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Drei

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In den Herbstferien fuhren Mama, Stefan und ich an die holländische Nordseeküste. Wir nahmen unsere Räder mit. Die Eltern – ich nenne sie mal so – reisten unheimlich gern und sie liebten das Meer und Radwanderungen. Dort konnten sie beides miteinander verknüpfen, und ich hatte nichts dagegen.

Mein blöder Stiefbruder, wie ich ihn insgeheim nannte, kam natürlich nicht mit. Das hätte mich auch gewundert. Er und sein Freund Thomas fuhren mit ihrer Judogruppe in ein Trainingslager. Mehr wusste ich nicht, noch nicht einmal, wo das war, denn er tat mir nicht die Ehre an, mich genauer zu informieren, und ich tat ihm nicht die Ehre an, mich genauer zu erkundigen. Das Einzige, was er diesbezüglich zu mir sagte, als ich eines Nachmittags Hip-Hop durchs Haus schallen ließ, war: „Gott sei Dank bin ich dich bald für ein paar Tage los.“

„Dito“, gab ich zurück.

Als ich Annika davon berichtete, erlebte ich eine Überraschung. Sie reagierte völlig anders, als ich es erwartet hatte. Ich dachte, sie würde etwas äußern wie: „Sei froh, dass du den nicht die ganzen Ferien an der Backe hast.“ Stattdessen sagte sie: „Schade eigentlich, dass er nicht mit euch fährt.“

„Hä?“ Ich schaute sie verständnislos an.

„Dann hättet ihr euch richtig kennenlernen können“, setzte sie erklärend hinzu.

„Nein, danke“, rief ich. „Was ich bisher von ihm gesehen habe, reicht mir vollkommen.“

„Möglicherweise ist er netter, als du glaubst.“

„Im Gegenteil“, erwiderte ich. „Er ist noch viel schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.“

***

Die Reise nach Holland ohne Dominik war richtig schön. Ich mochte Stefan von Tag zu Tag mehr. Fast vergaß ich, dass er früher mein Lehrer gewesen war. Privat war er sowieso total anders als in der Schule. Dort war er Herr Grau, zu Hause war er Stefan und richtig lieb und nett.

Ich weiß nicht, was Dominik über meine Mama dachte. Sie war ebenfalls furchtbar lieb und nett zu ihm, manchmal sogar netter als zu mir, fand ich. Er war nicht direkt nett zu ihr, aber auch nicht unnett. Ich glaube, er mochte sie und wollte es bloß nicht zeigen.

Von ihm hörten wir die ganze Zeit über nichts. Kein Anruf, keine SMS, keine WhatsApp.

Irgendwann schickte Stefan ihm eine Nachricht. Er schrieb, dass es uns in Holland gut gefiel, und wollte wissen, wie es im Trainingslager wäre. Dominiks Antwort bestand aus einem Wort. „Okay.“ Bestimmt fand er das Trainingslager hauptsächlich deshalb okay, weil ich nicht dort war!

***

Als die Schule – viel zu schnell! – wieder anfing, ging mit Annika eine seltsame Veränderung vor. Sie wurde auf einmal extrem anhänglich. Wir hatten uns immer schon oft getroffen – bei ihr, bei mir oder in der Stadt –, und wir telefonierten und simsten mehr oder weniger unablässig, aber nun bestand sie plötzlich darauf, jeden Nachmittag bei uns zu verbringen, obwohl sie ziemlich weit mit dem Bus oder Rad fahren musste.

Im Prinzip hatte ich nichts dagegen, aber irgendwann war ich es leid, ständig zu Hause rumzuhängen. Doch sobald ich Annika irgendwelche Vorschläge machte, wehrte sie ab. In die Stadt wollte sie nicht, weil sie kein Geld zum Shoppen hatte. Ins Hallenbad wollte sie nicht, weil es ihr zu kalt war. Ins Kino wollte sie nicht, weil sie gehört hatte, der Film wäre doof. Und sich mit den anderen zu treffen, dazu hatte sie auch keine rechte Lust.

Bei uns benahm sie sich äußerst merkwürdig. Wenn wir in meinem Zimmer hockten, hatte ich oft das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.

Oft schlug sie vor, auf die Terrasse zu gehen.

