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Viertes Kapitel

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Seine Großmutter saß am Herd, als Thees zu Hause ankam. Sie war eine kleine, liebe alte Frau. Thees hatte keine Eltern — nur diese Großmutter. Wenn er seinen Freund Schöner Ak-ak noch hinzurechnete, dann besaß er in diesem Gespann zwei Menschen, die ihm Vater und Mutter vollauf ersetzten. Die Großmutter kochte ihm das Essen, flickte ihm gelegentlich die Sachen und hielt jeden Abend sein Bett bereit. Jetzt hatte er gerade Ferien, aber wenn er zur Schule ging, sorgte sie manchmal sogar dafür, daß er ein Frühstücksbrot mitbekam. Thees konnte sich sein Leben ohne die Großmutter genau so wenig vorstellen wie ohne Schöner Ak-ak. Ganz allein kann man es in der Welt eben nicht gut aushalten. Man muß etwas haben, an das man sein Herz hängen kann — entweder eine große Idee oder einen Menschen. Am besten beides.

Als Thees an diesem Abend in die Küche trat — sie war auch zugleich Schlaf- und Wohnzimmer —, saß seine Großmutter am Herd und schlief. Aber sie wurde sofort wach, als Thees die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es schien so, als habe sie im Schlaf nur darauf gewartet. Thees ging sofort zu ihr hin und gab ihr einen Kuß. Das waren sie beide so gewohnt, und für Thees war es jedesmal ein Gefühl, als lege er sein Gesicht an den trockenen, borkigen Stamm eines guten, großen Baumes.

»Guten Abend«, sagte er.

Sie gähnte und blinzelte wie eine graue Katze.

»Du mußt doch bis auf den Hosen boden durchgefroren sein«, meinte sie und stand flink von ihrem Holzschemel auf, um sich am Herd zu schaffen zu machen. Er warf seine Pudelmütze auf den Tisch und ließ sich auf das grüne, zerfranste Sofa fallen. Es war warm in der Küche, und er hatte Hunger.

»Was gibt's?« fragte er und schnupperte.

»Kartoffeln, mein Junge. Und Hering dazu.«

»Jeden Tag dasselbe«, sagte er und dachte an die Würste im Schaufenster und versuchte, sich den Duft einer gebratenen Gans vorzustellen. Aber das gelang ihm nicht. Schließlich hatte er noch niemals eine gebratene Gans gerochen. Seine Großmutter wandte sich nach ihm um.

»Schmeckt es dir nicht mehr?« fragte sie erstaunt.

Er schämte sich sofort. Es war schwer genug für sie, wenigstens Kartoffeln und Heringe zu beschaffen. Sie ging dafür — mit ihren achtundsiebzig Jahren — jeden Tag in die besseren Häuser am Anfang der Gustergasse zum Reinemachen.

»Doch«, sagte er und gab sich alle Mühe, einen gutgelaunten Eindruck zu machen. »Es schmeckt mir sehr gut. Und ich habe auch großen Appetit darauf!«

»Warum hast du denn gesagt: Jeden Tag dasselbe?«

»Och, ich dachte nur so … Stimmt ja auch, nicht?«

»Ja — es stimmt.«

Sie stellte den Topf mit Kartoffeln auf den Tisch.

»Kannst schon anfangen zu pellen«, sagte sie.

Er griff in den dampfenden Topf, nahm eine Kartoffel heraus und drehte und kullerte das heiße Ding durch die Hände und riß hier und da ein Stück von der Pelle ab.

»Mußt dir ein paar ans Fenster legen«, sagte sie, »zum Abkühlen.«

Er stand auf und trug die Kartoffeln nacheinander an das Fenster.

Nachher saßen sie sich am Tisch gegenüber und aßen Pellkartoffeln mit Hering. Thees spürte, daß er langsam davon warm wurde. Er kam sich vor wie ein Ofen, in den oben alles mögliche hineingesteckt wurde, damit es innen verbrannte. Dabei dachte er unentwegt an eine Brieftasche mit tausend Mark, von denen ihm fünfhundert gehören würden. Und weil er so ganz in Gedanken war, sprach er kaum ein Wort. Schließlich fragte ihn seine Großmutter, weshalb er denn so stumm dasitze und ob er etwa müde sei.

