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Drittes Kapitel

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Schöner Ak-ak stand gerade vor einer fünfstockigen Mietskaserne, als Thees ihn endlich fand. Er hatte ihn lange gesucht, in allen Straßen. Der halbe Tag war darüber vergangen. Nun hing schon der graublaue Spätnachmittag über der Stadt, und das Laub im Rinnstein wurde von der abendlichen Kälte wieder steif und zerbrechlich.

Schöner Ak-ak hatte angeschwollene, bläulich verfrorene Hände. Er besaß nicht einmal Handschuhe. Uber die Schulter hatte er einen Sack geworfen, der voller Lumpen war.

»Was ist?« fragte er, als Thees vor ihm stand.

»In der Brieftasche waren tausend Mark!«

Schöner Ak-ak ließ vor Verwunderung den Lumpensack fallen. Dann stellte er sich breitbeinig hin und stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Tausend Mark, Junge! Ich schwöre dir, daß ich noch niemals in meinem Leben tausend Mark auf einem Haufen gesehen habe!«

»Sie gehörten einem Generaldirektor«, fuhr Thees fort. »Und heute soll es in der Zeitung stehen, daß sie es abgegeben hat. Und dann bekommt sie noch einen Finderlohn dafür — ein Schmuckstück oder eine Torte!«

»Junge, Junge! Für tausend Mark hätte sie sich hundert Torten kaufen können.«

»Aber sie wäre dann nicht anständig gewesen«, meinte Thees.

Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zur Gustergasse. Schöner Ak-ak sprach die ganze Zeit von den tausend Mark und was man damit alles hätte anfangen können.

»Du würdest ein ganz anderer Mensch werden«, sagte er und schob Thees vor ein dunkles Schaufenster. Thees sah sich darin wie in einem schlechten Spiegel: auf strubbeligen, viel zu langen Haaren saß die rote Pudelmütze, und der Wind fuhr durch mindestens zehn Löcher in sie hinein. Die Jacke war wenigstens geflickt, aber nicht gerade schön. Das lag daran, daß die Großmutter von Thees kurzsichtig war und keine Brille besaß. Und die Hosen, die Strümpfe und Schuhe? Thees schämte sich vor seinem eigenen Spiegelbild und trat zurück. Sein Bild löste sich in Dunkelheit auf.

»Und du?« sagte er und musterte Schöner Ak-ak zum erstenmal in seinem Leben genau. Das war gewiß kein Freund, mit dem man sich großtun konnte. Schöner Ak-ak sah ziemlich übel aus, nicht besser als die Lumpen in seinem Sack. Ein ängstliches Gemüt konnte ihn für einen heruntergekommenen Wegelagerer oder Taschendieb oder sonst was Kriminelles halten. Dabei hatte er mit solchen Leuten gar nichts zu tun. Er war nur arm. Das war alles. Und die Armut wucherte vor allem rings um seinen Körper. Alles was er trug, stammte aus seinem Lumpensack. Hinzu kam, daß er sich nur einmal in der Woche rasierte, und zwar an jedem Donnerstag. Mittwochs sah sein Kopf deshalb immer wie ein borstiger Straßenbesen aus. Aber das machte Schöner Ak-ak nichts aus. Er war es seit mindestens fünfzig Jahren so gewohnt. —

Als Thees »und du?« sagte, blickte Schöner Ak-ak bekümmert an sich nieder. Sein Blick blieb an seinen Schuhen hängen, die so aussahen, als wäre er mit ihnen durch ein Schlammbad gewatet.

»Ich weiß …«, sagte er. Er sagte es so, als hätte er früher einmal bessere Zeiten gekannt. »Ich weiß, Thees. Aber wenn wir tausend Mark hätten, dann — Thees! Wir müßten tausend Mark haben!«

»Ja, aber woher?«

»Wir müssen auch mal eine Brieftasche mit tausend Mark finden.«

»Ach, die findet man doch nicht so.«

»Aber wenn man danach sucht? — Thees — meine Großmutter war viel älter als deine, und die hat immer gesagt: ‚Junge', hat sie immer gesagt, ‚ich kann dir schwören, daß man das Glück findet, wenn man es nur finden will.' — Weißt du, was das heißt, Thees? Das heißt, daß man das Glück findet, wenn man es sucht. Und weißt du, was das heißt, Thees?«

»Nein.«

»Das heißt, daß wir uns auf die Suche nach einer Brieftasche machen werden.«

»Wo denn?«

»Wir durchsuchen die ganze Stadt, Thees.«

»Gut, und wann?«

»Morgen, Junge. Man muß fix sein, wenn man das Glück suchen und halten will.«

»Und wenn wir eine finden?« fragte Thees.