„Das begreife ich nicht“, erwiderte ich. „Du willst nicht ins Schwimmbad, weil es dir zu kalt ist, aber es macht dir nichts aus, bei 12 Grad draußen zu sitzen?“

„Es ist schönes Wetter. In der Sonne ist es warm genug. An der Decke des Hallenbads hängt keine Sonne.“

„Nee, da ist bloß geheizt“, gab ich lakonisch zurück.

Dauernd wollte sie im Wohnzimmer fernsehen.

„Was für ein Quatsch!“, sagte ich. „Fernsehen kannst du auch allein. Dafür brauchen wir uns nicht zu treffen.“

„Gleich kommt aber eine meiner Lieblingsserien. Die ist super! Und hinterher können wir uns darüber unterhalten.“

Wir redeten hinterher nie über die Serien. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass Annika gar nicht bei der Sache war. Als ob sie auf etwas – oder jemanden – warten würde. Sobald auf dem Flur Geräusche zu hören waren, stand sie auf und ging raus – aufs Klo oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war unglaublich, wie viel Wasser sie in dieser Zeit trank. Kein Wunder, dass sie dauernd zum Klo rennen musste!

Als sie einmal bei uns übernachtete, fiel mir noch mehr auf. Beim Abendessen benahm sie sich völlig anders als sonst. Sie kicherte ohne Ende und versuchte, witzig zu sein. Da kam mir ein Verdacht ... Der bestätigte sich, als sie plötzlich behauptete, sie würde Judo toll finden, und Dominik allerhand Fragen dazu stellte. Ich wusste hundertprozentig, dass sie sich nicht die Bohne für Judo interessierte. Zumindest hatte sie mir gegenüber noch nie etwas in der Art geäußert. Zu meiner Überraschung ging Dominik ausführlich auf ihre Fragen ein und er schien es sogar gern zu tun. Er gab ihr Auskunft über Kampftechniken, Prüfungen und Gürtel. Er hatte übrigens den braunen, was Annika mit tiefer Bewunderung zur Kenntnis nahm. Mit großen Augen staunte sie ihn an. Sie hatte zu viel Wimperntusche aufgetragen, die zum Teil verlaufen war, sodass es aussah, als hätte sie schwarze Ringe unter den Augen.

Als wir später allein in meinem Zimmer saßen, sagte ich es ihr auf den Kopf zu: „Du bist in Dominik verknallt.“

Erst stritt sie es ab.

„Komm, gib’s zu. Mir kannst du nichts vormachen.“

Sie schaute an mir vorbei aus dem Fenster. „Es stimmt“, sagte sie leise.

„Du lieber Himmel, Annika! Lass die Finger von ihm!“

„Er ist sooo goldig ...“

„Glaub mir, er ist ein Riesenarschloch.“

Aber davon wollte Annika nichts hören. „Ich hab’s dir schon oft gesagt. Du behandelst ihn nicht richtig.“

„Egal wie ich ihn behandele, er ist immer blöd zu mir.“

„Aber zu mir wäre er sicher nicht blöd.“ Annika bekam einen träumerischen Gesichtsausdruck. „Denk nur daran, wie lieb er mir alles über Judo erzählt hat ...“

„Wofür du dich ja so brennend interessierst“, warf ich ironisch ein.

„Das tue ich tatsächlich. Alles, was Dominik betrifft, interessiert mich.“

Ich seufzte schwer. „Ich kann dich nicht davon abhalten, in dein Unglück zu rennen. Aber bitte sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

In einem Punkt hatte Annika recht: Zu ihr war mein Stiefbruder tatsächlich anders als zu mir. Er maulte sie nie an, und einmal – ich traute meinen Ohren kaum – ließ er sich sogar herab, ihr was in Chemie zu erklären, was sie angeblich nicht verstanden hatte. Kann sein, dass sie es wirklich nicht verstanden hatte. Gewundert hätte es mich nicht. Wer – außer Dominik – verstand schon solch einen komplizierten Kram! Naturwissenschaften waren seine Lieblingsfächer in der Schule. In seinem Zimmer lagen stapelweise populärwissenschaftliche Magazine, in denen er ständig las.

Er wollte übrigens Medizin studieren. Die bedauernswerten Menschen, die später als Patienten zu ihm kommen würden, taten mir leid. Wahrscheinlich würde er sie anblaffen, was ihnen einfiele, krank zu werden und ihn zu belästigen.

Annika fand es natürlich großartig, dass er Arzt werden wollte. Das hieß allerdings nicht viel. Sie wäre bestimmt auch überwältigt gewesen, wenn er als Berufswunsch Fliegenfänger angegeben hätte.