»Och«, erwiderte er, »ich denke grad' was.«

»Was denn?«

»Ich denke an viel Geld.«

»Ach Thees«, meinte sie, »setz dir bloß keine Flausen in den Kopf. So wie es jetzt um dich herum aussieht, wirst du niemals viel Geld haben. Höchstens wenn du mal eine große Erfindung machst oder furchtbar tüchtig arbeitest.«

»Aber ich kann doch auch Glück haben, nicht?«

»Glaub man nicht, daß dir jemand was schenkt, Junge.«

»Nein, aber ich kann doch auch anders Glück haben … irgendwie.«

»Wer weiß, ob das dann wirklich Glück ist. Da ist meistens der Teufel im Spiel.«

»Und der liebe Gott nicht? Du hast mir doch gesagt, daß der liebe Gott es gut mit uns meint!«

»Ja, der liebe Gott. Du bist ein ganz Schlauer, daß du jetzt mit dem lieben Gott anfängst! Aber der legt einem das Glück erst recht nicht in den Schoß, der will, daß man dafür etwas tut.«

»Und wenn man ihn darum bittet?« fragte Thees.

Die Großmutter schwieg eine Weile. Es war so still, daß Thees das Feuer im Herd knistern hörte.

»Weißt du, Jung'«, sagte sie schließlich, »ich habe den lieben Gott schon so oft um etwas Schönes gebeten. Er hat immer so getan, als hörte er es nicht. Dabei bin ich ganz sicher, daß er es doch gehört hat. Er wird schon wissen, weshalb er es mir nicht gibt. Ich habe dabei auch 'rausgekriegt, daß er sich in keinen Kuhhandel einläßt. Und wenn du ihm zehnmal sagst: ich will auch ganz artig sein — er läßt sich nicht darauf ein. Der weiß ganz genau, was ein schmutziges Geschäft ist, Junge. Und mit dem Glück ist er ganz besonders knauserig. Das kriegt man nicht so einfach. — Und dann muß man auch wohl schon zehnmal heimlich Glück gehabt haben, bis man einmal richtig großes Glück hat. Ich bin gar nicht so begierig darauf. Wir leben auch so ganz schön. Vom Glück würde man womöglich krank — innen meine ich. Man kann nicht von der Straße aufs Dach springen. Man muß erst 'reingehen in das dunkle Haus und schön die Treppen 'raufsteigen … Und nun iß man, Jung'. Willst' noch einen Hering?«

Thees schüttelte den Kopf und schob den leeren Teller von sich fort. — Später zog er sich Jacke und Hose aus und legte sich auf das grüne Sofa zum Schlafen. Seine Großmutter breitete eine riesige, dicke Decke über ihn aus. Thees verkroch sich darin wie ein Maulwurf in seinem Bau. Dann löschte sie die Petroleumlampe. Jetzt war in der Küche nur noch das rötliche Licht vom Herdfeuer. Das war ein warmes, geheimnisvolles Licht, und die Möbel schienen darin lebendig zu werden. — Die Stühle standen da, als hätten sie auf sich selber Platz genommen, und der braune Schrank in der Ecke wurde ein großes, gemütliches Tier mit einem warmen Gesicht. Als die Großmutter sich in der Ecke auf ihren Strohsack legte und Thees das Rascheln hörte, nahm er sich vor, ihr von den fünfhundert Mark ein ordentliches Bett zu kaufen — mit weißen Federkissen und einer weichen, bunten Decke.

Er schlief beinahe schon, als er sie noch einmal sagen hörte: »Aber wenn du ganz fest an das Glück glaubst, wirst du es vielleicht auch mal finden. Wenn man daran glaubt, tut man nämlich auch was dafür —«

Die Schatzsucher aus der Gustergasse

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