Читать книгу Abschied von Askalon - Eva Rechlin - Страница 5

Auf der Suche

Оглавление

Pünktlich wie jeden Morgen vor Sonnenaufgang krähten Miriams Hähne. Schlagartig wurde es auf den zwei Flachdächern munter. Tobija fiel auf, daß seine Schwester, sonst als erste auf den Beinen, fest weiterschlief, ausgerechnet an einem für ihn wichtigen Tag. Er rüttelte sie an der Schulter:

»He, Debora, aufwachen! Soll das ein Spaß sein, Schwesterchen?« Nur mühsam kam sie zu sich, blinzelte ihn sekundenlang verständnislos an, um im nächsten Augenblick zu fragen:

»Ist er schon weg? Ich muß mit ihm!«

Tobija lachte arglos:

»Ich bin noch nicht fort, natürlich gehst du mit mir zu den Fischern, wenigstens beim ersten Mal!«

»Wieso mit dir? Der Bote aus Ägypten – mit ihm muß ich gehen, Samuel entgegen. Er ist doch noch da?«

»Wie kommst du auf sowas? Er ist ein Bote, also erfahren mit Straßen und Wegen. Außerdem kennt er Samuel…« Sie hatte sich schnell aus ihrer Schlafdecke gewickelt, den Gürtel um die Tunika gelegt und lief bereits die schmale Treppe hinab in den Hof. Tobija blickte ihr verblüfft nach. Wie konnte Debora, eben noch in tiefstem Schlaf, zu einem derartigen Entschluß kommen? Thomas begleiten! Etwas mußte vorgefallen sein, und er, ihr engster Vertrauter, hatte es nicht bemerkt. Obwohl sie wußte, was dieser Tag für ihren Bruder bedeutete, schien ihr etwas anderes wichtiger zu sein – plötzlich war er alarmiert und rannte hinter ihr her nach unten. Auf der letzten Treppenstufe hielt Sebastian ihn auf:

»Was ist los? Erst rast Debora ohne Gruß und Kuß an uns vorbei… Solltet ihr nicht längst im Hafen bei den Fischern sein? Sie werden vom Fang zurückkehren und…«

»Und Debora hat es verschlafen! Ja, ich auch. Sie will mit dem Boten nach Joppe gehen! Wißt ihr davon? Ausgerechnet heute!«

Vom Hof her hörte sie Debora mit Thomas reden, den sie wohl eben erst geweckt hatte, denn seine Stimme klang verschlafen, und er gähnte mehrmals laut. Kopfschüttelnd fragte Vater Sebastian:

»Warum will Debora mit dem Boten gehen? Hat sie dir das gesagt, Tobija?«

»Kein Wort.«

»Laß mich den Gast zum Frühstück hereinbitten, vielleicht ist ja alles nur ein Hirngespinst.«

Nein, es war kein Irrtum. Ihre Begründung, warum sie den Boten begleiten wollte, klang halbwegs einleuchtend:

»Ich weiß, in welchen Gehöften und Zelten, bei welchen Freunden er einkehrt, das weiß Thomas nicht. Also wird er mich brauchen können.« Natürlich hielten sie ihr dagegen: »Unmöglich, daß ein junges Mädchen allein mit einem fremden Mann fortgeht!« Selbst Thomas sagte ihr das. Schweigend hörte Tobija eine Weile zu. Es wirkte absolut launenhaft und unvernünftig, wie sich Debora an diesem Morgen aufführte, das paßte nicht zu ihr. Allein, daß sie die besondere Bedeutung dieses Tages für den Bruder völlig zu vergessen schien, obwohl sie deswegen allesamt gestern abend gefeiert hatten – nein, das paßte nicht zu ihr. Ihm entging nicht, daß auch Miriam das normalerweise vernünftige Mädchen mit eigenartigem Gesichtsausdruck beobachtete – nachdenklich, ahnungsvoll. Zwei, dreimal glitten ihre Blicke zu der Sitzbank, unter der die beiden Taschen des Boten über Nacht verwahrt worden waren. Schließlich bückte sich Miriam, zog die Taschen hervor und legte sie auf die Steinbank. Augenblicklich verstummte Deboras Redeschwall. Das hätte verräterisch wirken müssen, hätte nicht sofort Miriam das Wort ergriffen. Sachlich stellte sie fest:

»So oder so müssen wir die Versorgungstasche mit neuem Proviant füllen. Bringt Brot her, Kinder, und von dem frischen guten Käse. Und Äpfel!« Debora fand die Sprache wieder:

»Meinen Vorrat trage ich selber im Beutel. Ich brauche nicht so viel wie ein Mann.«

