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Ein frostiger Empfang

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Als Spirito die Marmorterrasse des Schlosses erreichte, kam ihm ein so auffallend elegant gekleideter Mann entgegen, daß er dachte, von dem berühmten Herrn Vivato persönlich empfangen zu werden. Dieser Irrtum klärte sich allerdings rasch auf: Der Mann im goldfarbenen Seidenanzug war sein Vorgänger Dr. Kasimir, der Spirito in das neue Amt einführen sollte. Kasimir führte den Ankömmling in einen Salon des Schlosses und ließ ihn durch einen Diener mit Tee und Törtchen bewirten.

»Ich habe noch eine Stunde Zeit«, sagte er, während er sich in einen Sessel sinken ließ und eine bleistiftlange Zigarette anzündete. »Ich denke, das genügt, um Sie vorzubereiten. Können Sie sich vorstellen, was Sie hier erwartet?«

»Nun ja«, antwortete Spirito, »die Vivatos sind nicht unbekannt. In den Zeitungen steht genug über sie. Und was ich bisher über den Sohn hörte, klang eher entmutigend. Aber ich bin entschlossen, es mit ihm zu versuchen.«

Kasimir blies mit runden Lippen kleine Qualmringe in die Luft. Dem letzten lächelte er boshaft nach und sagte: »Bester Kollege Spirito, Entschlossenheit nützt Ihnen gar nichts bei der Erziehung dieses verhätschelten Teufels.«

»Ist der Junge denn ein Teufel?«

»In jeder Hinsicht. Werfen Sie ihm Ihren Charakter vor die Füße, daß er darauf herumtrampeln darf – es macht sich bezahlt.«

»Was soll das heißen?« fragte Spirito.

Kasimir blickte ihn höhnisch aus zusammengekniffenen Augen an. Mit vertraulich gesenkter Stimme erklärte er: »Schlagen Sie sich den Unsinn aus dem Kopf, hier den guten Erzieher spielen zu wollen. Das bringt Ihnen nichts. Das einzige, was Sie hier erreichen können, ist, in kurzer Zeit ein gemachter Mann zu werden. Insofern ist Schloß Vivato ein Paradies.«

»Paradies? Ich verstehe kein Wort.«

»Sie werden verstehen lernen. Mir könnte es ja gleichgültig sein, was aus Ihnen wird. Aber wie Sie aussehen«, Kasimir musterte Spirito von Kopf bis Fuß, »können Sie es sicher vertragen, in kürzester Frist eine Menge Geld einzuheimsen. Ich kam vor zwölf Wochen genauso abgewetzt an wie Sie …« Mit seinen Fingern, an denen Brillantringe blitzten, deutete Kasimir auf Spiritos Köfferchen und fuhr fort: »Und heute? Sehen Sie da drüben vor den Garagen die nagelneue Luxuslimousine? Gehört mir. Lohnt es sich etwa nicht, sich dafür ein paar Wochen von einem verzogenen Teufelchen schikanieren zu lassen?«

»Ja … nein … ja«, stammelte Spirito, »aber mit solchen Nebenabsichten kann man doch nicht ein Kind erziehen!«

»Seien Sie nicht schmalzig, Spirito. Was interessiert mich im Grunde der Junge? Man muß die Gelegenheit wahrnehmen! Und hier ist eine Menge herauszuholen!«

Spirito senkte den Kopf. Er mochte nicht länger in die eitlen Augen Dr. Kasimirs blicken. »Aha, so ist das also«, murmelte er, »wollen Sie jetzt bitte meinen künftigen Schützling rufen?«

»Ru-fen?« Kasimir brach in schallendes Gelächter aus. »Rufen? Mann, Sie haben es mit dem einzigen Erben eines schwerreichen Mannes zu tun! Zu dem müssen Sie sich schon selbst bequemen. Aber warten Sie, ich möchte Ihnen noch einen nützlichen Rat geben: Tun Sie stets, was der Bengel will. Geben Sie ihm immer Recht, auch wenn er Blödsinn faselt. Er ist das so gewohnt. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß es sich bezahlt macht. Damit haben sich schon zweiundsechzig Erzieher, Damen wie Herren, vor uns gesund gewirtschaftet.« Dr. Kasimir legte grinsend seine geschmückte linke Hand an die Brust, als wollte er auf seine wohlgefüllte Brieftasche hinweisen.

