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Die geschenkte Welt

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Beim Frühstück schlug Herr Spirito vor, Tobino nicht im Schulzimmer zu unterrichten, sondern lieber in der gläsernen Kuppel und besonders im Garten. »Wir können auch in die Umgebung wandern«, schloß er.

Tobino legte rasch einen Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit einer Kopfbewegung zum Diener, der ihnen Kakao, Brote, Eier und Schinken, Honig, Ananasgelee und Schlagsahne, Pfirsiche, Süßkirschen und Erdbeeren servierte. Verständnislos blickte Spirito von einem zum andern. Tobino rief dem Diener zu: »Gehen Sie mal für fünf Minuten hinaus auf den Gang!«

Kaum hatte der Diener sich entfernt, flüsterte Tobino: »Ich gebe Ihnen hundert Mark, wenn Sie es fertigbringen, mich unbemerkt aus dem Schloßpark zu schmuggeln!«

»Was soll das? Ich schlage dir einen harmlosen Ausflug vor, und du willst mich zu zwielichtigem Treiben aufwiegeln?«

»Das ist nämlich so: Ich darf nicht in die Umgebung wandern. Papa hat ständig Angst um mich. Ich könnte auf ungepflegten Wegen stolpern und mir den Hals brechen …«

»Dann doch wohl eher auf den blanken Böden hier!«

»Das ist ja noch nicht alles«, fuhr Tobino fort, »ich könnte von Schlangen oder tollwütigen Hunden gebissen werden oder erfrieren oder in Gräben fallen oder überfahren werden oder – was Papa am meisten fürchtet: ich könnte gestohlen werden!«

»Ge-stoh-len? Welcher Dieb hätte einen so ausgefallenen Geschmack?«

»Wissen Sie nicht, daß gerade Kinder von reichen Leuten gern gestohlen werden? Die Eltern sollen dann ein hohes Lösegeld bezahlen.«

Spirito stöhnte: »Erstens gehe ich mit dir. Zweitens kennt dich doch nicht jeder!«

»Doch. In allen Zeitungen waren schon viele Fotos von mir. Ich bin nämlich berühmt.«

»Auch das noch! Dann zieh dich eben unauffällig an, armselig und möglichst schmutzig.«

»Aber ich habe nichts Armseliges! Außerdem darf ich nur mit dem kugelsicheren Auto hinausfahren. Jedesmal fahren zwei Autos mit Detektiven mit. Die passen mit Adleraugen auf mich auf. Jeder hat zwei Revolver.«

»Du verdirbst mir das köstliche Frühstück«, sagte Spirito, »ich muß mit deinem Papa über diese Angelegenheit reden. Sie sollte schleunigst geändert werden.«

»Schreiben Sie ihm doch einen Brief!«

»Nein, solche Dinge muß man mündlich ausmachen.«

»Bis Papa kommt, dauert es zu lange.«

»Das werden wir sehen. Solange ich nicht mit ihm darüber gesprochen habe, fahren wir vorschriftsmäßig mit der Autokarawane. Spaßeshalber würde ich das gern einmal ausprobieren.«

Der Diener trat wieder ein, weil die fünf Minuten abgelaufen waren. Er sah Tobino und Spirito finster grübelnd vor ihren Tellern sitzen. Es beunruhigte ihn nicht. Er war es gewohnt, Tobinos Erzieher in stummer Verzweiflung und den kleinen Herrn schlecht gelaunt zu sehen.

Gleich darauf erhoben sich die beiden und fuhren hinauf in die Glaskuppel, um mit ihrer ersten gemeinsamen Schulstunde zu beginnen.

»Gestern abend haben Sie mir etwas versprochen«, sagte Tobino. »Sie wollten erzählen, wie Himmel und Erde erschaffen wurden.«

»Richtig. Es ist die großartigste Geschichte, die ich kenne.«

»Wie wurden die Steine gemacht? Das Eisen? Und das Gold?«

»Warte, Tobino, wir fangen ganz vorne an.«

Tobino setzte sich auf die Rundbank, Spirito ihm gegenüber und fing an: »Du mußt dir zunächst vorstellen, daß es alles, was du siehst, nicht gab. Die Erde war eine einzige Wasserwüste und lag in völliger Finsternis. Es gab keine Sterne, keine Sonne, keinen Mond, nicht Menschen, Tiere und Pflanzen, keinen Sand, keine Steine – nichts als Finsternis und Wasser. Die Erde war wüst und leer …«

Spirito zog ein schwarzes Buch aus einer Jackentasche. »Hier ist das Buch«, sagte er, »das von der Welterschaffung erzählt. Es ist die Bibel. Ich lese dir das erste Kapitel vor, weil ich diese Glaubensgeschichte selbst nicht besser erzählen könnte. Wenn du Fragen hast, besprechen wir sie anschließend. Die nächsten Wochen verwenden wir darauf, die Schöpfung zu besichtigen. Bist du mit meinem Unterrichtsplan einverstanden?«

»Fangen Sie doch endlich an!«

Spirito schlug das Buch auf und las vor:

»Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

Die Erde aber war wüst und öde,

Finsternis lag über der Urflut,

und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.