»Damit dürften wir meinen ersten Lehrtag bei den Fischern wohl abschreiben?« meldete sich nun Tobija zu Wort. »Denn natürlich kann ich, als älterer Bruder, meine Schwester nicht allein mit einem Fremden ziehen lassen. Das ist wohl klar, oder? Ich gehe mit.« Fragend blickte er sich um. Miriam und Sebastian sahen sich ratlos an, als liefe etwas schief, das sie im Grunde zu verantworten hatten, und Sebastian fragte Tobija schließlich:

»Macht es dir so wenig aus, die Fischerei immer wieder auf die lange Bank zu schieben?«

In Wirklichkeit fühlte sich Tobija ausgesprochen erleichtert über die nochmalige Galgenfrist, doch mochte er seinen Pflegevater nicht enttäuschen. Ausweichend antwortete er:

»Wir gehen am Hafen vorbei und geben Bescheid.«

»Welchen Bescheid?«

»Daß etwas Unerwartetes dazwischengekommen sei. Familienangelegenheiten werden wir sagen. So genau geht es keinen etwas an. Wer weiß, was in dem eiligen Brief aus Alexandria steht? Vielleicht wird Samuel sogar froh sein?«

»Also dreimal Wegzehrung«, schnitt Miriam weiterem Palaver das Wort ab, »und jetzt laßt uns das Frühstücken nicht vergessen. Möchtest du das Morgengebet sprechen, Thomas?«

Der überrumpelte Gast schüttelte etwas hilflos den Kopf. Mit halb erhobenen Händen reihte er sich in die Tischrunde ein und lauschte mit gesenktem Gesicht, als Vater Sebastian mit den Psalmworten begann:

»Wie schön ist es, dem Herrn zu danken, deinen Namen, du Höchster, zu singen, am Morgen deine Huld zu verkünden und in den Nächten deine Treue…«

Thomas schien auch nach zwei Stunden noch unschlüssig, ob er sich über die beiden Weggefährten freuen oder ärgern sollte. Wenigstens waren sie in Fußmärschen geübt und hielten mit ihm Schritt. Bis Joppe waren es fast zwei Tagesmärsche, da jetzt, im brütenden Hochsommer, eine ausgiebige Mittagsrast dringend notwendig wurde. Askalon samt seinem Hafen lag bald hinter ihnen.

»Die Fischer«, meinte Thomas, »schienen nicht gerade auf dich gewartet zu haben, Tobija. Oder täusche ich mich?«

»Es stört mich nicht, wenn diese Analphabeten über mich spotten. Einen Lehrling, der sieben Jahre lang Lesen, Schreiben, Sprachen, die Rechenkunst und manches andere studierte – auf so einen haben sie sowieso nicht gewartet.«

»Nicht zu vergessen die heiligen Schriften«, warf Debora ein, »und ich durfte alles mit ihm lernen. Unsere Eltern wollten es so, besonders unsere Mutter. Sie war nämlich sehr gebildet, hatte in Alexandria sogar die berühmte christliche Katechetenschule besucht. Ja, die reichen Tanten ließen sie erstklassig erziehen, ihre einzige jüngere Verwandte. Leider ist sie nur zweiunddreißig Jahre alt geworden, ein Jahr älter als unser Vater.«

»Simon ist also ertrunken?« fragte Thomas.

»Das ist auch so etwas«, fiel Tobija lebhaft ein, »das die Fischer an mir nicht mögen. Daß mein Vater ebenso wie mein Großvater ertrunken ist. Als klebte Unglück an uns, verstehst du?«

»Das bildest du dir ein«, protestierte Debora, »die meisten Fischerfamilien in Askalon haben Tote im Meer zu beklagen!«

Thomas spürte, daß die Geschwister deswegen uneins waren, und er versuchte schleunigst abzulenken:

»Wieso hat eigentlich die reiche und hochgebildete Erbin Kora aus Alexandria einen Fischer aus Askalon geheiratet? Sie muß wohl noch ziemlich jung gewesen sein!«

»Neunzehn, kein bißchen zu jung. Und was für eine Frage: Natürlich heirateten sie, weil sie sich liebten!«

»Natürlich. Sie liebten sich. Seht ihr eurer Mutter ähnlich?«

»Debora«, sagte Tobija, »das sagen alle, die unsere Mutter kannten.«

»Also war sie nicht nur reich und gebildet, sondern obendrein sehr… mh, also, sagen wir, sehenswert?«

»Sie war schön!« belehrte ihn Tobija, dessen Schwester den Kopf plötzlich gesenkt hielt. »Sie war so schön, daß sie unserem Vater auf der Stelle auffiel, als er einmal bis nach Alexandria gelangte! Das Nildelta zählt nicht gerade zu den Fanggründen judäischer Fischer. Die Ägypter würden sich das auch verbitten. Dort muß es ja bunt zugehen. Warst du schon öfter im Delta, Thomas?«