Nachdem sie mit der Wahrheit rausgerückt war, hatte ich keine Ruhe mehr. Sie redete über nichts anderes als über Dominik.

Schon vor der Schule musste ich ihre Fragen beantworten. Ob es was Neues von Dominik gäbe. Was in drei Teufels Namen sollte es von einem Tag auf den anderen schon großartig Neues geben? Was er gemacht hätte, wollte sie wissen. Nicht viel, außer mir wie jeden Tag auf die Nerven zu gehen. „Glaub mir, der Kerl ist ätzend“, beschwor ich sie. Doch meine Worte stießen auf taube Ohren. Ob er was Interessantes gesagt oder gefragt hätte, bohrte sie weiter. Damit meinte sie natürlich, ob er über sie gesprochen oder nach ihr gefragt hätte. Leider musste ich sie da stets enttäuschen.

Jede Pause konnte ich mir nun anhören, wie attraktiv und supercool er war. Sie baute sich an einer bestimmten Stelle auf dem Schulhof auf: oben auf der Treppe zum Haupteingang, an einem der Pfeiler. Von dort aus hatte man den besten Überblick über den Schulhof. Ich sollte mit gucken, ob er irgendwo auftauchte. Na danke! Mir reichte es vollkommen, dass er mir zu Hause andauernd über den Weg lief!

Sobald er erschien, wurde sie tomatenrot im Gesicht. Sie zog mich mit sich fort, um „gaaanz unauffällig“ an ihm vorbeizuflanieren. „Hi, Dominik“, rief sie ihm mit dieser fremd klingenden Stimme zu, die viel höher war als ihre normale Stimme. Zu meinem Erstaunen grüßte er zurück. Manchmal grinste er sie sogar an.

Ich begann zu überlegen. Könnte es sein, dass Dominik in sie verschossen war? Oder zumindest dabei war, sich in sie zu verlieben?

Als sie eines Samstags zu uns kam, kriegte ich einen Schreck. Selbst ich fand, dass sie mit ihrem Make-up übertrieben hatte. Ihr Gesicht war viel zu dunkel geschminkt, auf ihren Wangen prangten zwei rote Flecke, und sie hatte violetten Lidschatten aufgetragen. Am schlimmsten aber war der Mund mit dem grellroten Lippenstift. Sie hatte die Lippenränder mit einem Konturenstift nachgezeichnet und versucht, den Mund größer erscheinen zu lassen. Nun sah es aus, als hätte sie übergemalt. Wenn sie meinem Stiefbruder so über den Weg lief – und die Gefahr war ziemlich groß –, würde er garantiert eine dumme Bemerkung machen!

„Schnell“, rief ich. „Komm mit ins Badezimmer. Du musst dein Make-up abwaschen.“

„Wieso?“, protestierte Annika.

„Du siehst aus ...“ Beinahe hätte ich gesagt: als ob du gleich im Zirkus auftreten wolltest. Als Clown. „Das sieht nicht besonders gut aus“, verbesserte ich mich schnell.

Aber Annika wollte nichts abwaschen. Sie beharrte darauf, dass ihr das Make-up hervorragend stünde.

Wir debattierten noch im Flur, als ich hörte, wie sich Dominiks Tür öffnete. Gleich darauf kam er die Treppe heruntergesprungen. „Schicksal, nimm deinen Lauf“, dachte ich resigniert.

Doch es kam anders, als ich erwartet hatte.

„Hi, Dominik“, rief Annika mit dieser hohen, fast schrillen Stimme. „Merle findet, dass ich zu stark geschminkt bin. Was meinst du?“

Mir wurde schwarz vor Augen.

Er blieb einen Augenblick stehen und musterte sie. Ich wappnete mich innerlich.

„Ist okay“, sagte er und lief weiter.

Triumphierend schaute Annika mich an. Und ich, ich verstand die Welt nicht mehr!

Diese Sache beschäftigte mich dermaßen, dass ich ihn einfach fragen musste. Abends klopfte ich bei ihm an. Er antwortete nicht, also stieß ich die Tür auf. Er lag auf seiner Schlafcouch, hatte Stöpsel in den Ohren und hörte Musik von seinem MP3-Player. Als ich plötzlich im Türrahmen stand, fuhr er hoch. „Was fällt dir ein, hier einfach reinzuplatzen?“

„Ich habe geklopft.“

„Aber ich habe nicht ‚Herein‘ gesagt. Geh weg! Du störst.“

„Wobei? Beim Nichtstun?“, entgegnete ich schnippisch.

