Читать книгу Stiefbrüder küsst man nicht - Eva Markert - Страница 4
Zwei
ОглавлениеDie Ferien waren vorbei und langsam kehrte in unsere Patchworkfamilie der Alltag ein.
Mein Stiefbruder – mein blöder Stiefbruder, wie ich ihn damals in Gedanken immer nannte – hatte sich nicht gebessert. Er stieß alle laufend vor den Kopf. Wie zum Beispiel an jenem Abend.
Wir setzten uns zum Essen an den Tisch. Auf das tägliche, gemeinsame Abendessen legten die Eltern großen Wert. Nur einer erschien nicht – Dominik. Man merkte Stefan deutlich an, wie sehr ihn das ärgerte. Er stand vom Tisch auf und rief „Dominik!“ durchs Haus mit seiner Lehrerstimme, die er immer hatte, wenn ihm etwas an seinem Sohn nicht passte.
Nichts rührte sich.
Wir fingen an zu essen. Als wir fast fertig waren, hörte man die Haustür klappen und Dominik die Treppe hinaufspringen. Er nahm mehrere Stufen auf einmal.
Stefan warf seine Serviette auf den Tisch. „Dominik!“ Seine Lehrerstimme klang nun richtiggehend wütend.
„Ja?“, schrie der von oben.
„Komm sofort hierher!“
Gemessene Schritte näherten sich.
Stefan erwartete seinen Sohn an der Tür. „Wo kommst du her?“, fuhr er ihn an.
„Von Thomas.“
„Du könntest ein Mindestmaß an Höflichkeit bewahren und wenigstens guten Tag sagen, wenn du dich schon verspätest.“
„Guten Tag“, erwiderte Dominik ungerührt.
Ich unterdrückte ein Grinsen. „Typisch Lehrer“, dachte ich. „Aber Dominik hat gut pariert.“
„Lass es gut sein, Stefan“, mischte Mama sich ein. „Willst du einen Teller Gulaschsuppe, Dominik?“
„Nein! – Danke“, fügte er nach einem Atemzug hinzu.
Stefan blieb weiterhin im Lehrermodus. „Jeden Abend dasselbe“, schimpfte er. „Du kommst zu spät oder du erscheinst gar nicht, ohne uns vorher Bescheid zu sagen, und obwohl wir abgemacht haben ...“
„Moment!“, unterbrach ihn Dominik. „Ihr habt das abgemacht. Nicht ich.“
„Der Ärmste“, dachte ich mit einem Anflug von Mitleid. „Er muss sich doch saudämlich vorkommen, wie er hier vor versammelter Mannschaft von seinem Vater zur Schnecke gemacht wird.“
„Ich finde es nicht schlimm, wenn er nicht mit uns zu Abend isst“, warf ich ein. Und das sagte ich nicht nur, um ihm beizuspringen. Das war meine ehrliche Meinung.
„So? Du findest es nicht schlimm, wenn deine Mutter umsonst für meinen Herrn Sohn kocht?“
Na bravo! Jetzt war Stefan auch noch wütend auf mich.
„Streitet euch ruhig weiter, aber ohne mich.“ Dominik warf mir einen verächtlichen Blick zu, „Und du halte dich in Zukunft gefälligst raus.“
Damit verschwand er.
Ich merkte, wie ich puterrot anlief. Das war nun wirklich die Höhe! Da wollte ich ihm helfen und er pfiff mich an!
Stefans Gesicht war ebenfalls ganz rot. Er kehrte an den Tisch zurück und aß hastig seine Suppe weiter. Der Teller klirrte, wenn sein Löffel damit in Berührung kam.
Mama legte ihre Hand auf seinen Arm. „Reg dich nicht auf. Du als Lehrer weißt doch am allerbesten, wie sie in dem Alter sind.“
„Wie sie in dem Alter sind.“ Das schloss mich mit ein. Mir verging schlagartig die Lust auf Familie und ich entschwand nach dem Essen direkt in Richtung meines Zimmers.
Dominiks lag gegenüber meinem. Ich überlegte kurz, ob ich bei ihm reinschauen sollte. Lieber nicht! Er würde mich garantiert anraunzen, dass ich ihn in gefälligst Ruhe lassen sollte.
Mama kam die Treppe rauf. Vorsichtig öffnete ich meine Tür einen Spalt, um zu lauschen. Sie klopfte bei Dominik an, ich hörte sein brummiges Herein.
Sie blieb im Türrahmen stehen. „Willst du jetzt vielleicht was essen?“
„Danke, nein. Ich hab keinen Hunger. Und wenn ich später Hunger kriegen sollte, hole ich mir was.“
„Okay.“ Sie schloss die Tür. Ihre Schritte entfernten sich.
Ich fand, er hätte ruhig freundlicher zu ihr sein können. Immerhin war es nett von ihr, dass sie ihm quasi den Hintern nachtrug. Ich war mir nicht sicher, ob sie das bei mir genauso gemacht hätte.
