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Kurzschluß in der Kuppel

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Zuletzt, als schon der Abend dämmerte, fuhr Tobino mit seinem neuen Erzieher im Lift hinauf in die gläserne drehbare Kuppel, die Schloß Vivato krönte: Tobinos Spielzimmer. Sie waren kaum eingetreten, als Tobino stolz den Mechanismus betätigte, der die Kuppel in Bewegung setzte. Der Raum schlingerte wie ein Schiff um seinen Anker.

»Nicht in der Mitte stehenbleiben«, riet Tobino, »da merkt man nicht, daß man fährt. Hier, kommen Sie auf die Rundbank!«

Spirito ließ sich erschöpft auf die weich gepolsterte, mit weißem Leder bezogene Bank fallen. Dieser Tag hatte ihn sehr angestrengt. Nach dem üppigen Mittagessen hätte er gern ein Stündchen geschlafen, doch Tobinos Begeisterung über das Fremdenführerspiel hatte ihn mitgerissen. Es war, als entdeckte Tobino selbst zum erstenmal richtig das Schloß Vivato. Sie ließen sogar am Nachmittag den Kaffee kalt werden und verzichteten auf Eis, Gebäck und Schlagsahne.

Sie hatten beim Rosentor begonnen, hatten den riesigen Park und die Nebengebäude durchstreift, auch der Hansekogge im Teich einen Besuch abgestattet und schließlich das ganze Schloß besichtigt. Spirito konnte nur noch mühsam die zahllosen Besonderheiten würdigen.

Jetzt, während er auf der Rundbank im Kreis herumfuhr, was ihn schwindelig machte, flossen die Eindrücke wie zu einer dicken bunten Soße zusammen. Fast jede Tür, jedes Fenster, jedes Gerät und viele Möbel in diesem Hause waren technische Wunderwerke. Spirito hatte gestaunt und bewundert, daß Tobinos Stolz auf sein Besitztum wuchs. Die Techniker, Physiker und Chemiker in den Fabriken seines Vaters hatten monatelang an einzigartigen Erfindungen für Schloß und Park gearbeitet. Alles funktionierte lautlos vollelektronisch, durchkreuzt von Vorwarn- und Alarmanlagen. Und immer wieder hatte Tobino beteuert: »Was glauben Sie, wieviel das alles gekostet hat!«

Es war zu viel. Spirito fühlte sich ziemlich miserabel. »Stell das Karussel ab«, bat er, »sonst wird mir schlecht.«

Tobino zog einen Hebel, die gläserne Kuppel stand still. »Gefällt es Ihnen nicht?« fragte er besorgt.

»Ich stelle mir vor«, sagte Spirito, »welche Hitze sich in der Kuppel breitmacht, wenn die Mittagssonne darauf scheint.«

Tobino lachte. »Dagegen sind Kühlanlagen, Windgeräte, Luftbefeuchter und künstliche Schatten da.«

»Das hätte ich mir denken können«, brummte Spirito und blickte sich um. Die Rundbank war das einzige Möbelstück in dem großen kreisrunden Raum. Den mit einem glatten, duftenden Kunststoff belegten Fußboden bedeckten herumliegende Spielsachen. Man hätte mit ihnen fast einen Eisenbahnwaggon füllen können.

»Wann spielst du hier?« fragte Spirito.

Tobino schob die Unterlippe vor: »Fast nie.«

»Bist du oft abends hier oben?« fragte Spirito.

»Nein. Abends sehe ich mir unten meistens Filme an. Oder ich schwimme im Keller im Warmwasserbecken, bis ich müde bin.«

»Bist du nie abends hier oben gewesen?«

»Weiß ich nicht, kann mich nicht erinnern. Warum?«

»O, ich könnte mir denken, daß es in einer klaren Sternennacht hier oben wunderbar sein müßte!«

»Wir haben eine klare Sternennacht. Und nichts ist wunderbar.«

»Mach das Licht aus, dann beweise ich es dir.«

Tobino blickte sich suchend um und sah dann Spirito verlegen an. »Das geht leider nicht«, erklärte er.

»Geht nicht? Man muß doch die Beleuchtung ausmachen können!«

»Es geht wirklich nicht. Das Licht schaltet sich von selbst ein, sobald es dunkel wird. Das ist auch so eine Erfindung für das Schloß. Und es geht morgens von selbst wieder aus. Dämmerungsschalter! Verstehen Sie?«

Spirito mußte lachen, als er das hörte. Gleichzeitig dachte er, daß man darüber ebensogut weinen könnte.