„Ich habe nachgedacht.“

„Das tut mir aber leid, dass ich deine hochgeistigen Gedankenflüge unterbrochen habe“, höhnte ich.

So war das bei uns. Wir konnten kein Wort wechseln, ohne sofort in Streit zu geraten.

„Was willst du überhaupt?“, fragte er mich barsch.

Eigentlich wollte ich gar nichts mehr, sondern hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Der Kerl sollte sich nur ja nicht einbilden, dass er und seine Meinung mir wichtig wären. Aber nun hatte ich schon mal den ersten Schritt getan. Und es interessierte mich tatsächlich brennend. Also erkundigte ich mich: „Fandest du Annikas Make-up tatsächlich in Ordnung?“

„So genau habe ich nicht hingeguckt.“

„Na hör mal! Sie hat dich doch extra darauf angesprochen.“

„Soweit ich gesehen habe, sah sie okay aus.“

Ich spürte Ärger in mir aufkommen. „Das musst du mir allerdings erklären“, begann ich.

„Ich muss dir überhaupt nichts erklären“, fiel er mir ins Wort.

Ich ging darüber hinweg. „Als ich mich neulich geschminkt habe, hast du gesagt, ich würde dich an einen Zirkusclown erinnern.“

Das schien ihn selbst zu überraschen. Einen Augenblick blieb er stumm. „Du bist nicht Annika“, antwortete er schließlich.

„Was soll das heißen? Dass es bei Annika gut aussieht und mir nicht, oder was?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr genau, wie es bei dir und Annika aussah.“

Ich war verwirrt. Bedeutete das, dass er bei mir genauer hinguckte als bei Annika? Ich wollte gerade nachhaken, als er hinzufügte: „ Und jetzt zieh Leine.“ Ich sah seinen Blick und zog es vor, genau das zu tun.

Nun legte ich mich meinerseits aufs Bett und überlegte. Es hatte den Anschein, dass er, wenn es um mein Äußeres ging, strengere Maßstäbe anlegte als bei Annika. Warum? Weil ich zur Familie gehörte? Denn das tat ich ja, ob es ihm nun passte oder nicht. Wahrscheinlich wollte er sich nicht für mich schämen müssen. Mehr steckte sicher nicht dahinter. Oder drückte er bei Annika beide Augen zu, weil er eine Schwäche für sie hatte?

Der erzählte ich übrigens nichts von diesem Gespräch. Aber ich begann meinen Stiefbruder zu beobachten. Hielt er auf dem Schulhof Ausschau nach ihr? Freute er sich, wenn er sie sah? Und wenn sie bei uns war, redete er dann freiwillig mit ihr?

Einmal kam er rein, als wir uns gerade in der Küche Kakao machten. „Na, was habt ihr beiden wieder zu kichern und zu schnattern?“, fragte er. Für seine Verhältnisse war das fast freundlich. Ich warf ihm trotzdem einen finsteren Blick zu.

Annika war nicht die Spur beleidigt. Sie lachte. „Willst du auch einen Kakao?“

Diesmal galt mein finsterer Blick Annika. Er wurde noch finsterer und richtete sich auf Dominik, als der das Angebot annahm und sich zu uns an den Küchentisch setzte. Es störte mich gewaltig, dass wir ihn nun am Hals hatten. Und zu allem Überfluss blieb er sitzen, nachdem er seinen Kakao ausgetrunken hatte.

Annika war selig. Sie befragte ihn nach seinen Zukunftsplänen, und ich erfuhr zu meinem Erstaunen, dass Dominik sich besonders für die Herzchirurgie interessierte. Davon hatte er mir bisher kein Sterbenswörtchen gesagt. „Du kannst überhaupt nicht wissen, ob du dich dafür interessierst“, wandte ich ein. „Du hast doch noch nicht mal angefangen mit dem Studium.“

„Ich habe schon viel darüber gelesen. Aber es stimmt natürlich. Möglicherweise ändere ich meine Meinung später.“

Verblüfft schaute ich ihn an. Er hatte mir noch nie in irgendetwas Recht gegeben.