Gott sprach:

Es werde Licht.

Und es wurde Licht.

Gott sah, daß das Licht gut war.

Gott schied das Licht von der Finsternis,

und Gott nannte das Licht Tag,

und die Finsternis nannte er Nacht.

Es wurde Abend, und es wurde Morgen:

erster Tag.

Dann sprach Gott:

Es werde ein Firmament

zwischen Wasser und Wasser.

Gott schied das Wasser unterhalb des Gewölbes

vom Wasser oberhalb des Gewölbes.

Gott nannte das Gewölbe Himmel.

Es wurde Abend, und es wurde Morgen:

zweiter Tag.

Dann sprach Gott:

Das Wasser unterhalb des Himmels

sammle sich an einem Ort,

damit das Trockene sichtbar werde.

So geschah es.

Das Trockene nannte Gott Land,

und das angesammelte Wasser nannte er Meer.

Gott sah, daß es gut war.

Dann sprach Gott:

Das Land lasse junges Grün wachsen,

Pflanzen, die Samen tragen,

und Bäume, die Früchte bringen.

Gott sah, daß es gut war.

Es wurde Abend, und es wurde Morgen:

dritter Tag.

Dann sprach Gott:

Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein,

um Tag und Nacht zu scheiden

und über die Erde hinzuleuchten.

So geschah es.

Gott machte die beiden Lichter,

das größere, das über den Tag herrscht,

das kleinere, das über die Nacht herrscht,

und dazu die Sterne.

Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe.

Gott sah, daß es gut war.

Es wurde Abend, und es wurde Morgen:

vierter Tag.

Dann sprach Gott:

Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen,

und Vögel sollen am Himmelsgewölbe dahinfliegen.

Gott schuf alle Arten von Wassertieren

und von gefiederten Vögeln.

Gott sah, daß es gut war.

Gott segnete sie und sprach:

Seid fruchtbar und vermehrt euch.

Bevölkert das Wasser und die Luft.

Es wurde Abend, und es wurde Morgen:

fünfter Tag:

Dann sprach Gott:

Das Land bringe alle Arten

von lebendigen Wesen hervor,

von Vieh, von Kriechtieren

und von Tieren des Feldes.

So geschah es.

Und Gott sah, daß es gut war.

Dann sprach Gott:

Laßt uns Menschen machen.

Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres,

über die Vögel des Himmels, über das Vieh

und über alle Kriechtiere auf dem Land.

Gott schuf den Menschen als sein Abbild,

als Abbild Gottes schuf er ihn.

Er schuf sie als Mann und als Frau.

Gott segnete sie und sprach zu ihnen:

Bevölkert die Erde, macht sie euch untertan

und herrscht über die Tiere.

Dann sprach Gott:

Ich übergebe euch alle Pflanzen.

Sie sollen euch zur Nahrung dienen.

So geschah es.

Gott sah alles an, was er gemacht hatte:

Es war sehr gut.

Es wurde Abend,

und es wurde Morgen:

der sechste Tag.

So wurden Himmel und Erde vollendet.

Und Gott ruhte am siebten Tag,

nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte.

Und Gott segnete den siebten Tag

und erklärte ihn für heilig.

Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde.«

(nach Genesis 1–2,4)

Tobino hatte seine Hände um die Knie gelegt und hörte Spirito gebannt zu, der hin und wieder von der Bibel aufschaute und die Schöpfungswerke in allen Einzelheiten ausmalte. Er zählte die Kontinente und Länder auf, die geschaffen wurden, die Wüsten, Gebirge und Urwälder samt Tieren und Pflanzen.