»Wenn wir eine finden, haben wir tausend Mark. Junge: ich kann dir schwören, das soll morgen der schönste Tag meines Lebens werden!«

Schöner Ak-ak schulterte seinen Lumpensack und setzte sich langsam in Bewegung. Thees blieb an seiner Seite. Sie schlugen die Richtung zur Gustergasse ein.

»Wann fangen wir denn an?« erkundigte sich Thees.

»Noch vor Sonnenaufgang, Junge. Wenn alle Leute schlafen. Es kann doch sein, daß einer, der spät vom Tanzen gekommen ist und womöglich einen Schwips hatte, seine Brieftasche verlor, verstehst du? Es darf jedenfalls noch keiner auf der Straße gewesen sein. Wir müssen die ersten sein. Und nachher, wenn es hell geworden ist, gehen wir in die großen Geschäftsstraßen und auf die Plätze und danach, wenn es wieder dunkel wird, in die Parks und die Vorstädte. O Thees, ich kann dir schwören, daß es der schönste Tag unseres Lebens wird!«

»Und was machen wir mit dem Geld?«

»Das teilen wir.«

»Und dann?«

»Kaufen wir ein.«

»Was denn?«

»Das weißt du nicht? Junge, ich hätte dich für gescheiter gehalten. Du weißt nicht, was du für fünfhundert Mark kaufen sollst?«

»Ich hab' doch noch nie was für fünfhundert Mark gekauft!« rief Thees verzweifelt. »Weißt du denn, was man mit soviel Geld anfangen kann?«

»Ich?« Schöner Ak-ak ließ seine Nase ein wenig in den Himmel wachsen. »Ich?« fragte er noch einmal. »Ich kaufe mir zehn Pfund Margarine und zehn Brote, damit es gleich bis Weihnachten reicht. Und dann eine Flasche Feuerwasser. — Hast du schon mal Feuerwasser probiert? — Und Tabak natürlich …«

»Ich denke, Tabak ist nicht gesund«, sagte Thees.

Schöner Ak-ak legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte bedeutungsvoll zu ihm nieder.

»Hör mal zu, mein Junge. Ich kann dir schwören, daß kein Mensch mit viel Geld gesund bleiben kann. Darauf kommt es dann auch gar nicht mehr an. Wenn man krank wird, hat man ja das Geld, um sich wieder gesund zu machen. Und deshalb werde ich mir von meinen fünfhundert Mark auch noch eine dicke Brasilzigarre kaufen.«

»Und ich mir Schokolade«, sagte Thees und warf seinem Freund einen neugierigen Blick zu. Der schien gar nichts dabei zu finden. Er nickte, als sei der Kauf von Schokolade das Selbstverständlichste von der Welt, als sei es niemals eine verabscheuungswürdige Sünde.

»Und was noch?« fragte er sogar begierig.

Thees warf einen raschen Blick in das Schaufenster, an dem sie in diesem Augenblick vorbeikamen. Er sah lauter Würste — links eine stattliche Anzahl praller, hellgrauer Leberwürste, und rechts alles mögliche: Mett- und Teewürste, Braunschweiger und Jagdwurst, gekochten Schinken und Salami und eine ganze Kette von Knackwürsten.

»Das da!« rief er und wies mit dem ausgestreckten Arm auf die Knackwürste.

Schöner Ak-ak schnalzte mit der Zunge und trat nahe an das Schaufenster heran.