Ich hörte ihm und Annika weiter zu. Sie sprachen über die Schule und dann über Sport. Was Dominik sagte, war insgesamt gar nicht mal so dumm. Und er sprach mich mehrmals an, um meine Meinung zu hören. Ausnahmsweise stritten wir uns nicht.

Zum Beispiel fand ich, dass man es beim Sport nicht übertreiben sollte. „All diese armen Jogger“, sagte ich, „die sich hechelnd mit zerquälten Gesichtern vorwärtskämpfen, die tun mir richtig leid. Das kann doch nicht gesund sein, was die sich da antun.“

„Es gibt nichts Besseres für die Gesundheit als Joggen“, behauptete Annika eilig. Dabei war sie noch nie in ihrem Leben auch nur einen halben Meter gejoggt.

Dominik lachte. „Die sich hechelnd mit zerquälten Gesichtern vorwärtskämpfen“, wiederholte er meine Worte. „Das hat Merle sehr anschaulich beschrieben.“

Ich verstand die Welt nicht mehr.

„Ich denke ebenfalls, dass Jogger sich schaden“, fügte er hinzu, „vor allem, wenn sie einen asphaltierten Weg neben einer befahrenen Straße entlangschnaufen. Das ist bestimmt nicht nur schlecht für die Gelenke, sondern auch für die Atemwege.“

Ich verstand die Welt immer weniger. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Annikas Anwesenheit musste meinen Stiefbruder milde stimmen.

„Du bist also gegen das Joggen?“, fragte Annika ihn.

„Nicht unbedingt. Auf Waldboden, und wenn man sich gleichzeitig noch unterhalten kann, ist es okay.“

Ich war derselben Ansicht.

Das Einvernehmen zwischen uns endete, als wir über das Abi sprachen. Ich hielt nichts vom sogenannten Turbo-Abi nach zwölf Schuljahren. „Das bedeutet zu viel Stoff in zu kurzer Zeit, zu viel Stress für die Schüler und zu wenig Freizeit“, erklärte ich. Etwas Ähnliches hatte ich mal in der Zeitung gelesen und dem stimmte ich aus vollem Herzen zu.

„Das ist Quatsch“, entgegnete Dominik. „Man muss sich seine Zeit bloß richtig einteilen.“

„In anderen Ländern schaffen sie es auch locker in zwölf Jahren“, steuerte Annika bei.

Dominik nickte. „Genau!“

Annika freute sich über seine Zustimmung. Sie strahlte richtig.

Ich war plötzlich ein bisschen sauer. Wieso eigentlich? Jeder hatte doch ein Recht auf seine eigene Meinung!

„Na ja“, setzte ich hinzu, „auf jeden Fall ist es ein Vorteil, dass man ein Jahr eher aus der Penne rauskommt.“

Sein abschätziger Blick traf mich. „Das ist typisch für dich. Nur ja nicht zu viel arbeiten!“

„Streber!“, schnappte ich.

Womit wir wieder beim üblichen Umgangston waren.

Was Annika nun sagte, rechnete ich ihr hoch an. „Merle ist überhaupt nicht faul“, widersprach sie. „Sie hat zum Beispiel immer ihre Hausaufgaben.“

Dominik überzeugte das nicht. „Ich bitte dich!", rief er aus. „Das ist doch wohl selbstverständlich!“

„Hast du etwa nie deine Hausaufgaben vergessen oder vor dem Unterricht abgeschrieben?“, wollte Annika wissen.

Dominik zögerte kurz. „Doch. Das ist gelegentlich vorgekommen“, gab er dann zu.

„Na siehst du!“

„Und ich bereite mich immer gründlich auf Arbeiten vor“, ergänzte ich. Als ob ich es nötig hätte, mich vor Dominik zu verteidigen!

Der hatte offensichtlich keine Lust mehr auf weitere Diskussionen und stand auf. „Macht’s gut, ihr zwei“, sagte er und ging raus.

„Er hat sich mit uns unterhalten! Ganz lang!“ Annika war hin und weg. Und ich musste mir die gefühlte zehntausendste Lobrede auf ihn anhören. Wie intelligent er war. Was für super Ansichten er hatte. Wie nett, freundlich, süß, lieb und goldig er war. Wie toll, wie niedlich, wie umwerfend er aussah. Blablabla. Ich konnte es langsam nicht mehr hören.

***

Ich hatte gehofft, dass Annikas Liebeswahn irgendwann von selbst wieder verschwinden würde. Normalerweise war das der Fall bei ihr.

