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2.2 Der Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre
ОглавлениеWesentlich für die deutlich voranschreitende, positive Entwicklung der Alternsforschung seit Beginn der 1960er-Jahre war ein Paradigmenwechsel, wonach das Alter disziplinenübergreifend nun zunehmend aus der Perspektive seiner Potenziale und Entwicklungschancen betrachtet wurde. Neben einer einsetzenden Institutionalisierung der gerontologischen Grundlagenforschung war dies auch der Beginn der sog. Verhaltensgerontologie, die ebenfalls als Interventionsgerontologie bezeichnet wird. In diese Zeit fällt die Gründung der Boston Society for Gerontologic Psychiatry im Jahr 1962 in den USA (Kessler und Peters 2017). Sie kann als ein erster Schritt einer systematischen Etablierung eines gerontopsychiatrisch-psychotherapeutischen Forschungsfeldes betrachtet werden. Die psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten wurden nun grundsätzlich positiver eingeschätzt. Teilweise existierten allerdings weiterhin noch defizitorientierte Konzepte wie das Regressionskonzept (Alter als Rückentwicklung auf frühere Entwicklungsstufen) und »Alter als zweite Kindheit«.
Von einer solchen Auffassung grenzte sich deutlich der Geriater und Gerontologe Robert Butler in seinem 1963 erschienen Artikel »The life review: an interpretation of reminiscence in the aged« ab. Er beschrieb die Lebensrückschau als entwicklungspsychologisch bedeutsamen psychischen Mechanismus im Alter – und nicht, wie bis dahin üblich, als Ausdruck kognitiven Verfalls. Damit gab er den Impuls zur Entwicklung der Lebensrückblicktherapie ( Kap. 8.6). Butler berief sich dabei auf die bereits 1950 erschienenen Arbeiten des Schweizer Psychoanalytikers und Lebenslaufforschers Erik H. Erikson (1986), der den traditionell ausschließlich auf die Kindheitsphase beschränkten psychoanalytischen Entwicklungsansatz in Richtung einer den ganzen Lebenslauf umfassenden Perspektive erweiterte. Danach besteht im höheren Lebensalter die Entwicklungsherausforderung, Ich- Integrität zu finden. Dabei handelt es sich um einen Zustand des »Seins, was man geworden ist«, welcher Selbstakzeptanz in Bezug auf das eigene gelebte Leben ermöglicht. Die Integrität paart sich im höheren Erwachsenenalter mit einer weiteren Entwicklungsaufgabe, welche in der Weitergabe von Kompetenzen, Erfahrungen, Werten und Visionen an die Mitglieder jüngerer Generationen, innerhalb und außerhalb der eigenen Familie, besteht (sog. Generativität).
Mit Beginn der 1970er-Jahren zog, vorangetrieben von der deutschen Psychologin und Gerontologin Ursula Lehr (2013), die Verhaltens- und Interventionsgerontologie auch nach Deutschland ein. Wesentliche Grundlage hierfür waren neben den mittlerweile umfangreichen Ergebnissen aus interdisziplinären, langjährigen Längsschnittsstudien die Lerntheorie, sowie die Anfang der 1960er-Jahren unter anderem von dem US-amerikanischen Gerontopsychologen Havighurst entwickelte »Activity theory« (1963). Danach ist für Lebenszufriedenheit und ein positives Selbstbild im Alter der Grad der sozialen Eingebundenheit und die Aufrechterhaltung früherer Aktivität von entscheidender Bedeutung. Der Fokus der Verhaltens- bzw. Interventionsgerontologie lag primär auf Gedächtnistrainings, sozialer Teilhabe, Gesundheitsförderung, Rehabilitation sowie Angehörigen- und Wohnberatung. Zugleich wurden schon erste verhaltenstherapeutische Ansätze für Depressionsbehandlung für die Gerontopsychiatrie erprobt (Kessler und Peters 2017).