Читать книгу Stiefbrüder küsst man nicht - Eva Markert - Страница 3
Eins
ОглавлениеDie Geschichte begann vor etwa zwei Jahren. „Du lieber Himmel“, dachte ich damals, „eins steht fest: Wenn ich mal heirate, werde ich nicht einen solchen Aufwand treiben mit Restaurant und mehrgängigem Festmenü, unzähligen Gästen, Blumenschmuck und was weiß ich noch alles!“ Ich schaute mich um. Die meisten Leute kannte ich nicht. Wahrscheinlich waren es Verwandte und Freunde von Stefan.
Mein Blick fiel auf Oma und Opa. Ich liebe meine Großeltern sehr, bin praktisch bei ihnen aufgewachsen. Ich verbrachte jeden Tag dort, wenn Mama arbeitete, bis ich dreizehn wurde. „Mit dreizehn kann Merle nachmittags allein zu Hause bleiben“, sagte Mama, und ich war derselben Meinung. Aber auch danach besuchte ich Oma und Opa oft. Das tue ich übrigens auch heute noch.
Bei der Hochzeitsfeier sahen die beiden rundum zufrieden aus. Sie waren begeistert von Stefan und meinten, es wäre gut, dass bei uns jetzt endlich ein Mann ins Haus käme. Um ehrlich zu sein – von mir aus wäre das nicht nötig gewesen. „Wozu?“, fragte ich mich. Mama und ich kamen prima allein zurecht. Allerdings hätte es schlimmer kommen können. Stefan ist in Ordnung, obwohl er Lehrer ist. Das fand ich von Anfang an.
Aber nicht nur Stefan „kam ins Haus“, sondern leider auch sein Sohn, Dominik. Ich ließ meine Blicke schweifen. Wo war der eigentlich? Etwa abgehauen? Wundern würde es mich nicht. Ich wusste, dass er mit der Heirat nicht einverstanden war. So wie ich anfangs. Aber ich hatte mich inzwischen an den Gedanken gewöhnt. Und es hatte durchaus auch Vorteile, wenn Mama nicht bloß damit beschäftigt war, auf mich zu achten ...
Dominik wollte nicht, dass irgendjemand in der Familie auf ihn achtete. Er war am liebsten allein in seinem Zimmer oder mit seinen Kumpels zusammen. Er ging übrigens auf dieselbe Schule wie ich. Witzigerweise war er mir und den Mädchen in meiner Klasse schon vorher aufgefallen. Wir fanden ihn süß mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass wir eines Tages Geschwister sein würden!
Er hat übrigens eine kleine Narbe am rechten Augenwinkel. Die stammt von dem Autounfall vor vielen Jahren, bei dem seine Mutter ums Leben kam. Diese Narbe fand ich von Anfang an ziemlich niedlich. Ich muss verrückt sein! Wie kann man eine Narbe niedlich finden??? Und dass ich damals überhaupt etwas niedlich fand an Dominik, grenzte schon fast ein Wunder!
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als Beifall aufbrandete. Mama schnitt gerade die Hochzeitstorte an. Sie – also Mama, nicht die Torte – war damals schon knapp 40, aber sie sah und sieht heute immer noch gut aus für ihr Alter. An dem Tag trug sie ein cremefarbenes Seidenkostüm. Ein bisschen langweilig für meinen Geschmack. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, und das stand ihr richtig gut. Ich denke, das sollte sie öfter machen, aber dazu hat sie morgens vor der Arbeit keine Zeit. Sie ist Goldschmiedin und arbeitet in einem Juweliergeschäft.
Mama hatte es geschafft, den Leuten Hochzeitstorte auf die Teller zu bugsieren, ohne dass ein Stück umfiel. Stefan stand neben ihr und sah lachend zu. Wirklich ein netter Kerl! Als er und Mama heirateten, kannte ich ihn seit ungefähr vier Jahren. In der Unterstufe hatte ich ihn in Mathe. Da war er außerdem mein Klassenlehrer. Wenn mir damals einer gesagt hätte, dass der Grau eines Tages mein Stiefvater werden würde ... Ich hätte es nicht geglaubt. Ich konnte mir sowieso nicht vorstellen, wie das ist, einen Vater zu haben. Ich habe meinen eigenen nie kennengelernt.
An einem Elternsprechtag ging Mama zu Stefan hin. Sie wollte mit ihm reden, weil ich eine Fünf in Mathe geschrieben hatte. Da fing es an mit den beiden. Im Grunde können sie mir dankbar sein, dass ich schlecht in Mathe bin. Was heißt hier „schlecht“? So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich stehe zwischen Drei und Vier. Eine Fünf hatte ich seitdem nie mehr.
Vor den Ferien war mein neuer Dad übrigens das Thema Nummer 1 in meiner Klasse. Die einen sagten, es wäre schrecklich, den lieben langen Tag einen Lehrer am Hals zu haben. Die anderen fanden es eher spannend, weil sie glaubten, dass ich einiges mitkriegen würde von dem, was hinter den Kulissen im Lehrerzimmer ablief und was die Lehrer über einen sagten.