Spirito stand so heftig auf, daß das Teetischchen vor ihm wackelte und klirrte. Er hätte den Kollegen gern saftig beleidigt, aber etwas schnürte ihm die Kehle zu. Mit gesenktem Kopf folgte er Dr. Kasimir ins Schloßinnere.

Sie kamen durch einen langen Gang, dessen Wände mit Matten von verflochtenem Schlangenleder behängt waren.

Mit Kennermiene flüsterte Dr. Kasimir: »Kostet ein Vermögen!«

Spirito nickte angewidert. Gleich darauf drückte Kasimir auf einen von vielen goldenen Knöpfen in der Wand. Erstaunt sah Spirito, wie eine mit Perlmuttmosaik ausgelegte Fläche, die er für einen weiteren Wandschmuck gehalten hatte, zur Seite glitt. Sie traten in ein großes helles Zimmer, das über und über mit verschiedensten Tierfellen ausgekleidet war. Es wirkte wie ein riesiges buntscheckiges Nest.

An der gläsernen Außenwand lag, den Blick nach draußen gerichtet, auf einem Leopardenfell ein weißgekleideter Junge. Er stand nicht auf, er wendete nicht einmal den Kopf, als er seine Erzieher eintreten hörte.

Dr. Kasimir flüsterte Spirito ins Ohr: »Das ist Tobino, einziger Sohn des Hauses. Wir müssen warten, bis er selbst uns anspricht.«

Spirito hielt es nicht länger aus. War er ein Regenwurm an einem Angelhaken? Wütend sah er seinen Vorgänger an und fragte: »Sind wir Erzieher oder Knackwürstchen?«

Dr. Kasimir öffnete entsetzt den Mund und legte sofort seine Hand darüber. Das sollte eine Warnung sein. Aber Spirito, ziemlich erhitzt von den bisherigen Eindrücken, setzte seinen Koffer auf das silberne Persianerfell, auf dem er selbst stand, und rief dem Jungen zu: »Hallo, Tobino! Wollen wir uns nicht begrüßen?«

Der Junge fuhr auf. Er sperrte wie Kasimir den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. In seinen weit geöffneten Augen standen Überraschung, Neugierde.

Spirito musterte ihn finster. Sein Zorn verflog, als er den schokoladenverschmierten Mund und auf dem weißen Anzug einen großen Kakaofleck entdeckte. Langsam zog er sein Taschentuch hervor, ging auf Tobino zu, packte ihn am Kinn und sagte: »Spuck auf das Tuch!«

Tobino starrte zu ihm auf, beugte sich gleich darauf vor und spuckte kräftig auf das Tuch. Pinselig wischte Spirito ihm den Mund ab. Danach nahm er Tobinos Hand und sagte: »Guten Tag.«

Aber Tobino entzog ihm seine Hand, zerrte sein eigenes Taschentuch heraus, spuckte hinein und versuchte, auch den Kakaofleck von seinem Anzug zu entfernen.

Spirito beobachtete ihn. Seit er vor fünf Jahren seine Ausbildung beendet hatte, war er in verschiedenen Häusern Erzieher gewesen. Er stellte fest, daß Tobino sich äußerlich kaum von seinen bisherigen Zöglingen unterschied. Allerdings hatte er noch nie ein Kind so verbissen in sein Taschentuch spucken und an einem Schmutzfleck herumreiben gesehen. »Du wirst kein Glück haben«, meinte er, »Kakaoflecken verschwinden nicht so leicht.«

Tobino blickte ihn an. Jetzt endlich fand er seine Sprache wieder: »Aber ich will ihn rauskriegen, und wenn es drei Stunden dauert! Dann hätte ich drei Stunden lang etwas zu tun. Haben Sie schon mal drei Stunden hintereinander etwas zu tun gehabt?«

»Drei? Lächerlich. Zehn Stunden und noch mehr!«

Tobino vergaß zu reiben. »Was war das? War es interessant?«

»Jedenfalls interessanter als deine Wischerei. Das solltest du besser den Wäschepflegern überlassen.«

»Die haben schon genug zu tun. Alle haben etwas zu tun! Nur ich nicht! Nein, dieser Fleck gehört endlich einmal mir.« Er spuckte noch einmal in sein Tuch.

