Читать книгу Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen - Eva-Marie Kessler - Страница 11
2.4 Aktueller Stand der Psychotherapieforschung
ОглавлениеDie American Psychological Association hat 2003 erstmals »Guidelines for psychological practice with older adults« formuliert (aktualisiert 2014), die auch an vielen Stellen in das vorliegende Buch eingeflossen sind. Die Tatsache, dass ein Grundkonsens unter Experten gefunden wurde, markiert, dass sich das Forschungsfeld seit den 2000er-Jahren klar etabliert hat.
Auf Grundlage der seit den 1990er-Jahren durchgeführten Evaluationsstudien ist die Wirksamkeit von Psychotherapie bei älteren Menschen in der Zwischenzeit zumindest für Depression gut belegt (Mitchell und Pachana 2020). Nach den Ergebnissen von Meta-Analysen und systematischen Reviews sind psychotherapeutische Interventionen zur Behandlung manifester und subklinischer depressiver Symptomatik im höheren Lebensalter effektiv und gegenüber passiven Kontrollgruppen und herkömmlicher Behandlung überlegen (Gühne et al. 2014; Huang et al. 2015). Für Angststörungen liegen mittlerweile auch kontrollierte Studien vor, allerdings fällt die Befundlage gemischter aus.
Insgesamt liegt nach einem Review von Raue (2017) die umfangreichste und positivste Evidenzlage für die psychotherapeutische Behandlung von Depression mittels Problemlösetherapie (PST, Kap. 8.2), Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT, Kap. 8.3) sowie Lebensrückblicktherapie (LRT, Kap. 8.6) vor. Außerdem kann die Interpersonelle Psychotherapie (IP, Kap. 8.8) klar als evidenzbasiertes Verfahren im Alter eingestuft werden. Dabei gab es Fortschritte in der Entwicklung psychotherapeutischer Behandlungen von Depression im Zusammenhang mit chronischen und akuten körperlichen Erkrankungen (etwa Schlaganfall, bei Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und Parkinson) und bei Suizidalität. Innerhalb der »dritten Welle« der Verhaltenstherapie liegt die meiste Evidenz für Akzeptanz- und Commitmenttherapie vor (ACT, Kap. 8.5.1). Vereinzelt wurden auch Adaptationen für Schematherapie und Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) beschrieben ( Kap. 8.5.2). Insgesamt sind allerdings neuere Psychotherapieansätze einschließlich jener der »Dritten Welle« noch nicht in randomisiert-kontrollierten Studien überprüft worden (Sadavoy 2014). Es liegen vergleichsweise wenige gut kontrollierte Studien für psychodynamische Psychotherapie mit älteren Menschen vor, wobei die bisherige Evidenzlage vielversprechend ausfällt (Gühne et al. 2014).
Allerdings basiert die dargestellte Befundlage primär auf Stichproben mit vergleichsweise »jungen«, selbstständig lebenden älteren Menschen. Sehr alte, pflegebedürftige und gebrechliche Patientinnen mit Multimorbidität und psychischen Komorbiditäten waren bisher noch kaum Gegenstand systematischer psychotherapeutischer Forschung. Wenn multimorbide, immobile, pflegebedürftige bzw. geriatrische Patienten als Patientengruppe berücksichtigt wurden, dann geschah dies innerhalb von Studien, in denen Psychotherapie als Therapiebaustein in ein multimodales Versorgungskonzept integriert war (Tegeler et al. 2020). Dazu gehören Studien auf Grundlage eines kollaborativen bzw. Stepped Care-Ansatzes (z. B. Unützer et al. 2002), außerdem Evaluationen von Gruppentherapien in der stationären Geriatrie z. B. (Hummel et al. 2015) sowie von behavioralen Interventionen in Pflegeheimen (Meeks et al. 2008). Ein weiteres Forschungsdefizit besteht darin, dass bislang lebensspannenpsychologische Erkenntnisse – wie etwa die zum sozioemotionalen Altern ( Kap. 7.5) – noch nicht systemisch in die Therapiekonzeption eingeflossen sind. Eine Ausnahme bildet die in Deutschland laufende randomisiert-kontrollierte Studie PSY-CARE (Gellert et al. 2020), in welcher eine um Elemente der LRT erweiterte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung bei zuhause lebenden älteren Patientinnen mit Depression und Pflegebedarf in Bezug auf Implementierbarkeit und Wirksamkeit hin untersucht wird.