Das stimmt übrigens nicht. Stefan spricht zu Hause nur selten von der Schule.
„Du hättest es schlechter antreffen können“, meinte Annika, meine beste Freundin. „Lieber den Grau als so manchen anderen.“
Die meisten in meiner Klasse waren derselben Meinung. Der Stefan war und ist nämlich ziemlich beliebt an unserer Schule.
Ich schaute hoch, weil es plötzlich leiser wurde. Mein Stiefbruder war gerade reingekommen. Alle Hochzeitsgäste sahen zu ihm hin. Das ist immer so. Wenn Dominik einen Raum betritt, gucken alle. Wahrscheinlich, weil er so gut aussieht. Allerdings war ich damals der Ansicht, dass es reichlich übertrieben wäre, bei seinem Anblick fast zu erstarren.
Er trägt übrigens Kontaktlinsen, weil er kurzsichtig ist. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn zum ersten Mal mit Brille sah. Wir waren alle zusammen über ein verlängertes Wochenende weggefahren. Stefan hatte das vorgeschlagen. „Und die Kinder nehmen wir mit“, hatte er zu Mama gesagt.
Die Kinder! So nannten sie uns. Ich fand das unpassend und Dominik ebenfalls. Darüber waren wir uns ausnahmsweise mal einig. Aber wir konnten protestieren, soviel wir wollten, es nützte nichts. Wir waren und blieben „die Kinder“.
In diesem Kurzurlaub fuhren wir ans Wattenmeer. Ich hätte die offene See vorgezogen, aber Stefan wollte unbedingt ans Watt. Er hat uns bei einer Wattwanderung einiges darüber erzählt. Außer Mathe unterrichtet er nämlich auch Bio. Zum Beispiel erfuhr ich, dass Wattwürmer Sand fressen und dadurch den Wattboden umgraben. Ihre Kackhaufen liegen überall herum. Sie sehen ein bisschen aus wie Spaghetti. Das fand ich, ehrlich gesagt, ganz interessant.
Wie komme ich jetzt auf Wattwürmerkacke? Ach ja, ich wollte von Dominiks Kontaktlinsen erzählen. Also, abends im Hotel saß ich noch mit Mama und Stefan zusammen. Dominik war bereits auf sein Zimmer gegangen. Aus irgendeinem Grund, den ich vergessen habe, kam er noch mal zurück. Er hatte seine Linsen schon herausgenommen und die Brille aufgesetzt. Ich hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass er eine Brille trug, und war dermaßen von den Socken, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte und dann losplatzte. Eigentlich doof von mir, zumal ich fand, dass er mit Brille gut aussah. Sogar besser als ohne.
„Was gibt’s da zu lachen?“, bellte er mich an.
„Merle!“, sagte Mama mahnend und Stefan guckte mich strafend an.
Aber ich musste immer doller lachen. Das geht mir leider oft so. Wenn ich anfange, kann ich nicht mehr aufhören, vor allem, wenn ich nicht lachen darf.
Als Dominik weg war, haben sie mir die Hölle heiß gemacht. Sie predigten, dass man nie über andere lachen sollte. Als ob ich das nicht wüsste! Stefan trug mit ernster Miene vor, dass Dominik seine Brille nicht leiden könnte und sich hässlich damit fände. Da tat es mir ein bisschen leid, dass ich ihn ausgelacht hatte. Am nächsten Tag habe ich zu ihm gesagt, dass ihm die Brille sehr gut steht. Er zuckte mit den Schultern. „Wie du meine Brille findest, ist mir schnuppe“, sagte er. „Typisch!“, dachte ich. „Egal, ob man nett zu ihm ist oder nicht, er ist immer nur blöd zu einem.“
Später hat er es mir übrigens mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich kam zurück von meiner Freundin Annika. Wir hatten den Nachmittag vor dem Spiegel herumexperimentiert. Als Erstes hatten wir uns die Haare getönt. Ich habe von Natur aus rotblonde Haare, und nach dem Tönen sahen sie fast rot aus. Meine blauen Augen wirkten noch blauer durch meinen veilchenblauen Lidschatten. Wir hatten an nichts gespart und außerdem großzügig Lidstrich, Wimperntusche, Rouge und Lippenstift aufgetragen. Ich fand, ich sah toll aus.
Als ich reinkam, tat mein Stiefbruder, als wäre er wer weiß wie geschockt. Er schrie auf, hielt sich die Augen zu und stöhnte: „Du siehst aus, als wolltest du im Zirkus auftreten. Als Clown.“
„Das ist tatsächlich ein bisschen zu viel des Guten, Merle“, meinte Mama.
Stefan hielt sich raus, aber ich sah an seinem Blick, dass er ihr zustimmte.
Die Eltern konnte ich schlecht anfahren. Also ließ ich meinen Ärger an Dominik aus. „Du findest sicher ungeschminkte Augen hinter Brillengläsern schöner“, zischte ich. Das war gemein von mir, aber ich sagte es trotzdem.
Dominik ließ sich nichts anmerken. „Allerdings“, erwiderte er ruhig.