»Warum lachen Sie?« fragte Tobino verstört. »Die Anlage kostet viel Geld, darüber lacht man doch nicht!«

Und da Spirito nur mit einem verzweifelten Kopfschütteln antwortete, fügte er trotzig hinzu: »Mir gefällt es jedenfalls sehr gut – das ganze Schloß! Kein Mensch hat so ein Schloß wie ich. Ist es nicht schön?«

»Sicher«, sagte Spirito, »es ist dein gutes Recht, dich in deinem Zuhause wohlzufühlen.«

»Ob ich mich hier wohlfühle, weiß ich nicht. Aber schön ist es. Sagen Sie, daß es schön ist! Los!«

»Ich müßte übertreiben.«

»Sagen Sie sofort, daß es schön ist!« wiederholte Tobino stur.

»Du mußt mir schon eine andere Meinung gestatten, Tobino.«

»Wenn ich Ihnen fünfzig Mark gebe – sagen Sie dann, daß Schloß Vivato schön ist?«

»Niemals.«

»Also hundert Mark!«

»Auch für eine Million nicht.«

»Aber das ist dumm von Ihnen! Wissen Sie, was Doktor Kasimir einmal gemacht hat? Ich mußte allerdings ziemlich lange mit ihm handeln. Das war lustig. Als ich ihm schließlich tausend Mark bot, sagte er: Ich bin ein eingebildeter, langweiliger Affe! Das hatte ich ihm vorgesagt.«

»Darauf hätte er auch von allein kommen können«, murmelte Spirito. »Es ist nicht sehr fein, einen Menschen so zu behandeln. Tust du das gern?«

»Bei Doktor Kasimir hat es mir Spaß gemacht.«

»Und bei mir denkst du, kannst du auch alles mit Geld erreichen.«

Tobino senkte sein Gesicht. »Ich hör ja schon auf. Wenn Sie selbst so reich sind, können Sie mir auch umsonst sagen, daß alles in Schloß Vivato schön ist.«

»Ich müßte dich und mich belügen. Das soll man selbst für eine Million nicht tun.«

»Warum finden Sie es nicht schön? Papa hat sich solche Mühe gegeben, alles erfinden und entwerfen zu lassen. Und was es erst kostete! Warum finden Sie es nicht schön?«

»Ich habe eben einen anderen Geschmack.«

»Finden Sie Schloß Vivato etwa nicht geschmackvoll?«

»Wenn du es unbedingt wissen willst: nein.«

»Wieso denn nicht! Es ist doch alles dran!«

»Das ist es ja eben. Geschmackvoll ist, was Maß hat. Was zu sehr auffallen will, ist nicht mehr schön.«

Tobino runzelte die Stirn.

»Du wolltest meine Meinung ja unbedingt wissen!« fügte Spirito hinzu und fragte: »Bist du jetzt gekränkt?«

»Nein. Ich muß darüber nachdenken. Ich muß sofort hinunter ins Fellzimmer und mir lauter Dinge ausdenken, die einfach und doch schön sind!«

»Ist dir schon etwas eingefallen?«

»Warten Sie mal … ja! Wenn im Fellzimmer statt der Felle nur Daunenkissen lägen – die sind einfacher und billiger. Dann wäre es schöner!«

Spirito seufzte: »O Tobino! Nein, den wahren Unterschied werde ich dir nicht an einem Abend beibringen können.«

»Ist es falsch, was ich mir ausgedacht habe?«

»Ganz falsch. Aber du wirst schon noch dahinterkommen.«

»Werden Sie es mir zeigen?«

»Ich werde mir Mühe geben. Aber nicht jetzt. Für heute möchte ich dir noch etwas Besonderes vorschlagen. Ich habe vorhin gesagt, daß ich dir gern beweisen würde, wie wunderbar es jetzt hier oben sein muß, wenn das Licht aus wäre. Wollen wir nicht mal untersuchen, ob es doch zu löschen ist?«

»Ich habe es noch nie versucht.«

»Es muß doch irgendwo einen Schaltkasten für die Anlage geben.«

»Ich weiß etwas Besseres«, schlug Tobino vor, »ich rufe den Hauselektriker herauf. Der muß es ja wissen.«

Er trat zur Wand an eine Sprechmuschel und rief hinein: »Der Elektriker soll sofort rauf in die Kuppel kommen!«

Seine helle Stimme hallte aus mehreren Lautsprechern durch das Schloß.

