Читать книгу Die Schatzsucher aus der Gustergasse - Eva Rechlin - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеDie Gustergasse veränderte sich eigentlich nie. Vor hundert Jahren hatte sie schon ausgesehen wie jetzt. Sie lag immer noch am Rande der Stadt, wenn nicht am Rande der Welt.
Als Thees über das Kopfsteinpflaster ging, war alles genau so wie gestern und vorgestern und die Tage davor: der Geruch von Petroleum, Mottenpulver, Kaffee und Bratkartoffeln und von Heringen … In der Gustergasse aßen fast alle Leute Heringe. Am Anfang lagen die Häuser der besseren Leute, und weiter hinten die der Armen. Am Anfang — in einem der besseren Häuser — wohnte auch Gabriella. Alle nannten sie nur Gabriella, und Thees kannte sie besonders gut, weil er dann und wann Botengänge für sie machte. Gabriella wohnte im Parterre links. Das Schild an ihrer Tür mit dem Namen ihres Vaters war im Laufe der Zeit schon gelblich geworden. Das Haus, in dem sie wohnte, sah so grämlich aus, als wäre vor seinen Fenstern ewiges Regenwetter. Alles war schwer von Echtheit und dunkel vor Alter. Wenn man über die Teppiche ging, hörte man nichts von sich selbst, geschweige denn von anderen. Gabriella schien ihr ganzes Leben am Frühstückstisch zu verbringen. Niemals hatte Thees sie anders als in einem ockerfarbenen Kleid, Brötchen schmierend, gesehen. Und obwohl man nichts als dieses Kleid an ihr kannte, unterhielt sie sich mit allen Leuten über ihre Garderobe.
Zwischen den besseren und den armen Leuten wohnte der Kaufmann. Er hatte einen Kopf, der klein und verschrumpelt war wie die geräucherte Hirnschale des Feindes am Gürtel eines Kannibalen. Seine Frau — sie war rund und warm wie eine Suppenterrine — sagte zu jedem Kunden: »Du bist treu!« Sie sagte es aus langjähriger Gewohnheit und mit einem langgezogenen, nasalen eu.
Und dann kamen die Häuser der Armen. Sie hatten etwas an sich, was Thees besonders liebte, vor allem in den Abendstunden. Am Abend hatten die Häuser der besseren Leute am Anfang der Straße viele hellerleuchtete Fenster mit schaukelnden Vorhängen, und ihre Treppenstufen waren schimmernd und kühl wie hängende Matten. Thees ging abends gern daran vorbei, auch an Gabriellas Haus, wo nur aus einem einzigen Fenster das gelbrote Licht von Gabriellas Lampe fiel. Es war nicht anders als die Farbe ihres Kleides. Der Nebel hatte sich zwischen die Mauern gehängt, und irgendwer machte auf seinem Klavier müde Fingerübungen. Weiter unten lief dann schon der getigerte Kater des geierköpfigen Kaufmanns von rechts nach links über das Kopfsteinpflaster, und plötzlich stand man vor den offenen Türen der armen Häuser, aus denen ein warmer Dunst von gekochten Kartoffeln und von Petroleumlampen in die Gasse schlug.
Das war die Gustergasse mit allem, was in ihr lebte — dieser Dunst hier unten, und die Großväter vor den Türen mit ihren langstieligen Pfeifen, die warmen, offenen Flure, der getigerte Kater — und weiter oben die Kaskadenteppiche der Aufgänge, die vielen hellen Fenster, Gabriellas Ockerfarben — und noch weiter oben der Mond. Thees dachte immer, daß es in der ganzen Welt wohl nichts anderes zu sehen gäbe als dieses: weiter unten die Armen mit ihren offenen Türen, weiter oben die Reichen mit ihren kühlen, geschlossenen Pforten, und darüber der Mond, der auf das alles herabschien.