Ich seufzte und hatte aus irgendeinem Grund plötzlich schlechte Laune. Ich stellte meinen alten Ghettoblaster an und drehte die Lautstärke auf volle Pulle. Hip-Hop. Das war zu der Zeit meine Leib- und Magenmusik. Sie verfehlte ihre Wirkung nie. Meine Stimmung stieg.
Kurz darauf ließ mich ein Geräusch zusammenfahren. Es klang, als ob jemand gegen meine Tür träte.
Ohne auf eine Einladung zu warten, stürmte mein Stiefbruder herein. „Das ist ja nicht zum Aushalten! Mach sofort das Gejaule aus.“
„Ich denke nicht daran!“
Mit einem Satz war er beim Ghettoblaster und schaltete ihn ab.
Wut durchschoss mich. Ich sprang hoch. „Was fällt dir ein!“, schrie ich und wollte erneut auf „On“ stellen.
Er hielt meinen Arm fest. „Du meine Güte“, dachte ich, „hat der einen harten Griff!“
„Deine Musik nervt“, blaffte Dominik. „Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.“
„Hast du in deinem Leben überhaupt jemals einen klaren Gedanken gehabt?“, fauchte ich.
„Vermutlich mehr als du. Ich bereite mich gerade auf eine Englischklausur vor.“
Ich riss mich los. „Warum sagst du das nicht gleich? Ich mach’s leiser.“
Ohne weiteres Wort ging er raus.
„Trottel!“, dachte ich. „Wenn die Mädchen in der Schule wüssten, wie grässlich der ist! Dann würden sie ihn bestimmt nicht mehr so cool finden.“
***
Am nächsten Morgen gab es wieder Theater. Das kannte ich nun auch schon zur Genüge. Er wollte ins Badezimmer, als ich drin war. Dabei stand ich extra früher auf, damit ich genug Zeit hatte. Es dauerte eben eine Weile, bis ich fertig geschminkt war. Als ich gerade einen Lidstrich zog, donnerte er gegen die Tür. Ich erschrak dermaßen, dass der Lidstrich verwackelte. Ich musste alles abwischen und von vorn beginnen.
„Idiot!“, schrie ich durch die Tür. „Jetzt dauert es nur umso länger!“
„Beeil dich gefälligst.“
Ich hörte ihn vor der Tür hin und her laufen wie ein Löwe im Käfig und vor sich hin murren. Das machte mich total rammdösig. Der zweite Lidstrich missglückte ebenfalls. „Geh weg!“, schrie ich. „Ich sag dir Bescheid, wenn du reinkannst.“
Statt einer Antwort erneutes hartes Klopfen. Ich versuchte in aller Ruhe weiterzumachen. Trotzdem zitterten meine Finger und ich war mit dem Schminkergebnis alles andere als zufrieden.
„Endlich!“, stöhnte er, als ich die Tür öffnete. Er musterte mich. „Dein Gesicht sieht aus wie die Palette eines Malers.“ Seit ich damals geschminkt von Annika gekommen war, ärgerte er mich gern, wenn ich Make-up benutzte.
„Pff! Was verstehst du schon davon!“ Ich rauschte davon.
„Ohne Schminke siehst du besser aus“, rief er mir nach.
Ich fuhr herum. „Du faselst irgendwas daher. Nur damit du in Zukunft schneller ins Badezimmer kommst.“
Er grinste. In dem Augenblick sah er fast nett aus. Aber sofort wurde sein Gesicht wieder mürrisch und er knallte die Badezimmertür zu.
Ich beklagte mich bei Annika. „Jeden Morgen das Theater! Der benimmt sich einfach unmöglich.“
„Du packst deinen Bruder falsch an.
„Meinen Stiefbruder“, verbesserte ich sie. „Meinen blöden Stiefbruder.“
„Okay, meinetwegen, deinen Stiefbruder. Streite nicht mit ihm. Versuche lieber, mit ihm zu flirten.“
„Bist du bekloppt? Mit Dominik flirten? Nie im Leben!“
„Wenn du ihm ein bisschen um den Bart gehst und er darauf anspringt, frisst er dir nachher aus der Hand und du brauchst dich nicht mehr ewig mit ihm rumzuärgern“, gab sie zu bedenken.
Ich war nicht davon überzeugt, dass es funktionieren würde, aber einen Versuch war es wert. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, Dominik ein bisschen zu manipulieren. Natürlich würde ich unter gar keinen Umständen mit ihm flirten! Nichts lag mir ferner als das! Aber ich könnte probieren, ein bisschen netter zu ihm zu sein.
Mittags lief er mir über den Weg. „Na, hat’s geklappt mit deiner Englischklausur“, erkundigte ich mich.