»Die würde ich mir auch alle kaufen«, sagte er und beschrieb mit der Hand einen weiten Kreis. »Und dann würde ich mir Gänsebraten leisten. Weißt du, was das ist? Ich kann dir schwören, daß mir irgendwo einmal der Duft von Gänsebraten in die Nase gestiegen ist. Damals habe ich davon einen richtigen Rausch gekriegt, als wäre es nicht eine gebratene Gans, sondern irgendein süßes Rauschgift gewesen. Seitdem habe ich Appetit auf Gänsebraten! Ach Junge, hab' du mal beinahe fünfzig Jahre lang Appetit auf Gänsebraten! Du wirst krank, wenn du nur eine Gans siehst. — Komm weiter! Das Schaufenster hat mich auf eine Idee gebracht. Wir müssen uns noch mehr Schaufenster ansehen, damit wir wissen, was wir kaufen wollen. Sonst geben wir das Geld nachher womöglich für lauter dummes Zeug aus. Komm!«

Er griff nach Thees' Arm und zog den Jungen mit sich fort. Seine Augen waren groß und glänzend geworden, und obwohl heute erst Dienstag war, sah er schon aus wie ein Besen, dem die Haare zu Berge stehen.

Das nächste war ein Spirituosenladen, und Schöner Ak-ak blieb davor stehen, wie der einzige Überlebende einer verdursteten Karawane nach langem Wüstenmarsch vor einer Oase. Thees sagte gar nichts. Wenn ihm an diesem Schaufenster etwas gefiel, so war es die gedämpfte Festlichkeit, die es ausstrahlte. Dafür sprach Schöner Ak-ak wie ein Buch.

»Der da kommt aus Algier, Junge. Ein süßer, schwerer Wein aus Algier. Ich kann dir schwören, daß er wie ein Abenteurerroman wirkt. So was geht ins Blut und in die Füße. Wenn du den in dir hast, gehst du per Schiff durch die Gustergasse, und allein das ist schon ein Abenteuer. Und das Fläschchen, das gelbe Babyfläschchen da links, das wäre was für dich. Eierlikör. Süß und zäh wie Honig. Oder Kakao mit Nuß? Und siehst du die Flasche da, die aussieht wie ein Backofen? — Warm, sage ich dir! Heiß! Oh, Thees —«

»Ach komm«, bat Thees, »du kannst dir doch morgen das Richtige aussuchen — für mich ist das sowieso nichts.«

Schöner Ak-ak lachte und benahm sich, als hätte er den süßen Wein aus Algier im Magen und im Blut. — Sie gingen weiter und kamen an ein Schaufenster mit Textilwaren. Thees sah sofort die roten Wollhandschuhe in der Ecke.

»Die da!« sagte er.

Schöner Ak-ak nickte. Der algerische Rausch war verflogen. Schöner Ak-ak war wieder der Mann, der in Lumpen ging und sich aus seinen Lumpen herauswünschte.

»Man müßte wohl an einen guten, dicken Mantel denken«, sagte er und musterte die Auslagen. Es schien ihm nichts zu gefallen.

»Aber der da!« rief Thees.

»Ein Trenchcoat? So ein Regenmantel? — Nein. Der wird so schnell schmutzig.«

Thees warf seinem Freund einen erstaunten Blick zu.

»Schöner Ak-ak«, sagte er, »vielleicht kaufen wir uns lieber gar keine Sachen. Du hast vorhin gesagt, daß man in anderen Sachen ein ganz anderer Mensch wird. Dann passen wir womöglich gar nicht mehr in die Gustergasse, und vielleicht ist es dann auch mit unserer Freundschaft aus …«

Schöner Ak-ak wandte sich mißmutig von dem Schaufenster ab.

»Ach was«, meinte er, »es gibt auch gar keinen Mantel, wie ich ihn haben möchte. Und vielleicht reicht das Geld dann nicht mehr für die Gans und den Wein und die Würste …«

»Ja, ja.« Thees dachte, daß es vielleicht am günstigsten sei, überhaupt keine Brieftasche mit Geld zu finden. Dann würde sich wenigstens nichts ändern. »Ja, ja«, wiederholte er und legte in seine Stimme einen tröstenden Klang. »Es kann ja auch sein, daß wir die Brieftasche überhaupt nicht finden.«

Wider Erwarten wollte Schöner Ak-ak solche Reden nicht hören.

»Junge«, rief er, und seine Stimme war abenteuerlich wild und entschlossen, »Junge, ich kann dir schwören, daß wir die Brieftasche finden werden!«

Und zum drittenmal schulterte er seinen Lumpensack und wandte sich der Richtung zur Gustergasse zu.

Die Schatzsucher aus der Gustergasse

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