Ich weiß noch, wie sie für diesen Schauspieler schwärmte. Den Namen habe ich vergessen. Wir waren, glaube ich, in der 7. Sie besorgte sich Filme, in denen er mitspielte, und schaute sie sich pausenlos an. Und sie kaufte alle Zeitschriften, in denen etwas über ihn stand, schnitt die Artikel aus und klebte sie in ein Heft. Sie sammelte Fotos und hängte mehrere Poster über ihrem Bett auf. Schrecklich! Zu allem Überfluss war dieser Typ ein richtiger Milchbubi.

Sie fand auch schon mehrere Jungen in unserer Parallelklasse und in der Klasse über uns süß, einmal sogar einen Lehrer. Das heißt, er war noch kein richtiger Lehrer, sondern erst Referendar. Er unterrichtete Geschichte in unserer Klasse, und in dieser Zeit wurde Geschichte Annikas absolutes Lieblingsfach. Noch heute weiß sie fast alles über Karl den Großen und die Entdeckung Amerikas. Das waren die „hochinteressanten“ Themen, die wir bei ihm im Unterricht durchnahmen.

Wenn Annika sich verknallte, war sie ganz erfüllt davon, bis sich ihre Liebe wie durch Zauberei von einem Tag auf den anderen in Luft auflöste. Einen richtigen, echten Freund hatte sie noch nie. Ich übrigens auch nicht. Wir gingen zwar oft weg und wir mochten die Jungs in unserer Clique, aber jemand zum Verlieben war nicht darunter.

Vielleicht waren ihre Gefühle für Dominik stärker und ernsthafter als das, was sie zuvor erlebt hatte. Auf jeden Fall ging es nicht so schnell vorbei. Nach drei Monaten war sie noch immer verrückt nach ihm. „Es macht mich krank“, klagte sie oft, „dass ich nicht weiß, woran ich bei ihm bin. Manchmal denke ich, er mag mich, und dann wieder habe ich das Gefühl, er macht sich überhaupt nichts aus mir.“

„Er mag dich sicher“, erwiderte ich. Davon war ich überzeugt, denn er behandelte sie nie unfreundlich, so wie mich. „Aber ob er in dich verschossen ist, kann ich nicht beurteilen“, setzte ich hinzu.

Ab und zu war ich geneigt, das zu glauben. Ich hatte ihn zum Beispiel schon erwischt, wie er sie heimlich von oben bis unten betrachtete. Dominik und Annika ein Paar – eine eigenartige und nicht unbedingt angenehme Vorstellung. Aus irgendeinem Grund würde mir das missfallen. Ich kam aber nicht dahinter, warum. Vermutlich, weil ich nicht wollte, dass die arme Annika an ein solches Ekel geriet.

Bei anderen Gelegenheiten bezweifelte ich stark, dass er sich viel aus ihr machte. Zum Beispiel, wenn er sofort in seinem Zimmer verschwand, obwohl sie da war. Wenn er in sie verliebt wäre, würde er doch länger mit ihr zusammen sein wollen. Oder störte ich? Aber falls das zuträfe, könnte er sich ja mit ihr allein verabreden. Er machte aber keinerlei Anstalten, und um ehrlich zu sein, war ich darüber erleichtert.

Eines Tages fing Annika mit dieser bescheuerten Idee an. „Ich halte das nicht mehr aus“, jammerte sie. „Ich muss endlich wissen, wie Dominik zu mir steht. Finde du heraus, ob ich eine Chance bei ihm habe.“

„Und wie soll ich das, bitteschön, anstellen?“

„Sprich mit ihm über mich. Horche ihn ein bisschen aus.“

„Ich bin aber nicht gut in solchen Sachen“, wandte ich ein.

„Dir wird schon was einfallen. Er darf nur nicht merken, dass du ihn aushorchst.“

„Du machst mir Spaß! Das ist ja gerade das Problem!“

Annika klopfte mir auf die Schulter. „Das schaffst du schon. Warte auf eine günstige Gelegenheit. Es muss sich fast wie von selbst ergeben. Aber warte nicht zu lang.“

Annikas Auftrag machte mir Kopfzerbrechen. Gelegenheiten, mit Dominik zu sprechen, gab es zwar genug. Schließlich wohnten wir im selben Haus. Aber woher sollte ich wissen, welche davon günstig war?