Tobino blieb wie versteinert noch ein Weilchen sitzen, als Spirito aufhörte und das Buch schloß. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Es stimmt, es ist alles da«, sagte er gedankenvoll, »Licht, Himmel, Erde, Pflanzen, Tiere und Sonne, Mond und Sterne und die Menschen – aber das kann doch nicht einer ganz allein gemacht haben!«

»In der Bibel heißt es: Für Gott ist nichts unmöglich.« »Kann Gott etwa alles?«

»Wir können es ihm zutrauen.«

Tobino kniete sich auf die Rundbank und starrte hinaus, beugte sich dann vor und spähte hinunter in den Schloßpark. »Aber den Garten«, rief er triumphierend, »hat Papa anlegen lassen!«

»Wer läßt ihn grünen und blühen?«

»Die Gärtner!«

»Wir Menschen können die Schöpfungswerke nur pflegen und verwalten. Oder haben die Gärtner etwa die Blumen erfunden?«

»Die Gärtner nicht …«

»Wer sonst?«

»Sicher stimmt es, was Sie sagen, es steht ja auch in dem Buch!«

»Es stimmt für alle Menschen, die an Gott glauben, und ich bin einer davon. Was beunruhigt dich also?«

Tobino drehte sich langsam zu Spirito um und sagte stokkend: »Ich muß es unbedingt wissen, Herr Spirito: Wer hat die ganze Welterschaffung bezahlt? Wenn Schloß Vivato schon so teuer ist – wie teuer muß die Welt erst gewesen sein!«

Spirito hatte sich noch immer nicht an Tobinos Gedankengänge gewöhnt. Er lachte kurz auf und begann, mit langen Schritten auf – und abzuschreiten. »Der die Welt erschaffen hat, rechnet nicht. Ja, denke dir: Er hat uns seine Schöpfung geschenkt! Und damit wir sie genießen können, schenkte er uns Augen, das Licht zu sehen, Ohren, die Vögel singen zu hören, Nasen, die Blumen zu riechen – ja, und zwei Füße, die seine Welt durchstreifen.«

»Und Autos«, sagte Tobino.

Spirito wirbelte zu ihm herum. »Vorhin beim Frühstück erst hast du mir erzählt, daß deine Autos wie Gefängnisse sind. Von Autos aus kann man die Welt nicht schmecken und riechen. Hör auf, damit anzugeben.«

Tobino lief rot an: »Und Sie geben ja nur mit Ihren großen Füßen an!« schrie er wütend, »haben Sie mit denen etwa die Welt gesehen? Die ganze Welt?«

»Dazu braucht man nur vor die Tür zu gehen.«

»Sie mit Ihren Sprüchen! Sie sagen das nur, weil Sie sich keine Weltreise leisten können. Aber ich, mit Papas Autos und Schiffen und Flugzeugen – ich habe die ganze Welt gesehen. Fünfmal schon habe ich Weltreisen gemacht!«

»Ist es möglich!« rief Spirito überrascht. »Und das hast du mir nicht erzählt? Das möchte ich gerne genau wissen. Warst du in Afrika?«

»Natürlich war ich in Afrika.«

»Herrlich! Wo denn?«

»Im Hotel Eden. Und im Hotel Exelsior.«

»Im Hotel Eden! Im Hotel Exelsior! Warst du auch in Indien?«

»Natürlich war ich in Indien.«

»Prächtig! Wo?«

»Im Hotel Bombay und in einem riesigen alten Palast.«

»Verstehe. Und warst du auch in – Grönland?«

»Nein. Papa sagt, dort gebe es keine ordentlichen Hotels.«

»Ich verstehe. Ich frage mich nur: Was hast du eigentlich von der Welt gesehen?«

»Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt: Afrika zum Beispiel. Und Indien!«

»Aber was hast du von Afrika und Indien gesehen?« fragte Spirito noch einmal.

»Es gibt Palmen dort …«

»Das sieht man auf jedem Reiseprospekt. Im Lexikon steht es auch.«

»Es ist wärmer dort als hier!«

»Das weiß heutzutage jeder Schulanfänger.«

Tobino senkte den Kopf und starrte auf seine Schuhe.

Mit zwei Schritten war Spirito bei ihm und legte seine Hände auf die nach vorn gesunkenen schmalen Schultern. »Ich sage dir, was du von der Welt gesehen hast, Tobino. Du hast das Hotel Eden gesehen und das Hotel Exelsior, einige Schlösser, das Hotel Bombay, sicher noch viele andere Hotels. Deine Weltreisen machen mich traurig. Aber wenn du willst, Tobino, können wir ja zusammen kleine Weltreisen machen, ganz andere als deine großen ersten, Hast du Lust?«

Tobino nickte, ohne aufzublicken.

»Und inzwischen«, schlug Spirito vor, »machen wir einen Ausflug mit deiner Autokarawane, damit mein Unterricht uns nicht überanstrengt.«

»Und wann betrachten wir uns die Schöpfung?« fragte Tobino.

»Ab heute jeden Tag.«

Tobinos Insel

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