„Woher soll ich das wissen? Ich habe sie noch nicht zurück.“
„Hast du denn ein gutes Gefühl?“
„Weiß ich nicht.“
Ärger regte sich in mir. „Du musst doch wissen, was für ein Gefühl du hast!“
„Ich hab keine Ahnung. Außerdem kann man nichts darauf geben. Manchmal hat man ein gutes Gefühl und kriegt trotzdem eine schlechte Note.“
„Das heißt also, du hast ein gutes Gefühl?“
Dominik verlor die Geduld. „Mensch, lass mich doch endlich in Ruhe mit deinen Gefühlen!“
Ich verlor die Geduld ebenfalls. „Warum bist du biestig zu mir, wenn ich mich freundlich erkundige, wie die Klausur gelaufen ist?“
„Schrecklich, dass Mädchen so neugierig sind. Ich sehne mich zurück nach der Zeit, als mein Vater und ich noch allein wohnten.“
Ich baute mich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Was hast du gegen meine Mutter?“
„Nichts. Aber ich empfinde Weiber gelegentlich als störend.“
„Weiber?! Störend?! Bist du schwul, oder was?“
„Und wenn?“ Herausfordernd schaute er mich an.
Ich wurde unsicher unter seinem Blick. „Du kannst mich mal!“, zischte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. „Lass mich einfach in Frieden.“
„Nichts lieber als das. Dasselbe erwarte ich von dir.“
„Weißt du was?“, schrie ich ihn an. „Du müsstest nicht Grau heißen, sondern Grauen. Oder Grauenhaft. Dominik Grauenhaft. Der Name würde zu dir passen.“
„Wenn das von dir kommt, fasse ich es als Kompliment auf.“
Weg war er.
„Dominik ist ein echter Kotzbrocken“, erzählte ich Annika später. „Er bringt einen zur Weißglut. Man kann einfach nicht nett zu ihm sein.“
***
Ein paar Tage darauf kam er mittags noch mürrischer nach Hause als sonst.
„Was hat dir denn die Petersilie verhagelt?“, fragte ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, nie mehr das Wort an ihn zu richten.
„Nichts.“
Ich schnaufte durch die Nase. „Was frage ich überhaupt? Dir ist die Petersilie nicht bloß verhagelt, du hast gar keine. Ständig ziehst du ein Gesicht.“
Es stellte sich heraus, dass er in der Englischklausur eine Zwei plus hatte. Keine Eins oder Eins Minus wie üblicherweise. „Seine Sorgen möchte ich haben“, dachte ich, während ich zuhörte, wie er sich bitter bei seinem Vater über die Note beklagte. Die beiden saßen im Wohnzimmer. Die Tür war zu, aber Dominik sprach so laut, dass es reichte, im Flur stehen zu bleiben, um jedes Wort verstehen zu können.
„Der Kerl spinnt“, schimpfte er. „Was der erwartet, kann kein Schüler leisten.“
Was Stefan antwortete, konnte ich nicht hören. Er sprach relativ leise. Wahrscheinlich fragte er, wie der Klassendurchschnitt war, denn Dominik beschwerte sich, dass es im gesamten Kurs nur eine Eins minus gab. Er wollte, dass sein Vater mit dem Lehrer redete. „Du musst ihm sagen, dass er Unmögliches verlangt.“
„Das werde ich auf gar keinen Fall tun!“
Ich hörte Blättern. Stefan guckte sich wohl die Klausur an. „Da hast du aber einige Fehler gemacht“, stellte er fest.
„Ich bin eben nicht besonders gut in Grammatik. Aber mit dem Inhalt gleiche ich das immer aus.“
„Darauf würde ich mich nicht verlassen. Stattdessen könntest du ein paar Grammatikregeln wiederholen. Ich sehe zum Beispiel, dass du vor allem Zeitfehler gemacht hast. Warum fängst du nicht damit an?“
Mir fiel ein, dass Annika mir vor einiger Zeit ein Buch gegeben hatte mit Regeln und Übungen. Das hatte mir tatsächlich geholfen. Ich platzte ins Wohnzimmer. „Ich habe ein gutes Buch, mit dem du Grammatik üben kannst.“
Die beiden starrten mich an. „Du hast an der Tür gelauscht!“, rief Dominik entrüstet.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mich verraten hatte. Himmel, war mir das peinlich! Ich stotterte was von „zufällig im Vorbeigehen gehört“.
„Dann musst du aber seeehr langsam vorbeigegangen sein ...“
Stefan mischte sich ein. „Guck dir Merles Buch doch mal an.“
Ein geringschätziger Blick traf mich. „Was die gut findet, kann nur Mist sein.“
„Rede nicht solch einen Unsinn“, war das Letzte, was ich Stefan sagen hörte, bevor ich die Tür hinter mir zuknallte. Ihm konnte man absolut nichts vorwerfen, er war okay. Aber sein Sohn ... Einfach grässlich! Grauenvoll!
Ich beschwerte mich bei Mama über Dominik.
„Das wird schon“, meinte sie zuversichtlich. „Ihr rauft euch bestimmt noch zusammen.“
„Du irrst dich. Das wird nie was“, sagte ich im Brustton der Überzeugung.