»Oft genug. Aber, wenn nicht als Fischer, wie kam euer Vater nach Alexandria?«

»Ganz einfach: Mit Samuel. Einen Wanderprediger wie Samuel begleiten zu dürfen, gilt als Ehre! Besonders jüngere Brüder und Schwestern aus den Gemeinden möchten mit ihm gehen. Einmal im Leben wollte das auch unser Vater. Er begegnete Samuel, als dieser mit den Fischern von Askalon nach Rapha fuhr. Er hat es uns oft erzählt, wie er durch Samuel auch die reichen Schwestern Eugenios kennenlernte.«

»Als wäre Samuel immer alt gewesen«, meinte Thomas lachend, »heute ist er drei- oder vierundfünfzig, wie er mir erzählt hat.«

Debora war unvermittelt stehengeblieben. Sie sah sich zweifelnd um, schüttelte den Kopf und schlug vor, vom Strand nach Osten abzubiegen und auf der Römerstraße weiterzugehen, die Samuel, wenn er allein unterwegs war, des besseren Schutzes wegen bevorzugte. Außerdem ließe er sich gern von Wagen mitnehmen.

Thomas war einverstanden, zumal sie sich der etwas landeinwärts gelegenen Ortschaft Ashdod näherten und die Sonne längst steil über ihnen brannte. Höchste Zeit, einen Brunnen und Schatten zu suchen und zu rasten.

Auf der Straße hielten sie jedes Wagengespann und jeden Reiter an und fragten, ob ihnen Samuel begegnet wäre? Einer wußte, daß jener sich vor ungefähr zwei Tagen von Joppe südwärts auf den Rückweg nach Askalon gemacht hatte.

»Samuel hatte es nicht eilig, er wollte im Wadi Jamnia Nomaden oder Hirten besuchen, müßte sich jetzt also ebenfalls Ashdod nähern, wenn auch aus entgegengesetzter Richtung.« Als die drei das gehört hatten, beschlossen sie, bei Ashdod unmittelbar an der Straße zu rasten, damit ihnen der Gesuchte ja nicht entginge. Im spärlichen Schatten eines Wacholdergebüschs ließen sie sich im Straßenstaub nieder, tranken ausgiebig, aßen ein wenig und warteten, daß die Sonne den Zenit überschritt. Besorgt beobachteten beide, daß Debora, kaum daß sie sich im warmen Sand ausgestreckt hatte, einschlief. Leise fragte Thomas:

»Macht sie etwa schlapp? Hält sie nicht viel aus?«

Tobija schüttelte nachdrücklich den Kopf:

»Im Gegenteil, sie kann zäh sein wie ein Esel und stundenlang lebendig wie ein Delphin.«

In Wirklichkeit kam es ihm auch merkwürdig vor, und er dachte daran, wie unausgeschlafen und fahrig sie am Morgen gewesen war – und wie aufgeregt sie darum gekämpft hatte, Thomas zu begleiten. Eine Ahnung dämmerte ihm, die er sofort wieder verscheuchte. Wie konnte er Debora verdächtigen? Und hätte sie ein Geheimnis vor ihm verbergen können?

»Laß mich zuerst wachen«, schlug er Thomas vor, »ich kann jetzt nicht einmal dösen, ich bin viel zu gespannt auf Samuel. Er ist unser Vormund, sogar amtlich. Unsere Eltern hatten ihn bald nach Deboras Geburt dazu bestimmt, vorsichtshalber.«

»Auch ich bin zu munter«, gestand Thomas. Sie unterhielten sich leise: »Wie alt ist deine Schwester?«

»Zwei Jahre jünger als ich.«

»Und du bist vierzehn?«

»Nur noch wenige Wochen, auch Debora ist schon eher dreizehn. Wir waren noch nie getrennt. Das stört mich nämlich an der Fischerei: Daß ich meine kleine Schwester so lange allein lassen muß.«

»Aber ihr habt die liebevollsten Pflegeeltern, außerdem ist Debora keine kleine Schwester, sondern bald heiratsfähig.« Tobija lachte.

»Debora eine Frau? Was hast du bloß für Augen?«

Thomas blieb ernst:

»Klare. Du bist ein typischer großer Bruder. Ist ja gut und richtig, daß du sie beschützt. Und wenn du schon fünfzehn bist, wirst du ja auch bald ein Mann.«

»Ich mag solches Gerede nicht. Was interessiert dich überhaupt ihr Alter?« erwiderte Tobija düster.