»Es ist schaurig«, meinte Spirito, »wie viele Möglichkeiten du hast, dich wichtig zu machen. Übrigens hättest du den Mann höflicher heraufbitten können.«

»Bitten? Er wird für seinen Posten ja bezahlt!«

Spirito wandte sich verärgert von ihm und brummte: »Du hast gar kein Hirn mehr im Kopf, nur Zahlen und Berechnungen. Wenn das bei deiner Mutter auch so ist, kann ich mir ihre Kopfschmerzen gut erklären.«

Ehe Tobino antworten konnte, hörten sie den Lift summen. Sekunden später trat der Elektriker ein. Er brachte seinen Werkzeugkasten mit. Tobino stellte sich vor ihn hin, um ihm seine Anweisungen zu erteilen, als er sich auf etwas zu besinnen schien. Er drehte sich noch einmal kurz zu Spirito um und sagte betont: »Wir möchten bitte, daß das Licht hier bitte ausgeht. Versuchen Sie bitte, ob das zu machen ist.«

Der Elektriker starrte Tobino belustigt an. Dann blickte er über ihn hinweg zu Spirito und kniff freundschaftlich ein Auge zu. »Da werden Sie noch viel zu tun haben, Herr Erzieher«, sagte er, »wenn Sie einem, der gewohnt ist zu befehlen, das Bitten beibringen wollen.«

»Ja, ja«, erwiderte Spirito, »aller Anfang ist schwer, heißt es. Wie steht es mit dem Licht – können Sie es ausmachen?«

Der Elektriker wiegte seinen Kopf: »Ich fürchte, das weiß nur der Konstrukteur. Wenn es überhaupt geht! Hier …«, er schlug einen der Banksitze auf, »hier ist die Schaltstelle. Ich möchte nichts daran machen. Die Anlage ist zu kostspielig. Wenn etwas kaputt geht …«

»Kann man nicht wenigstens die Birnen ausschrauben?« fragte Spirito.

»Hier sind gebogene Leuchtstäbe angebracht, keine Birnen. Alles Maßarbeit!«

»Hm, ja, dann müssen wir die Hoffnung auf Dunkelheit in diesem Raum wohl aufgeben«, sagte Spirito und blickte bedauernd zu den unsichtbaren Lichtquellen auf. Der Elektriker folgte seinem Blick.

So sah keiner, wie Tobino sich blitzschnell über den offenen Werkzeugkasten beugte, einen großen Hammer herausriß und sich damit auf die geheimnisvolle Apparatur stürzte. Als der erste Schlag krachte, erstarrten die beiden Männer. Sie konnten auch nicht mehr eingreifen. In der nächsten Sekunde erloschen rings in der Kuppel die Lichter.

Tobino stieß einen Freudenschrei aus und schleuderte den Hammer in seinen Spielzeugberg, daß es klirrte und klapperte. »Ich konnte es!« rief er, »ich habe es ausgeschaltet!« »Das war vermutlich die teuerste Ausschaltung der Welt«, sagte der Elektriker und knipste seine Taschenlampe an, um sich den Hammer wieder zu suchen. »Soll ich eine Notbeleuchtung legen?« fragte er.

»Nein, bitte nein! Bitte keine Beleuchtung!« rief Tobino, »sonst sehe ich das Wunderbare nicht!«

»Also kann ich jetzt gehen?«

»Ja«, mischte sich Spirito ein, »Sie können gehen. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Sache hier. Das bringe ich mit Tobinos Vater ins Reine.«

»Nett von Ihnen. Gute Nacht«, sagte der Elektriker und ging.

Sie hörten, daß draußen wenigstens noch alles funktionierte, auch der Lift.

Tobino atmete auf, als hätte er zum erstenmal im Leben eine Heldentat vollbracht. Durch den finsteren Raum tastete er sich zu Spirito auf die Rundbank. »Und jetzt«, sagte er, »müssen Sie mir das Wunderbare zeigen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Spirito, »ich zweifle daran, daß es für dich ein Ersatz für deine abendlichen Kinovorführungen ist.«

»Ach, Sie wissen ja nicht, wie langweilig es ist, jeden Tag ins Kino zu gehen. Ich schlafe oft dabei ein.«

»Das ist nicht die übelste Wirkung«, sagte Spirito, »obwohl es mich heute kränken würde, wenn du einschliefest. Es würde mich im Namen der Sterne kränken.«

»Wollen Sie mir etwa Sterne zeigen?« fragte Tobino enttäuscht, »ich weiß doch, wie sie aussehen: leuchten wie Taschenlampen und haben spitze Zacken.«

»Das sagst du, ohne zu ihnen aufzublicken?«

Tobino legte den Kopf zurück und blickte durch die gläserne Kuppel hinaus. Nach allen Richtungen sah er den wolkenlosen Nachthimmel, der im Osten um den aufgehenden Mond hell schimmerte.