Auf jeden Fall müssten wir dafür allein und ungestört sein. Das war zum Beispiel jeden Donnerstagnachmittag der Fall. Da hatten Dominik und ich nämlich zufällig beide keinen Nachmittagsunterricht, Stefan aber wohl.

Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Donnerstag mit ihm zu reden, und sagte Annika Bescheid. „Komm an dem Tag nicht zu uns. Dann werde ich es versuchen.“

Oh, was wurde sie da aufgeregt, die Arme!

Ich hatte kein gutes Gefühl. „Aber erwarte nicht zu viel“, fügte ich hinzu.

„Nee, nee“, beteuerte Annika, aber ich wusste natürlich, dass sie sich trotzdem große Hoffnungen machte. „Ruf mich sofort an, wenn du was in Erfahrung gebracht hast.“

Ich versprach es. Himmel, ich war ganz und gar nicht glücklich über diese heikle Mission!

Nach der Schule wartete ich in meinem Zimmer, dass Dominik nach Hause kam. Ich war fast so nervös, als ob es um mich selbst ginge. Wahrscheinlich, weil ich Angst hatte, alles zu vermasseln.

Endlich kam er. Kurz darauf hörte ich ihn in der Küche fuhrwerken. Ich holte ein paar Mal tief Luft, dann gesellte ich mich zu ihm.

„Hi.“

„Hi.“ Er belegte gerade ein Brot mit Wurst und schaute nicht hoch.

Ich stellte mich neben ihn und holte einen Teller aus dem Schrank. „Ich mache mir ein Käsebrot.“

„Mm.“

Das tat Dominik gern. Er brummte, statt zu antworten. Der Ehrlichkeit halber muss ich allerdings hinzufügen, dass man auf meine Bemerkung auch nichts Großartiges hätte erwidern können.

„Annika kann heute nicht kommen“, fuhr ich fort.

„Aha.“

Das war ebenfalls typisch für ihn. Seine Antwort bestand oft nur aus einem Wort.

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn. Er strich Senf auf die Wurst. Scharfen Senf. Fingerdick. Mir grauste, als ich das sah. „Dass du nicht zum feuerspeienden Drachen wirst, wenn du das verschlingst“, wunderte ich mich.

„Werde ich nicht.“

Ich Idiotin! Hätte ich doch nicht von diesem blöden Senf angefangen! Wie kam ich jetzt zurück zu Annika?

„Annika fühlte sich heute nicht gut“, schwindelte ich.

„Oh.“

Mehr kam nicht. Keine nähere Frage, kein Mitleid. Es sah in der Tat nicht rosig für sie aus. Wie könnte ich Gewissheit bekommen, ohne sie in die Pfanne zu hauen? Ich hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich war trotz allem der direkte Weg der beste.

„Wie findest du Annika eigentlich?“, erkundigte ich mich.

Er antwortete nicht sofort. Mein Herz fing an zu klopfen.

„Warum fragst du?“, hakte er schließlich nach.

„Einfach so.“

„Sie ist okay.“

Sie ist okay. Was bedeutete das? Ich musste es genau wissen. „Findest du sie bloß okay ... oder ein bisschen mehr als das?“

Er wollte gerade in sein Brot mit Senf und Wurst beißen. Nun legte er es wieder hin und wandte sich zu mir um. „Glaubst du etwa, dass ich in sie verknallt bin, oder was?“

Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Fast so, als hätte ich ihn gefragt, ob er in mich verknallt wäre. „Nicht wirklich“, stotterte ich, „ich dachte nur, dass es sein könnte, möglicherweise, dass du ... beziehungsweise dass sie, vielleicht ...“ Nun hatte ich mich rettungslos verhaspelt.

Dominik lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte und lachte. Es klang nicht unsympathisch, aber auch nicht wirklich nett. „Hör mal zu, Mädel“, begann er. „Ich muss da wohl was klarstellen.“

„Rede nicht so von oben herab“, wollte ich ihn anfahren, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Ihr beide seid für mich nichts weiter als kleines Gemüse. Nicht im Traum würde es mir einfallen, mich mit kleinen Mädchen wie euch einzulassen. Ihr seid viel zu unreif, zu kindisch, zu ...“

Ich ließ ihn nicht ausreden. „Spar dir deine Erklärungen. Außerdem geht es überhaupt nicht um mich. Mir würde es ebenfalls nicht im Traum einfallen, mit einem wie dir was anzufangen.“ Ich schnappte mein Brot und stürmte an ihm vorbei zur Tür.