»Mich interessieren meine Weggefährten, besonders wenn sie so reizend und gebildet sind wie ihr beide. Daß ihr füreinander eintretet, ist verständlich, nachdem ihr die Eltern so früh entbehren mußtet. Ist eure Mutter auch ertrunken?« »Nein. Sie hat Vaters Tod ja noch ein Jahr überlebt, aber frag mich nicht, wie! Kränklich war sie wohl von Anfang an, vielleicht auch nur zu zart für das harte Leben einer Fischersfrau. Die Tanten in Alexandria hatten sie sehr verwöhnt. Weißt du, sie hat viel von ihnen erzählt, denn es war ihr nicht gleichgültig, daß sie sie enttäuscht hatte, mit der Heirat, meine ich. Sie hat buchstäblich alle Brücken nach Alexandria hinter sich abgebrochen, so sehr liebte sie Simon. Kein Wunder, daß die reichen Tanten die junge Erbin verstießen.« Verstohlen musterte Thomas den Jungen neben sich und fragte:

»Findest du das einleuchtend? Hätten die Tanten nicht Verständnis für das junge Paar haben können?«

»Aber er war ein Fischer, Thomas! Kein kultiviertes Heim, keine vornehme Erziehung, keine wirtschaftliche Sicherheit. Er besaß nur ein einigermaßen seetüchtiges Fischerboot und die elterliche Hütte am Strand. Wie sollten die Tanten verstehen, daß Kora dafür alles zurückließ, was sie ihr zu bieten hatten? Ich meine, sie empfanden ihre Kusine Kora als undankbar. Meine Mutter hat es selber so genannt – undankbar!«

»Hat Koras Geschichte nicht auch eine andere Seite?«

»Ja, gewiß, dafür hat sie sich ja entschieden, aber findest du nicht auch, daß man beide Seiten verstehen muß? Einfach abgesprungen, ins kalte Wasser, trotz ihrer Zerbrechlichkeit muß sie eine riesige Kraft in sich gehabt haben. Meinst du nicht auch?«

»Ihr Gewissen«, sagte Thomas.

»Wäre denn jede andere Entscheidung gewissenlos gewesen? Sie war verliebt.«

»Sie liebte, Tobija.«

»Manchmal, stelle ich mir vor, kann Liebe auch ziemliche Verrücktheit sein, eine schöne Verrücktheit meinetwegen. Was aber hat das mit Gewissen zu tun? Ich sehe dir an, was du denkst, Thomas. Du denkst, daß es mir nicht zusteht, die Sache zu beurteilen.«

»Hauptsache, du ver-urteilst nicht, Tobija. Eure Mutter konnte nur einen Weg gehen.«

Tobija nickte, schwieg ein Weilchen, sagte schließlich leise: »Aber wir kommen in ihrer Geschichte auch noch vor. Wir, ihre Kinder.«

»Und Simons Kinder!« mahnte Thomas.

»Jaja, und Simons. Da kommen welche aus Ashdod.«

»Von Süd nach Nord, wie wir. Immer noch kein bißchen müde, Tobija? Gut, dann behalte du die Straße im Auge. Ich strecke mich lieber für ein kurzes Nickerchen aus. Daß der Schatten so schmal fällt, ist nicht meine Schuld. Guck nicht wie ein Geier, ich komm’ ihr schon nicht zu nahe.« Schroff wandte sich Tobija zur Straße um und murmelte etwas, das Thomas, der sich neben die fest schlafende Debora im spärlichen Schatten auf den Boden legte, nicht verstand. Er reckte die Arme hoch, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und schloß die Augen. Still lauschte er Deboras tiefen Atemzügen.

Nördlich von Ashdod querten die Römerstraße zwei Wadis, zu denen die drei jungen Leute wenig später aufbrachen. Statt zu schlafen, hatte Thomas nachgedacht und den Geschwistern erklärt:

»Wenn Samuel Hirten oder Nomaden aufsuchen wollte, müssen wir ab hier in sämtlichen Wadis Bescheid geben, daß wir ihn suchen. Ach, statt zu schwatzen, hätten wir längst einige nordwärts Reitende darauf hinweisen sollen! Kommt, laßt uns das Versäumte nachholen. Notfalls müssen wir, um ganz sicher zu gehen, dort übernachten, wo die Straße auf ein Wadi trifft.«

Debora blieb schläfrig, bis die lehmhellen Würfel der Häuser von Ashdod hinter ihnen im Sonnenglast verschwammen.

»Ich möchte bloß wissen, weshalb du heute so müde bist«, knurrte Tobija, »das bißchen wäßriger Wein gestern abend kann’s nicht sein.«

»So wäßrig war der gar nicht«, behauptete Debora, »außerdem bin ich nicht müde. Habt ihr nicht auch geschlafen?« »Und wie!« schwindelte Thomas. »Da kommen Reiter hinter uns. Anhalten!«

Es war seit Ashdod das vierte Mal, daß sie Reitern ihre Suche nach »dem alten Wanderprediger Samuel« mit auf den Weg gaben.