»Die Japaner bauen sich in ihre Häuser oft ein Mondfenster«, erzählte Spirito, »von dort aus können sie besonders gut den Mondaufgang verfolgen. Manchmal laden sie sich dazu Gäste ein, um sie an dem Schauspiel teilnehmen zu lassen. Dann sitzen sie schweigend am Fenster, trinken Tee, um ihre Sinne zu schärfen und blicken nach Osten, wie jetzt wir beide. Siehst du, wie schnell er kommt? Schau hinab in den Park. Das steigende Mondlicht verwandelt ihn von Sekunde zu Sekunde. Aus Büschen und Bäumen wachsen lange Schatten. Soll ich still sein, damit du es besser betrachten kannst?«

»Kann man es denn hören?«

Spirito mußte lächeln. Er schwieg.

»Man hört nichts«, sagte Tobino, »nur im Garten übt jemand auf einer Geige immer denselben Ton.«

»Das sind Grillen.«

»Was sind Grillen. Sind es Drähte?«

»Tiere sind es! Kleine Insekten, die an Sommerabenden im Gras zirpen. Was hast du bloß in deinen Unterrichtsstunden bisher gelernt?«

»Ich mußte rechnen, immer rechnen. Die Erzieher behaupteten, es sei das einzig Wichtige für mich, weil ich später Papas ganzes Geld bekomme. Am Anfang habe ich auch Lesen und Schreiben gelernt, aber sonst nur Rechnen. Ich mag es nicht, ich habe nie gut aufgepaßt …«

»Da!« rief Spirito. »Eine Sternschnuppe!«

Tobino sah sie noch und sprang auf. Sie stürzte wie ein Feuertropfen aus einem Sternbild und verglomm in der Nacht.

»Was war das!« fragte Tobino aufgeregt. »Ist vielleicht ein Stern runtergefallen?«

»So sah es aus. In Wirklichkeit sind es kleine Himmelskörper aus unserer Galaxie. Wenn sie die oberen Schichten unserer Lufthülle berühren, reiben sie sich daran heiß und leuchten auf.«

»Und wohin fallen sie?«

»Sie verbrennen oder verlassen den Rand unserer Lufthülle wieder, setzen draußen im Weltraum ihre Bahn fort. Und manche fallen auch auf die Erde.«

»Kann auch einer zu uns fallen? O, Herr Spirito, ich möchte, daß ein Stern zu mir fällt!«

»Es sind Sternschnuppen – steinartige oder eisenhaltige Gebilde. Übrigens würde ich mir das nicht wünschen, es ist gefährlich. Vor achtzig Jahren stürzte ein Meteor, wie sie auch heißen, in Sibirien auf die Erde. Er verwüstete beinahe hundert Quadratkilometer Wald. Natürlich gibt es auch winzige Meteore …«

»Jetzt ist der Mond halb über dem Erdrand!« rief Tobino, »ich hätte nie gedacht, daß man es beobachten kann. Ich dachte immer, er ist eben einfach da.«

»Siehst du den breiten Sternenstreifen quer über dem Himmel? Das ist die Milchstraße. Ein Band aus zahllosen Sternen. Es gibt viele, viele Milchstraßensysteme im Weltraum …«

Spirito erhob sich von der Bank und fuhr fort: »Ich zeige dir jetzt einige Sternbilder, von denen du sicher schon gehört hast. Als erstes den Großen Bären mit dem Polarstern, damit du lernst, nachts die Himmelsrichtungen zu finden. Der Polarstern macht dir das leicht, man nennt ihn auch Nordstern …«

Sie standen in der Mitte des Raumes. Spirito legte den linken Arm um Tobinos Schulter und deutete mit der rechten Hand von Stern zu Stern, bis Tobino die Bilder erkannte: Perseus und Giraffe, Kassiopeia, den Drachen, den Adler und die Schlange, die Jagdhunde und beide Bären, das Bild der Jungfrau und des Bootes, Schwan und Schlangenträger. Tobino wurde nicht müde. Er stellte viele Fragen.

»Ich dachte«, sagte er schließlich, »in dieser Gegend gebe es nichts Schöneres als Schloß Vivato.«

»Nun ja«, meinte Spirito, »du hast alles an der Pracht von Schloß Vivato gemessen. Und da wußtest du nichts von der Schönheit der Nacht.«

»Wer hat sie gemacht, die Nacht?« fragte Tobino, »es muß eine große Arbeit gewesen sein.«

»Das ist ein guter Einfall für unsere erste Schulstunde, Tobino. Ich erzähle dir morgen, wie Himmel und Erde erschaffen wurden.«

»Bitte, bitte erzählen Sie es mir gleich!«

Spirito freute sich insgeheim, daß Tobino, der bisher nur befohlen hatte, so eindringlich bat. »Weißt du«, sagte er und gähnte, »wir gehen schlafen. Ich bin müde.«

»Ich nicht«, sagte Tobino, »ich bin endlich einmal richtig wach.«

Tobinos Insel

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