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1 Einleitung – Altersbilder im psychotherapeutischen Geschehen

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Trotz öffentlicher Propagierung und medialer Dominanz der »fitten Alten« ist in der gerontologischen Forschung gut belegt, dass die Bilder in den Köpfen der meisten Menschen über das höhere Lebensalter im Vergleich zu denen anderer Altersphasen eher einseitig und negativ ausfallen (Kornadt et al. 2019). Zu dem typischen Stereotyp über ältere Menschen und das Alter(n) gehören nachlassende geistige Fähigkeiten, Rigidität, Einsamkeit, Hilflosigkeit und schlechte Stimmung. Gleichzeitig gehören Weisheit, Gelassenheit und Würde zu den wenigen positiv besetzten Eigenschaften. Altersbilder haben – wahrscheinlich aufgrund ihrer tiefen kulturellen Verankerung in unserer Gesellschaft – eine hohe Zugänglichkeit, das heißt, sie werden bei Vorliegen entsprechender Hinweisreize wie etwa das Geburtsdatum in der Patientenakte, graue Haare, Gesichtsfalten, Gehhilfen etc. schnell und unwillkürlich aus dem Gedächtnis abgerufen (Hess 2006).

Leider sind solche Altersbilder nachweislich auch immer noch in den Köpfen vieler Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten1 verankert, und sie beeinflussen deren therapeutisches Handeln (Bodner et al. 2018). Die negativen Konsequenzen von defizitorientierten Altersbildern zeigen sich eindrücklich in experimentellen Fallstudien. Variiert man in Fallbeschreibungen experimentell das Alter eines hypothetischen Patienten (zum Beispiel 78 versus 52 Jahre) oder entfernt aus diesen entsprechende »Age cues«, explorieren Psychotherapeutinnen im Fall von älteren Patientinnen psychische Symptome wie gedrückte Stimmung, Libidoverlust und Suizidgedanken weniger hinreichend als bei jüngeren Patienten (Barnow et al. 2004; Kessler und Blachetta 2020). Außerdem beurteilen sie ältere Patientinnen als weniger therapiefähig, schätzen die Erfolgsaussichten einer psychotherapeutischen Behandlung schlechter ein, und sie fühlen sich auch weniger behandlungsmotiviert und kompetent. Außerdem rufen Hinweise auf ein höheres Lebensalter tendenziell vorschnelles, advokatorisches Handeln bei Psychotherapeuten sowie eine Tendenz zu einem weniger klärungsorientierten Vorgehen hervor (Kessler und Schneider 2019). Negative Altersbilder gehen damit mit der Gefahr einher, dass Psychotherapeutinnen die Potenziale und Veränderungsmöglichkeiten älterer Patienten unterschätzen, und damit Therapien weniger effektiv ausfallen. Gleichzeitig führt die Unterschätzung perspektivisch dazu, dass Psychotherapeuten sich in den Therapien mit älteren Patientinnen verausgaben und irgendwann erschöpft zurückziehen.

Es besteht allerdings nicht nur die Gefahr einer negativen Form der Voreingenommenheit gegenüber älteren Patienten. Vielmehr gibt es bei Psychotherapeutinnen auch das Phänomen der Bewunderung und Idealisierung alter Patientinnen, ganz im Sinne des positiven Altersstereotyps. So äußern Psychotherapeuten regelmäßig großen Respekt gegenüber der Lebenserfahrung älterer Patienten und verhalten sich besonders freundlich, zugewandt und zuweilen geradezu ehrfürchtig (Boschann et al. under review). Durch eine Tendenz zur übertriebenen Positivbewertung und zur Konfliktvermeidung bleiben sie damit therapeutisch jedoch letztlich eher distanziert und gehen weniger auf die tatsächlichen Probleme der Patientinnen ein. Damit droht auch die spiegelbildliche Gefahr einer Überschätzung von Widerstandsfähigkeit und Veränderungsmöglichkeiten älterer Patienten.

Aus fachlicher und ethischer Sicht, aber auch im Sinne der Selbstfürsorge, ist es daher in der Arbeit mit älteren Patientinnen essenziell, dass sich Psychotherapeutinnen ihre eigenen Altersbilder bewusstmachen und sich mit diesen auseinandersetzen (Kessler und Bowen 2015; Bodner et al. 2018). Dazu gehört die Selbstreflexion sowohl bezüglich Altersfremdbildern, also Vorstellungen von alten Menschen im Allgemeinen, als auch von Altersselbstbildern, also Vorstellungen vom eigenen Altwerden und Altsein. Je weniger es gelingt, eigene Vorurteile und Ängste aus dem Bewusstsein herauszuhalten, desto größer ist das Risiko für abwehrende Haltungen gegenüber älteren Patienten. Dies kann sich im Erleben von negativen Gefühlen wie Unaufmerksamkeit, Langeweile, Ärger, Aversion oder Ekel im Kontakt mit älteren Patientinnen ausdrücken (Agronin 2010).

Das vorliegende Buch soll Psychotherapeuten dabei unterstützen, eine differenzierte Sicht auf das Alter zu entwickeln, welche die Potenziale und Chancen des Alters umfasst, aber auch dessen Herausforderungen, Risiken und Vulnerabilitäten ( Kasten 1.1). Verfügen Psychotherapeutinnen über ein realistisches Altersbild, sind sie in der Lage, die individuellen Ressourcen, Präferenzen und Defizite ihrer Patienten zu erkennen und in den Therapien mit diesen an deren Altersbildern zu arbeiten. Denn auch ältere Menschen haben im Laufe ihres Lebens, von Kindheit an, negative Vorstellungen über das Älterwerden und Altsein internalisiert (Levy, 2009). Diese Altersbilder wirken tendenziell im Alter fort und werden nur unwesentlich differenzierter. Negative Vorstellungen über und Erwartungen an das Alter begünstigen nachweislich auch psychische Erkrankungen (Chang et al. 2020), und sie beeinflussen die Therapie- und Veränderungsmotivation ungünstig: »Ich und Therapie? Dafür bin ich zu alt.« (Kessler et al. 2015)

Kasten 1.1: Übung zur Selbstreflexion eigener Altersbilder

• Was sind typische Annahmen und Vorurteile über alte Menschen im Kontext von Psychotherapie?

• Finden Sie, dass das Leben noch lebenswert ist, wenn man eine begrenzte Zeitperspektive, viele verschiedene Krankheiten und eine eingeschränkte Lebensqualität hat?

• Fällt Ihnen spontan eine Begegnung/Erfahrung mit einem älteren Menschen ein, der Sie in besonderer Weise geprägt hat?

• Welche Assoziationen (Gedanken, Gefühle) haben Sie, wenn Sie sich einmal in der Zukunft als alten Menschen vorstellen? Wie alt sind Sie dann? Wie passt dieses Bild von Ihnen in das Bild eines »typisch alten« Menschen?

• Welche Hoffnungen und Erwartungen, welche Ängste haben Sie in Bezug auf Ihr eigenes Alter(n)?

1 Die Verfasserin verwendet im Folgenden abwechselnd (nur) eine generische Form, wenn sie von Personen spricht: Ist bspw. von Psychotherapeutinnen, Patienten, Ärztinnen oder Psychologen die Rede, stehen diese – sofern nicht ausdrücklich anders erwähnt – stets für alle Geschlechter bzw. Genderformen.

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen

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