Viele passende Erwiderungen schossen mir durch den Kopf. „Halt’s Maul, Brillenschlange!“ Oder: „Du hast doch gar keine Ahnung, du Idiot. Stinkstiefel! Arschloch!“ All das fasste ich zusammen in dem Satz: „Du bist echt ätzend!“
„Blöde Kuh!“
Mama fuhr dazwischen: „Kinder, streitet euch nicht.“
Kinder! Wir guckten uns an. Dominik zuckte andeutungsweise die Achseln – seine Lieblingsgeste.
Doch dieser winzige Moment des Einverständnisses war schnell vorbei, als er hinzufügte: „Am besten redet man gar nicht mit der.“
„Diese Bemerkung ist ebenfalls unpassend“, sagte Stefan missbilligend.
Aber Dominik setzte noch einen drauf: „Am besten redet man überhaupt nicht. Mit niemandem.“ Damit ging er raus.
Ich habe das Make-up übrigens danach nicht abgewaschen, aus Prinzip nicht. Den Rest des Abends lief ich damit rum, aber ich fühlte mich äußerst unwohl damit. Jedes Mal, wenn Dominiks Blick auf mich fiel, grinste er. Und an diesem Abend fiel sein Blick oft auf mich. Aus purer Bosheit, vermutete ich, wo er mich doch sonst kaum beachtete!
Bei der Hochzeit unserer Eltern beachtete er mich ebenfalls nicht. Genauso wenig wie er Notiz von den anderen Gästen nahm. Mit mürrischem Gesicht stand er herum. Sein Vater winkte ihn zu sich und bot ihm ein Stück Torte an. Dominik lehnte ab. Das passte zu ihm. Er sagte zu fast allem Nein. „Ob man mit dem überhaupt zusammenleben kann?“, fragte ich mich. Mir war klar, dass es schwierig werden würde. Aber es half nichts, da musste ich durch. Zum Glück würde ich ihn nur ein Jahr ertragen müssen, weil er im Sommer darauf Abitur machen und von zu Hause fortgehen würde.
„Zu Hause ...“ Ich seufzte. Bei diesem Wort dachte ich immer noch an die kleine Dreizimmerwohnung, in der ich mit Mama gelebt hatte. Zehn Jahre lang. Wir waren eingezogen, als ich vier war. Ich erinnere mich noch dunkel daran. Als ich aufs Gymnasium kam, kriegte ich neue Möbel. Die habe ich übrigens immer noch. Sie stehen jetzt in Stefans Haus.
Die Hochzeitsfeier schien kein Ende zu nehmen. War das öde! Wenn Dominik nicht wieder verschwunden wäre, hätte ich mich aus lauter Langeweile vielleicht sogar mit ihm unterhalten. Oder auch nicht. Er machte keinen Hehl daraus, dass er keinerlei Wert auf meine Gesellschaft legte. Ich auf seine auch nicht. Dieses Fest war eine Ausnahme, denn er war der einzige Anwesende, der ungefähr mein Alter hatte. Na ja, das stimmte nicht ganz. Er war schon achtzehn, also vier Jahre älter als ich.
Ich wartete ungeduldig darauf, dass Oma und Opa sich verabschiedeten, damit ich ebenfalls gehen konnte. Während Mama und Stefan auf Hochzeitsreise waren, sollte ich bei ihnen wohnen. Ich hätte auch allein zu Hause bleiben können – in dem neuen Zuhause – aber das wollte ich nicht. Es war mir noch alles zu fremd dort. Außerdem war es zu weit weg von Annika. Wir hatten seit einer Woche Sommerferien und wollten uns jeden Tag treffen.
Annika fand Dominik übrigens toll. Sie beneidete mich richtig um meinen Stiefbruder. Wie die anderen Mädchen in meiner Jahrgangsstufe. Dominik war so etwas wie ein Schulschwarm. Da konnte ich ihnen hundertmal erklären, wie nervig der war, das brachte sie nicht von ihrer Meinung ab.
Dominik wollte in den Ferien wegfahren. Zum Zelten mit seinem Freund Thomas oder so. Ich wusste es nicht genau. Zwar hatte ich ihn gefragt, aber er geruhte nicht, seine Pläne mit mir zu teilen, und murmelte nur etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, bevor er mich stehen ließ.
Endlich! Die Hochzeitsfeier neigte sich ihrem Ende zu. Die ersten Gäste brachen auf. Dominiks Tante Maria und Onkel Josef (sie heißen tatsächlich so) kamen zu mir rüber, um auf Wiedersehen zu sagen.
„Du freust dich sicher, dass du jetzt eine richtige Familie hast“, meinte Tante Maria.
„Ja“, erwiderte ich automatisch. Was sollte man auch sonst darauf antworten?
Als sie weg waren, überlegte ich. War ich wenigstens ein bisschen froh darüber, dass wir jetzt mit den Graus zusammenlebten? Mama war glücklich, das merkte ich deutlich, und das freute mich natürlich. Stefan mochte ich gern und er mich auch. Das einzige Problem war dieser Dominik. Der, das ahnte ich bereits, würde mir das Leben zur Hölle machen.