Als sie schließlich an das erste Wadi gelangten, mußten sie feststellen, daß die Straße über einen Knotenpunkt verlief, an dem sich drei ausgetrocknete Flußbetten mit ihren Geröllmassen zu einem Wadi vereinigten. Unschlüssig blieben die drei stehen. Was war zu tun!

»Genau an diesem Knotenpunkt wollen wir unser Nachtlager aufschlagen und warten«, entschied der erfahrene Bote Thomas, »so oder so müßte Samuel hier vorbeikommen, ob von Norden oder aus einem der Wadis.«

Sie suchten sich unter den im angeschwemmten Geröll herumliegenden Felsbrocken den größten aus. In seinem kargen Schutz und Schatten wollten sie lagern und dort die nötigen Äste für ein Feuerchen zusammentragen. Tobija kletterte auf den Felsbrocken, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er beschattete seine Augen mit der flachen Hand, plötzlich rief er:

»Zurück, Thomas! Zur Straße! Ich sehe ihn kommen!« Und er streckte seinen Arm nach Norden aus.

Sie ließen ihre Vorratsbeutel bei dem großen Stein liegen und liefen an den Straßenrand. Ja, er war es, auch Debora erkannte von weitem die schmale Gestalt mit dem mannshohen Wanderstab.

Samuel ging in weiße und rote Stoffbahnen gehüllt, die er wie einen losen Umhang auch über seinen Kopf zu ziehen pflegte. In seinem Alter war das nützlich bei jedem Wetter, hielt ihm brennende Sonne ebenso vom Leib wie Nässe, Kühle oder Wind. Sein spärliches Gepäck trug er in Beuteln unter der leichten Stoffülle seines Umhangs. Aber er ging nicht wie ein alter Mann, sondern hochaufgerichtet und zügig wie in Eile. Er mußte von Reitern gehört haben, daß man nach ihm suchte.

»Er ist allein«, sagte Debora leise und lief ihm entgegen. Sie sah deutlich sein Erschrecken, als er sie erkannte. Aber sie lachte und winkte und rief schon von weitem: »Friede, Friede! Fang mich auf, Samuel, halt mich fest!«

Er blieb stehen und öffnete weit seine Arme, in die sie sich lachend stürzte und zur Begrüßung sein silberstoppeliges Gesicht küßte: »Friede mit dir, Samuel. Und keine Sorge! Wir wollten dem Boten aus Alexandria nur den Weg zeigen.«

Samuel drückte sie sanft an sich, strich ihr über das dunkle Haar und fragte:

»Ist es Thomas? Er ist kein Anfänger auf dem römischen Straßennetz, da muß euch schon eine besondere Neugierde plagen! Sagtest du, aus Alexandria? Etwas Ernstes?«

»Ein Brief. Gestern abend traf Thomas damit bei uns ein und wollte heute gleich weiter. Er ist nett. Kennst du ihn schon länger?«

Debora ging neben Samuel, der sie von der Seite lächelnd musterte.

»Daß er sehr nett ist, weißt du ja schon – was könnte ich dir also noch über ihn verraten?«

»Später«, sagte sie hastig, weil die beiden jungen Männer sich näherten und den viel älteren respektvoll begrüßten. Samuel hielt Tobijas Hand kurz fest und fragte:

»Wolltest du nicht längst bei den Fischern sein?«

»Hätte ich meine Schwester allein mit einem Fremden gehen lassen sollen? Die Fischer schwimmen mir ja nicht fort.« Samuels Blick schien sich zu verdunkeln, aber dann fuhr er dem hitzigen Jungen mit der Hand beschwichtigend über den lockigen Schopf und wandte sich lächelnd Thomas zu: »Ein guter Platz für ein Nachtlager.«

Debora ließ die beiden Männer nicht aus den Augen. Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. Was sollte sie tun, wenn Samuel bemerkte, daß an dem Briefsiegel hantiert worden war? Samuel zu belügen, das würde sie nicht fertigbringen.

Sie durfte sich kein Wort, keinen Blick entgehen lassen. Im Augenblick war ihr das wichtiger als der sicher folgenschwere Briefinhalt.