Von der Tür her erklang ein Räuspern. Herr Dr. Kasimir stand noch immer dort. »Wenn ich es mir erlauben darf«, sagte er schmeichlerisch, »dann möchte ich dir empfehlen, mein Liebling, dich umkleiden zu lassen.«

Tobino starrte ihn ein Weilchen an, als müßte er sich erst besinnen, wer Kasimir war. Plötzlich stampfte er mit dem Fuß und schrie ihn an: »Hören Sie mit Ihrem dämlichen Umkleiden auf, es ist genau so langweilig wie Sie!« Er blinzelte Spirito zu und sagte: »Wissen Sie was? Ich habe eine Idee: Ab heute machen wir uns unsere Sachen selbst sauber. Erst machen wir uns richtig schmutzig, und hinterher machen wir sie sauber. Dann haben wir den ganzen Tag etwas zu tun!« Spirito rümpfte die Nase, kraulte seinen roten Haarschopf und meinte: »Das liegt mir nicht. Dreckig machen – saubermachen? … Ziemlich trostlos. Ich wüßte bessere Beschäftigungen.«

Tobinos Blick wurde mißtrauisch: »Meinen Sie vielleicht lernen? Oder umkleiden? Oder Kino sehen und spazieren fahren?«

»Nein, daran hatte ich jetzt nicht gedacht.«

»Verzeihen Sie meine abermalige Einmischung«, klang es von der Tür her, »ehe Sie sich ganz in Ihr Gespräch vertieft haben, möchte ich bitten, mich empfehlen zu dürfen.« Dr. Kasimir stand mit angelegten Händen und geneigtem Kopf wie ein Spazierstock auf dem Schaffell.

Tobino grinste und rief: »Das war der beste Einfall, den Sie bisher hatten. Also gehen Sie, verschwinden Sie!«

»Möchtest du mir nicht Aufwiedersehen sagen, mein kleiner Liebling?« säuselte Kasimir, als rechnete er mit einem letzten Trinkgeld.

»Aufwiedersehen?« sagte Tobino. »Einen wie Sie möchte ich mein ganzes Leben nicht wiedersehen! Schade um das viele Geld, das Papa Ihnen gegeben hat. Ich hätte es lieber in den Kaugummiautomaten stecken sollen, dann hätten wenigstens meine Zähne vierzehn Tage lang was zu tun gehabt!«

Kasimir richtete sich kerzengerade auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Gesicht verzerrte sich. Er sah aus, als hätte er wochenlang Gallebitteres geschluckt, um es in diesem Augenblick wieder loszuwerden. »Mit Vergnügen«, stieß er tückisch hervor, »mit dem größten Vergnügen gehe ich. Und dir mißratenem Teufel wünsche ich allen Schwefel der Hölle in den Hals. Viel Glück, Spirito!«

Spirito antwortete nicht. Er hatte den Wortwechsel mit gesenktem Kopf verfolgt und sich für Kasimir geschämt. Jetzt hörte er die Schiebetür leise zur Seite gleiten, hörte Dr. Kasimir auf den Gang eilen und sich entfernen.

Als er aufblickte, sah er in Tobinos zufrieden lächelndes Gesicht. Ein Weilchen blickte er ihn düster an. Dann wandte er sich schroff ab, trat an die gläserne Außenwand und schaute in den Garten. Er sah einige mit Koffern beladene Diener auf die Garagen zueilen und die Gepäckstücke in Dr. Kasimirs Auto verstauen. Kasimir folgte ihnen, setzte sich ans Steuerrad und fuhr, krampfhaft geradeaus blickend, durch das Rosentor hinaus auf die Allee, die zur Stadt führte.

»Das war der Dreiundsechzigste«, hörte er Tobino hinter sich sagen, »er hat einen Haufen Geld eingeheimst. Sie können froh sein, daß Sie diesen Posten erwischt haben!«

»Ich möchte nie wieder solche Dämlichkeiten von dir hören«, sagte Spirito drohend.

