die Wärterinnen:
„Du fährst von hier aus sofort zu deinen Eltern und steigst nur in Köln um.“
Ich versprach es und wurde zum Bahnhof gebracht. Anfänglich wollte ich wirklich nur umsteigen, aber dann stieg ich in Köln aus und verschwand in der Großstadt. Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass meine Mama auf mich wartete. Oh Gott, was war ich bloß für ein Mädchen geworden. Hatte ich doch die beste Mutter der Welt. Und die ließ ich im Stich.
In Köln lernte ich dann einen Mann kennen. Der war gerade 21 Jahre alt und ziemlich gutaussehend. Er selbst kam auch nicht aus Köln und fuhr mit mir zu seinen Eltern, um mich ihnen vorzustellen. Sie waren sehr nett. Nachdem ich seine Eltern kennengelernt hatte, wollte ich ihn auch mit meinen bekannt machen und so fuhren wir gemeinsam hin.
Meine Mama war glücklich mich gesund wiederzusehen. Nur mein Vater sprach kein einziges Wort mit mir. Sie mochten meinen Freund und wir durften in meinem Elternhaus gemeinsam in einem Zimmer wohnen. Alles wurde gut.
Wir fanden beide gemeinsam eine Arbeit in einer
Mineralwasserfabrik in der Nähe. Wir standen am Laufband und mussten darauf achten, dass die Flaschen auch in Ordnung waren. Die Arbeit war zwar eintönig, aber sie hatte mir viel Spaß gemacht.
Meine Eltern wollten nun auch seine kennen lernen und so wurden sie zum Essen eingeladen. Sie verstanden sich wunderbar miteinander.
Wir verlobten uns und es hätte alles gut gehen können, tat es aber leider nicht.
Er trank viel, wurde aber nie böse oder gewalttätig
mir gegenüber. Doch ich machte den Fehler und trank mit. So kam es, wie es kommen musste. Eines Tages verschwand ich und ließ ihn bei meinen Eltern allein. Ich fuhr wieder zurück nach Köln.
Noch immer war ich 16 Jahre alt, da lernte ich hier den 24 Jahre älteren Türken Rafael kennen, mit dem ich täglich zusammen war. Auch dieser trank sehr viel, wurde dann aber, im Gegensatz zu meinem vorhergehenden Freund, sehr komisch.
Als wir wieder einmal zusammen in der Kneipe waren, bestellte er sich ein Bier. Gerade als er trinken wollte, spuckte ein deutscher Mann ihm ins Glas, nahm es und trank es leer. Zunächst schaute Rafael den Spucker nur an, sagte aber nichts und bestellte sich ein neues Bier. Als sich dieser Vorgang aber ein zweites und sogar ein drittes Mal wiederholte, rastete er förmlich aus. Rafael schlug so lange auf den Mann ein, bis dieser schwer verletzt auf dem Boden lag und voller Blut war.
Er trat ihn mit Füßen, schlug seinen Kopf gegen den Tresen, niemand schaffte es ihn von dem Mann loszureißen. Plötzlich hörte er aber auf, schnappte sich seinen Geldbeutel und bezahlte daraus die drei Bier. Er nahm meine Hand und sagte in den Raum:
„So, wir sind nun weg.“
Was mit dem anderen weiter passierte, habe ich nie erfahren.
So langsam bekam ich Angst, denn sowas hatte ich noch nie erlebt und verschwand. Kurz darauf wurde ich von der Polizei aufgegriffen, die mich in ein
Erziehungsheim steckte. Aus dem holte mich meine Mutter ein paar Tage später ab. Sie war sehr ängstlich, lebte sie doch ihr gesamtes Leben nur im Dorf, war noch nie in so einer großen Stadt gewesen. Sie kannte keine Ampeln und die vielen Autos verunsicherten sie sehr.
Gemeinsam gingen wir vom Erziehungsheim in
Richtung Köln Hauptbahnhof. Als wir vor einer roten Ampel standen und auf grünes Licht warteten, spurtete ich los, als die Ampel auf Grün umschaltete. Meiner Mutter, die am Straßenrand stand, rief ich noch zu:
„Komm Mama, wir müssen gehen.“
Ich hatte die andere Straßenseite erreicht und drehte mich um. Meine Mutter war nicht mitgegangen, sie stand immer noch wie angewurzelt drüben. Nun wartete ich wieder auf das Grünlicht und winkte meiner Mutter zu, dass sie gehen sollte. Sie tat es auch, aber als sie die Straßenmitte erreicht hatte und die Ampel umschaltete, machte sie kehrt und ging zurück. Als die nächste Grünphase erschien, ging ich meiner Mama entgegen und wir kamen endlich auf der anderen Straßenseite an. Nun setzten wir unseren Weg zum Bahnhof fort. Kurz bevor der Zug einfuhr, sagte ich plötzlich:
„Fahre alleine nach Hause, ich komme nicht mit.“
Meine Mutter brach weinend zusammen und bettelte:
„Bitte komm mit. Lass mich jetzt nicht alleine.“
Ich dachte nach, besann mich und nahm meine Mutter in den Arm. Wir stiegen beide in den Zug.
Niemals fragte meine Mama mich nach einem ‘Warum‘ oder ‘Weshalb‘, sie war einfach nur glücklich, dass ihre ’Eva‘ gesund wieder da war.
Nachdem ich wieder einen Tag zu Hause war, erhielten wir Besuch vom Jugendamt. Ich wurde in ein Erziehungsheim für schwer erziehbare Mädchen, nach Koblenz verbracht, welches von Nonnen geführt wurde.
Ich erinnere mich noch, als ich das Heim durch den Eingang betrat. Es wirkte innen sehr, sehr groß.
Ich weinte, aber ich kam nicht mehr raus aus dieser Situation.