Thomas, der seine Botentasche die ganze Zeit bei sich getragen hatte, reichte sie Samuel halb offen und sagte:

»Außer einem Brief auch Geld, einfach eine Handvoll in die Tasche geworfen, nicht gezählt. Ich habe davon nur das Nötige für die Schiffspassage bis Gaza genommen. Von dort bin ich gestern gleich weitergelaufen und kam abends in Askalon an.«

»Ein Brief von den Schwestern Eugenios also?«

»Nicht von beiden Schwestern, nur von Angela. Obendrein in größter Hast und Heimlichkeit. Sie war verschleiert, aber ich erkannte sie.«

Ruckartig blieb Samuel stehen und fragte, plötzlich heiser: »Nur von Angela? Heimlich? Bist du sicher, daß Agatha nichts davon weiß?«

»Ganz sicher.«

»Gib mir den Brief!« Sie hatten den Lagerstein noch nicht ganz erreicht. Samuels Hände zitterten, als er die Papyrusrolle aus der Hand von Thomas nahm. Er verschwendete nicht ein Sekunde daran, das Siegel zu prüfen. In höchster Ungeduld riß er es einfach ab, ließ es achtlos auf den sandig-steinigen Wadigrund fallen und rollte den Papyrus mit gestreckten Armen vor seinen Augen auf. Debora, erlöst und dankbar, stand halb hinter Samuel und starrte auf die griechischen Buchstaben, die in so ungewohnter Sprache redeten. Plötzlich begann die Schrift vor ihr auf und niederzutanzen, aber nicht ihre kurze Schwäche war daran schuld, sondern das Zittern von Samuels Händen, während er mit sichtlich wachsender Erschütterung den Brief las. Mit Schrecken sah Debora, wie sich der große, kluge, allzeit gefaßte, stets Trost wissende Mann vor ihren Augen in ein Häufchen Elend verwandelte und auf dem Stein, zu dem sie ihn geführt hatte, in sich zusammensank. Und zum ersten Mal sah sie Samuel weinen. Die Tränen quollen über seine staubigen, braunen Wangen, versickerten in Falten und Barthaaren, und er tat nichts, um sie zu verbergen, als wüßte er nicht einmal, daß er weinte. Debora legte sanft ihre Hand auf sein Knie, aber sie wußte nicht, wie sie ihn trösten könnte. Wenn er doch selber keinen Trost wußte, er, Samuel!

Daß auch sie weinte, merkte sie erst, als er den Papyrus sinken ließ und die Hand nach ihr ausstreckte, um ihr die Tränen vom Gesicht zu streicheln.

»Ist es so schlimm?« stammelte sie.

»Sie ist tot«, flüsterte er schluchzend, »ich weiß es. Tot!« Er schloß die Augen, und Debora fürchtete, er könnte hintenüber vom Stein stürzen. Kaum hörbar bat er:

»Laß mich allein, Kind. Nur ein Weilchen.«

»Ja, Samuel.«

Sie stand auf, um das Nötigste für ein Nachtmahl vorzubereiten. Und während der geübten Handgriffe kam ihr Verstand wieder in Gang, und sie dachte: Wie kann eine Tote einen Brief schreiben, ihn sogar noch auf den Weg bringen? Wie sehr muß Samuel jener ihr so fremden Frau verbunden sein, daß er ihren Tod über solche Entfernung hinweg erraten, ja spüren kann? Kann Liebe so machtvoll sein? Also mußte auch er Angela lieben. War es das, was Samuel so erschütterte? Das Geständnis ihrer Liebe zu ihm. Samuel weinte noch immer. Er saß jetzt vornübergebeugt auf dem Stein, das Gesicht in beide Hände vergraben. Der Anblick seines Schmerzes tat ihr weh.

Tränenblind tastete sie nach Steinen für die Feuerstelle. Dabei merkte sie nicht, daß Thomas mit einem Bündel trockener Äste und angeschwemmter Holzstücke neben sie trat. Sie schrak auf, als sie ihn leise fragen hörte:

»Ist es eine so böse Nachricht?«

Gleichfalls mit Brennholz beladen, kam von der anderen Seite Tobija. Auch er wagte kein lautes Wort:

»Was ist passiert?«

Debora wischte sich mit dem Saum ihrer wadenlangen Tunika Augen und Wangen trocken und flüsterte:

»Ihr seht ja, wie weh es ihm tut. Er sagte: Sie sei tot! Aber kann eine Tote einen Brief schicken? Es muß noch etwas anderes sein…«

»Soll ich zu ihm?« fragte Thomas.

»Er wollte allein sein. Er wird sich selber rühren. Legst du das Feuer, Thomas?«

»Erst wenn es dunkel wird. Es ist noch zu früh.«

»Wer ist tot?« fragte Tobija.