Sekundenlang blieb es hinter ihm still. Schließlich hörte er zwei, drei durch die Felle gedämpfte Schritte auf sich zukommen. Er blickte zur Seite in Tobinos Gesicht. Verwundert sah er darin einen begeisterten Ausdruck.

»Sind Sie streng?« fragte Tobino.

»Ja, ich werde streng mit dir sein.«

»Mit Verprügeln und Schimpfen und Strafarbeiten?«

Spirito schüttelte den Kopf. »War je ein Erzieher derart streng mit dir?«

»Nein, nie. Neulich habe ich einen Film gesehen, da war ein Lehrer streng mit seinen Schülern. Da hatten sie dauernd etwas zu tun.«

»Was hatten sie zu tun?«

»Sie dachten sich alles Mögliche aus, um den Lehrer zu ärgern – und nicht erwischt zu werden. Wenn Sie auch so streng sein wollen, werde ich Papa bitten, daß Sie schnell zu Geld kommen!«

»Aber ich will gar kein Geld dafür«, sagte Spirito kopfschüttelnd, »ich habe mir nämlich vorgenommen zu versuchen …« Er stockte.

Fassungslos fragte Tobino: »Sie wollen kein Geld? Aber alle wollen doch Geld!«

»Du solltest davon nicht so überzeugt sein, Tobino. Es gibt sicher welche, wenn auch nicht viele, die viel weniger Geld haben und doch mit dir nicht tauschen würden. Einer von denen bin ich.«

»Sind Sie etwa nicht hergekommen, um viel Geld zu verdienen?«

»Nein.«

Tobino biß sich auf die Lippen. »Sind Sie«, fragte er mit gedämpfter Stimme wie ein Verschwörer, »sind Sie etwa noch reicher als wir?«

»Vielleicht. Da ich immer glücklich und zufrieden bin, muß ich wohl irgendwie reich sein.«

»Was macht glücklich und zufrieden?« rief Tobino.

»Bist du es denn nicht?« fragte Spirito.

Tobino zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was es ist. Darum kann ich nicht sagen, ob ich es bin. Wollen Sie es mir zeigen?« Zum erstenmal lächelte Spirito. »Ich will es versuchen«, sagte er entschlossen, »ja, ich will es versuchen. Und jetzt solltest du mich endlich deinen Eltern vorstellen.«

»Wem?«

»Deiner Mutter! Deinem Vater! Ich möchte sie begrüßen und mich mit ihnen bekannt machen.«

Tobino schüttelte den Kopf: »Die sind nicht hier. Papa kommt ganz selten nach Hause. Er muß so viel arbeiten. Und wenn er da ist, hat er nie Zeit für mich.«

»Und deine Mutter?«

»Ich weiß nicht, sie ist irgendwo zur Kur, in Indien oder in Grönland, wo man Kopfschmerzen los wird. Sie hat dauernd Kopfschmerzen. Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen.« Er seufzte und blieb mit hilflos hängendem Kopf vor Spirito stehen. Deshalb konnte er auch nicht sehen, daß sein neuer Erzieher plötzlich die Brille abnahm und sie sorgfältig mit seinem Taschentuch putzte.

Wie dumm, sagte sich Spirito, wie dumm war doch mein Zorn vorhin. Er setzte sich die Brille wieder auf die Nase und streckte seine Hand nach Tobino aus. Eigentlich wollte er dem Jungen freundlich durch das dunkle Haar fahren, aber im letzten Augenblick dachte er, daß Mitleid in diesem Fall übertrieben wäre. So ließ er die Hand nur auf Tobinos Schulter fallen und sagte: »Dann tun wir eben etwas anderes.«

Tobino strahlte ihn an. »Etwas tun? O ja! Was?«

»Du könntest mir dein großes Reich zeigen, damit ich mich künftig darin zurecht finde. Spielen wir also Fremdenführer und Museumsbesucher. Du bist der Fremdenführer, ich bin der Gast. Ich habe von der berühmten Ausstellung gehört, bin extra dafür von weit her gekommen. Nun möchte ich sie besichtigen.«

»Und wo fangen wir an?« fragte Tobino.

Spirito zog die Schultern hoch und sagte: »Sie müssen sich in Ihrem Reich auskennen, mein Herr.«

Tobino griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her.

Tobinos Insel

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