„He, warte!“, rief er.

Ich blieb nicht stehen.

„Bring es Annika schonend bei.“

Dieser Mistkerl! Nun hatte er uns zu allem Überfluss auch noch durchschaut!

***

Damit stand ich vor einem weiteren Problem! Wie sollte ich Annika verklickern, dass Dominik uns als „kleines Gemüse“ und „kleine Mädchen“ bezeichnet hatte?

Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt hatte, rief ich sie an.

„Und?“ Ihre Stimme klang zittrig und atemlos.

„Er findet uns zu jung.“

Annika stockte nur einen Moment. „Das ist doch nicht schlimm“, rief sie lebhaft. „Wenn ich mit ihm rede, merkt er doch schnell, dass ich kein kleines Kind mehr bin.“

Sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich musste deutlicher werden. „Er sagt, dass er nie was mit uns anfangen würde. Wir sind nur kleines Gemüse für ihn.“

Diese Botschaft kam an. Annika verstummte. Erst hörte ich nichts, dann klang unterdrücktes Weinen durch den Hörer. Ich hatte solches Mitleid mit ihr! „Sei froh“, versuchte ich sie zu trösten. „Glaub mir, Dominik ist eine Nervensäge. Du hättest nichts an ihm gehabt außer Ärger.“

Nun wurde sie wütend. Seltsamerweise richtete sich ihr Zorn aber nicht gegen meinen Stiefbruder, sondern gegen mich. „Was weißt du denn schon?“, ranzte sie mich an. „Dominik ist der netteste Junge der Welt. Anstatt froh zu sein, dass du jeden Tag mit ihm zusammen sein kannst, meckerst du ständig an ihm herum.“

Jetzt war ich auch ein bisschen angefressen. „Du behauptest von jedem, in den du zufällig gerade verknallt bist, dass er der netteste Mensch der Welt wäre. Und ein paar Tage später ist jemand anders der netteste Mensch der Welt.“

Die Wut entwich aus Annika wie Luft aus einem Ballon. Ich hörte förmlich, wie sie in sich zusammenfiel. „Bei Dominik ist das anders“, fügte sie leise hinzu. „Er ...“ Ihre Stimme versagte, sie schluchzte auf.

Nun tat sie mir wieder unsagbar leid. „Du kommst drüber hinweg“, sagte ich ermutigend. „Pass auf, wir machen Folgendes: In der nächsten Zeit treffen wir uns bei dir. Und in den Pausen bleiben wir in der Pausenhalle. Wenn du ihn eine Zeitlang nicht siehst, vergisst du ihn schnell.“

„Ich werde Dominik nie vergessen“, stieß Annika weinend hervor und legte auf.

Ich hielt den Apparat noch eine Weile in der Hand. Aber ich wusste nicht, wie ich ihr helfen könnte. Wieder einmal dachte ich, wie blöd mein Stiefbruder doch war. Annika musste an Geschmacksverirrung leiden!

„Hast du mit deiner Freundin gesprochen?“, erkundigte er sich später.

„Ja“, antwortete ich einsilbig.

„Und?“

Neugierig war er also auch noch! Selbst wenn er so tat, als ob er sich Sorgen um Annika machte – sicher sonnte er sich darin, dass er ihr Herz gebrochen hatte. Und wahrscheinlich sollte ich ihm das nun in allen Einzelheiten beschreiben! Aber da hatte er sich geschnitten! Eher würde ich mir die Zunge abbeißen! „Halb so schlimm“, erwiderte ich gelassen. „Annika hat genug andere Kandidaten an der Hand.“

Das stimmte zwar nicht, aber das würde ich ihm bestimmt nicht auf die Nase binden!

„Oh, gut!“

War das ironisch gemeint? Aber es klang echt. Und er grinste nicht dabei. Vielleicht machte er sich wirklich Gedanken um die arme Annika. Das wäre ja noch ganz nett von ihm.

Erst als ich später im Bett lag, wurde mir schlagartig etwas bewusst: Es tat mir zwar leid für meine Freundin – echt leid! –, dennoch war ich froh, dass aus den beiden nichts wurde. Richtig, richtig froh! Ich konnte es mir nicht erklären, aber es war so. Noch während ich darüber nachgrübelte, schlief ich ein.

Stiefbrüder küsst man nicht

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