International ist Psychotherapie im Alter immer häufiger in Zeitschriften wie »Aging and Mental Health«, »International Psychogeriatrics« und »GeroPsych – The Journal of Geriatric Psychiatry« vertreten. In Deutschland gibt es mehrere Lehrbücher, unter anderem von Maercker (2015), Zank et al. (2009) und Supprian und Hauke (2016). Es gibt eine deutschsprachige Zeitschrift (»Psychotherapie im Alter«), die verfahrensübergreifend und interdisziplinär orientiert ist, und in dieser Ausrichtung den zumindest für Deutschland geltenden Trend unterstreicht, das Thema jenseits von traditionellen »Schulen« und Disziplinen zu betrachten. Neben der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) haben sich innerhalb von Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, DGGG; Deutsche Gesellschaft für Psychologie, DGPs; Deutsche Gesellschaft für Geriatrie, DGG) eigene kleine Arbeitskreise zu dem Forschungsfeld formiert. Bei Kongressen finden zunehmend entsprechende Symposien statt. Seit über 25 Jahren wird in Kassel jährlich das Symposium »Psychoanalyse und Alter« organisiert. Allerdings schneidet Deutschland trotz dieser positiven Trends im internationalen Vergleich schlecht in Bezug auf Forschung, Lehre und fachpolitisches Engagement in Klinischer Gerontopsychologie ab. In den USA wurde bereits 1993 die Society of Clinical Geropsychology gegründet. Diese Untersektion der Division 12 (Clinical Psychology) der American Psychological Association (APA) hat unter anderem elaborierte Curricula erarbeitet, die in Master- und PhD-Programmen eine hochwertige akademische Ausbildung von Psychotherapeutinnen ermöglichen.
Eine noch junge Entwicklung betrifft die Erforschung psychologischer Interventionen für Patienten mit Demenz (McDermott et al. 2019). Diese fallen nach den Maßstäben eines traditionellen Psychotherapie-Verständnisses größtenteils eher psychosozial als im engeren Sinne psychotherapeutisch aus (Kessler und Tegeler 2018). Diese Entwicklung im Bereich der Demenz ist insofern interessant, als dass bis vor einigen Jahren lediglich Angehörigeninterventionen im Mittelpunkt psychologischer Interventionen bei Demenz standen. Angehörigentrainings zum Verhaltensmanagement und kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen, wie etwa das telefonisch oder online durchgeführte Tele.TAnDem in Deutschland (Wilz et al. 2015), haben nachweislich positive Effekte auf pflegende Angehörige, von denen auch Patientinnen profitieren. Erst in jüngerer Zeit wurden systematisch patientenzentrierte psychosoziale Interventionen entwickelt. Dies geschah nicht zuletzt auch aufgrund der Erkenntnis, dass sich psychopharmakologische Interventionen bei Demenz gegenüber anderen aktiven Behandlungen nicht als überlegen erwiesen haben und außerdem häufig mit unerwünschten Arzneinebenwirkungen einhergingen (DGPPN und DGN 2016). Auch Übungen zur Aktivierung einzelner kognitiver Funktionen wie etwa Gedächtnistrainings (kognitive Trainings) und Kognitive Rehabilitation haben sich bisher nicht als wirksam erwiesen. Neben Evidenz für schwach-positive Effekte für Reminiszenzverfahren hat sich die im Gruppenformat angebotene kognitive Stimulationstherapie (KST, Kap. 8.9), eine Weiterentwicklung des Realitätsorientierungstrainings (ROT), konsistent als wirksam für Patientinnen mit leichter und mittelgradiger Demenz erwiesen. Eine Cochrane-Metaanalyse (Woods et al. 2012) kommt zu dem Schluss, dass KST einen positiven Effekt auf kognitive Leistungen hat, der bis zu drei Monate nach Behandlungsende anhält. Positive Effekte zeigten sich auch bezüglich Lebensqualität, Kommunikation und Sozialverhalten. Eine für das Individualsetting adaptierte Version der KST verbesserte die Lebensqualität der Pflegengenden und ihre Beziehung zu den Patienten, hatte aber keinen Effekt auf die Lebensqualität der Betroffenen (Orrell et al. 2017).
Neben der KST liegen in Deutschland zwei neuere kognitiv-verhaltenstherapeutische Manuale zur Behandlung von Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz vor (Werheid und Thöne-Otto 2010; Forstmeier und Roth 2018), wobei die Evidenz hierzu noch vorläufig, wenngleich vielversprechend ist. Während die KST primär auf Verbesserung kognitiver und sozialer bzw. funktioneller Funktionen durch kognitive Stimulation abzielt, steht hier die Behandlung der affektiven Symptomatik entlang des klassischen KVT »Dreischritts« (d. h. Aktivitätsaufbau, kognitive Umstrukturierung, Soziales Kompetenztraining) im Mittelpunkt, ergänzt durch Einbezug von Bezugspersonen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Depression ein Risikofaktor für das Auftreten sowie die Progression von Demenz darstellt. Eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Depressionstherapie wird in diesem Sinne als progressionsverzögernde, symptomatische Form der Demenzbehandlung angesehen. Insgesamt betrachtet haben sich nach bisherigen Befunden im Bereich psychologischer Interventionen bei Demenz Multikomponenten-Ansätze und das Gruppenformat bewährt. Ein Forschungsdefizit besteht noch in Bezug auf Fragen nach langfristigen Wirkeffekten sowie nach verschiedenen Formen und Schweregraden von Demenz und Wirkmechanismen (McDermott et al. 2019).