»Unsere Tante Angela, der Brief ist von ihr. Aber sie hat ihn dir doch gegeben, Thomas?«

»Ja, allerdings unter merkwürdigen Umständen, völlig anders als sonst.«

»Du warst schon öfter bei ihnen?«

»Ja, seit ich Kurier bin, nutze ich in Alexandria jede Gelegenheit, mich an der Katechetenschule zum Diakon ausbilden zu lassen. Mit Botengängen wie diesem verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Und von Brüdern wie Samuel lernte ich mindestens so viel, wenn nicht mehr…«

»Ich hole noch Holz«, sagte Tobija, der lieber etwas Handfestes tat, als die ungewisse Beklommenheit abwartend auszuhalten. »Soll ich auch einen Feuerstein suchen?«

»Nein, den trage ich immer bei mir.«, Thomas nestelte an einem der Ledersäckchen am Gürtel seiner kniekurzen Tunika. Als Tobija sie nicht mehr hören konnte, sagte Debora scheinbar nachdenklich:

»Da Tante Angela dir den Papyrus heimlich gab, sollte ihre Schwester Agatha nichts davon wissen. Also muß sie mit Samuel Geheimnisse haben, wenigstens ein Geheimnis. Und ihm tut es weh…«

Sie blickte erwartungsvoll auf Thomas, der im Sand kniete und umständlich mit seinem Feuerstein hantierte.

»Ist Samuel ihr besonderer Vertrauter?«

Thomas lächelte, als er antwortete:

»Ach, liebe Debora, was du wissen möchtest, ist die immer gleiche herrliche Geschichte zwischen zwei Menschen. Eure Tante Angela hatte vermutlich nicht so absolutes Vertrauen wie eure Mutter.«

»Vertrauen worauf?«

Thomas deutete mit dem Kopf vielsagend zu Samuel, dann nach oben in den Himmel.

»Woher willst du das wissen, Thomas?«

Er zuckte die Achseln, überlegte eine Weile und blickte das Mädchen offen an:

»Mein Dienst verläuft nicht so einsam, wie du vielleicht denkst. Man trifft andere Boten, nicht nur Auftraggeber und Empfänger. Da wird alles mögliche gesprochen und erzählt. Außerdem… still jetzt, Samuel steht auf. Du wirst ihn nicht mit Fragen durchbohren?«

»Bin ich ein Plappermäulchen, großer Redemeister? Kannst du nun Feuer schlagen oder nicht?«

Sie flüchteten sich in scheinbare Geschäftigkeit, als Samuel endlich seinen Wanderstab aufhob, die verrutschten Tücher über seine Tunika ordnete und zu ihnen herüberkam. Einem Mann wie Samuel, der sein Leben damit zubrachte, sich stets und ganz seinen Mitmenschen zuzuwenden, entging ihre Verlegenheit nicht. Mit beiden Händen umklammerte er seinen stabilen Wanderstab und lehnte sich gegen den großen Felsbrocken, von dem aus Tobija ihn vorhin erspäht hatte.

»Ruft den Jungen zurück«, bat er, »für ein erstes Feuer reicht das Gesammelte. Ich kann nicht die ganze Nacht bleiben. Auf dem schnellsten Weg muß ich nach Alexandria.«

»Und wir?« fragte Debora erschrocken.

»Ach ja, ihr! Das muß in Ruhe bedacht werden, ob ich euch jetzt schon mitnehmen soll…«

»Du wirst doch nicht diese Kinder nach Alexandria mitnehmen wollen?«

»Bist du vielleicht ein Greis?« ereiferte sich Debora, »ich werde dreizehn! Außerdem hat Samuel über uns zu entscheiden. Steht in dem Brief, daß du uns nach Alexandria mitnehmen sollst?«

»Und wenn, so dürfen wir nichts überstürzen. Wir haben alle einen langen Tag hinter uns. Bevor ich aufbreche, muß ich ein paar Stunden schlafen.«

»Wir lassen dich nicht allein aufbrechen, bis Askalon begleiten wir dich.«

Sie packten Brot, Käse, getrockneten Fisch und Fleisch, Eier und verschiedene Früchte aus und lagerten im noch warmen Sand. Bevor Samuel, der kaum etwas aß, irgendeine Erklärung gab, wollte er von Thomas mehr wissen:

»Bitte berichte mir ganz genau, wie es war, als sie dir den Brief gab. Jede scheinbare Nebensächlichkeit ist mir wichtig.«

»Ja, das war in der Tat höchst ungewöhnlich«, begann Thomas: »Ich war wie jedesmal im reichen Haus Eugenios eingekehrt, um Botschaften, Spenden, Briefe, Kollekten mit auf den Heimweg nach Judäa zu nehmen. Durch den Pförtner hatte ich den Damen Bescheid geben lassen. Er sagte, ich müsse mich gedulden, Agathas Einkäufe pflegen Stunden zu dauern! Und die andere der beiden Schwestern, die Dame Angela, könne mich kaum empfangen. Sie sei wieder einmal krank, ›das Übliche‹…«

Thomas unterbrach sich, blickte fragend auf Samuel, der noch immer am Felsbrocken lehnte, den Wanderstab so fest in beiden Fäusten, daß seine Fingerknöchel weiß hervorstachen. Mit leerem Blick nickte er schwer und sagte wie zu sich selbst:

»Das Übliche! Ihr empfindlicher Magen… die dunkle Schwermut ihres Herzens… und wie ging es weiter?«

»Der Pförtner schickte mich in die Gesindeküche, wo ich bei einer guten Mahlzeit Agathas Rückkehr vom Markt abwarten sollte. Noch auf dem Weg dorthin holte eine dunkle Sklavin mich ein…«

»Monika, Angelas Vertraute«, Samuel war ganz gespannte Aufmerksamkeit. »Und?«

»Schon daß sie nur flüsterte, fiel mir auf. Ich sollte ihr lautlos folgen, am besten unsichtbar! Sie führte mich in das abgedunkelte Zimmer ihrer Herrin Angela.«

»Angela lag auf dem Bett? Am hellichten Tag!«

»Ja, die Fenster waren verhangen, obendrein hielt sie sich verschleiert. Sie bestand darauf, daß ich mich dicht zu ihr setzte, auf den Bettrand. Dann zog sie unter den Decken und Kissen den Brief an dich hervor und aus einem Kästchen neben ihrem Lager eine Handvoll Münzen. Beides steckte sie hastig in meine Kuriertasche.«

»Sprach sie mit dir? Wart ihr allein?«

»Die Sklavin mußte an der Tür wachen, konnte aber alles sehen und hören.«

»Gut zu wissen«, sagte Samuel vor sich hin, »Angela kann sich also vollkommen auf Monika verlassen.«

»Mir schien«, fuhr Thomas fort, »als hätten die beiden das heimliche Treffen regelrecht geplant. Angela sprach nur wenig und ohne jede Kraft. Schon die paar Worte strengten sie an. ›Bring es nach Askalon zu Bruder Samuel, bitte gleich! Nimm notfalls eine Schiffspassage. Und Vorsicht! Von dem Brief und dem Geld – nichts davon meiner Schwester verraten: Verlaß am besten gleich wieder das Haus. Eine Ausrede für den Pförtner… bitte…‹ Sie konnte wirklich kaum noch reden. Ich versprach ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, ich würde sofort weiterziehen. Sie muß wohl starke Schmerzen gehabt haben. Sie krümmte sich, preßte die flache Hand gegen den Leib und stöhnte. Samuel! Ist dir nicht gut?« Dem alten Mann schienen die Knie zu versagen, doch er blieb aufrecht und fragte heiser:

»Was dann?«

»Zurück ans Tor fand ich allein, war ja nicht zum ersten Mal in dem vornehmen Haus. Dem Pförtner sagte ich, ich hätte es mir anders überlegt, ich könne nicht so lange warten, bis die Dame Agatha vom Markt zurückkäme, ich hätte mich mit Schiffsleuten verabredet, die jede Stunde den Hafen verlassen würden.«

»War er mißtrauisch?«

Thomas schüttelte den Kopf:

»Kann ich nicht sagen. Es lenkte ihn gerade ein Lieferant vom Hafen ab, den Agatha geschickt hatte, mit angeblich frischen Meeresfrüchten: Krebstieren, Muscheln, Tintenfischen…«

Diesmal unterbrach Tobija den Erzähler:

»Warum nennst du sie ›angeblich frisch‹? Kannst du das beurteilen?«

»Man muß kein Fischer sein, mein Lieber, um zu erkennen, wie lange ein Fisch schon tot ist!«

»Angelas Lieblingsspeisen«, hörten sie Samuel sagen, »ihre Schwester Agatha meinte es gut mit ihr und verwöhnte die Ältere.«

»Also, ich hätte das Zeug nicht mehr gegessen!« gestand Thomas, »selbst der Pförtner rümpfte die Nase, aber er mußte die Ladung durchlassen, schickte den Lieferanten in die Küche.«

»Ist Tante Agatha geizig?« fragte Debora. Mit einem Blick auf Samuels aschfahles Gesicht entschuldigte sie sich: »Verzeih bitte, du hast jetzt wichtigere Sorgen.«

»Ja, Kind, wie ich nach Alexandria komme!«

Thomas schüttelte seine Botentasche, daß die Münzen darin klirrten und sagte:

»Damit bringen dich die Fischer von Askalon sogar bis ans Nildelta! Dort hat längst die Nilschwemme begonnen.«

»Reicht es auch für uns beide? Du wolltest doch nach Jerusalem, zu deinen Eltern?«

»Ich konnte mich seit Monaten nicht mehr um sie kümmern!«

Samuel nickte. Er schlug vor, erst einige Stunden zu schlafen.

»Dann werden wir weitersehen.«

Die Nacht kam rasch und kühl.

Abschied von Askalon

Подняться наверх