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2. Kapitel

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Chefinspektor Oskar Stern und Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht kehrten nach der Befragung des Totengräbers zurück zur Fundstelle der Leiche. Stern inspizierte die Grabstätte erneut und rätselte, was der Täter mit der Positionierung des Opfers hatte ausdrücken wollen, welche Botschaft dahintersteckte und ob das Opfer und die Tote in dem Grab einander gekannt hatten.

»Paula Eckinger«, las er die Inschrift auf dem Grabstein laut vor. »Sie ist nur 29 Jahre alt geworden.«

»Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen unserem Opfer, diesem Oliver Koch, und Paula Eckinger gibt?«, griff Grünbrecht seine Überlegungen auf.

»Wir sollten herausfinden, wie die Frau gestorben ist und ob sie Koch gekannt hat.«

»Okay.« Grünbrecht wollte sich schon an die Beschaffung der Informationen machen, als Stern sie zurückhielt.

»Mirscher und Kolanski sollen das erledigen, und sie sollen sich auch umhören, wie Koch als Politiker gewesen ist. Ob er beliebt war oder nicht. Wir beide fahren zu diesem Bründl, von dem Kolanski gesprochen hat.«

»Wieso das …? Ich dachte, Sie glauben eh nicht …«

»Ich will ausschließen, dass wir etwas übersehen. Auch wenn das mit dem Bründl unwahrscheinlich ist. Aber wir suchen nach etwas, in dem das Opfer ertrunken sein könnte, so wie Weber behauptet hat«, erklärte Stern seine Beweggründe. »Und wenn wir bei diesem Bründl Kampfspuren finden, haben wir vielleicht den Tatort. Denn auf dem Grab ist Koch sicher nicht ertrunken. Und auf dem Friedhof sehe ich auch sonst nichts, wo Wasser drinnen ist. Der Trog unter dem Kreuz ist ja leer.«

»Okay, Chef. Wir nehmen meinen Wagen«, schlug Grünbrecht vor und googelte bereits im Gehen alles Wissenswerte über das Maria Bründl im Exenholz, das gut zwei Kilometer außerhalb von St. Oswald in einem ausgedehnten Waldstück lag. Während sie den Motor des BMW startete, setzte sie Stern darüber in Kenntnis, was sie im weltweiten Netz in Erfahrung gebracht hatte. »Anscheinend gibt es zu diesem Bründl eine Geschichte. Ein Holzfäller hat sich schwer bei der Arbeit verletzt. Anschließend hat er mit dem Wasser die Wunde behandelt und ist rasch genesen.«

»Zufall«, brummte Stern.

»Diese Heilung war nur die erste. Ab da an sind ständig Menschen zu der Quelle gepilgert und wurden von ihren Leiden erlöst«, berichtete Grünbrecht weiter, was im Internet geschrieben stand.

»Ach was! Wir Menschen klammern uns in der Not an alles Mögliche. Der Glaube an dieses Wasser aktiviert die Selbstheilungskräfte, und die haben diese Menschen, von denen da geschrieben steht, gesund werden lassen. Und nicht das Wasser, das angeblich irgendwelche Heilkräfte besitzt.« Stern hielt nicht viel von solchen Dingen. Schon gar nicht, wenn es keine Beweise gab, sondern nur Aussagen von den angeblich Geheilten, die seines Erachtens nicht in der Lage waren, objektiv Zeugnis abzulegen. Mit Zeugenaussagen hatte er im Laufe seiner Dienstzeit so seine unliebsamen Erfahrungen gemacht. Einmal hatte ein Zeuge sogar beim Leben seiner Mutter geschworen und einen bestimmten Menschen als Täter identifiziert, der jedoch zur Tatzeit nachgewiesen in China gewesen war.

»Es gibt dort eine Kapelle«, erzählte Grünbrecht, als sie die Ortstafel passierten und sich der Wald vor ihnen ausbreitete. »Wenn ich mich richtig daran erinnere, was ich eben im Internet gelesen habe, hat man sie um 1696 erbaut. Der Altar kam erst viel später hinzu, von irgendjemandem aus Ottensheim.«

»Einem gewissen Meister Kepplinger«, ergänzte Stern.

Grünbrecht spähte neugierig zu ihrem Chef hinüber und war überrascht, dass er den Namen jenes Mannes kannte, der den Altar der Kapelle erschaffen hatte. Weder stufte sie Stern als besonders gläubig noch als geschichtlich interessiert ein.

»Tja, da staunen Sie, Grünbrecht, was? Auch ich kann mit einem Handy mehr tun, als bloß zu telefonieren.« Stern hielt sein Smartphone in die Höhe, auf dem die Seite der Gemeinde St. Oswald über das Maria Bründl geöffnet war, und wedelte damit herum. Nur mit dem Lesen tat er sich schwer. Er brauchte eine Brille, war ihm seit Längerem klar, aber irgendwie sträubte er sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Mit einer Brille, so glaubte er, wäre er dem Pensionsantritt noch näher als ohne, und mit seinen 59 Jahren fühlte er sich dem Rentnerdasein ohnehin schon viel zu nahe. Deshalb hatte er die Schriftgröße auf seinem Handy auf Maximum gestellt, um die Informationen halbwegs entziffern zu können. »Im Jahr 1680 ließen die damaligen Herrscher von Weinberg eine Badeanlage bei der Quelle errichten, 1761 wurde diese Anlage neu gebaut und im Jahr 1955 geschlossen«, las er laut vor.

»Schade, sonst hätten wir ein Bad nehmen können. Dadurch hätten wir am eigenen Leib erfahren, ob das Wasser eine Wirkung hat oder nicht«, scherzte Grünbrecht und bog in die Zufahrt zur Heilquelle ein. Auf dem Parkplatz vor der spätbarocken Wallfahrtskapelle Maria Bründl hielten sie an.

»Natürlich hat Wasser eine Wirkung. Man wird davon sauber und es löscht den Durst«, brummte Stern.

»Das natürlich auch, aber das meinte ich nicht. Irgendetwas muss doch dran sein an dieser Heilwasser-Geschichte.«

»Laut wissenschaftlichen Untersuchungen weist die Quelle einen Radongehalt von 5,6 nCi pro Liter auf«, dozierte Stern.

»Und was bedeutet das?«, fragte Grünbrecht, die keinen blassen Schimmer hatte, was ihr Vorgesetzter damit ausdrücken wollte. »Radon ist doch so radioaktives Zeug, oder etwa nicht?«

»Schon, aber wenn man der Medizin Glauben schenken darf, hilft das natürlich vorkommende Radon im Wasser bei Rheuma sowie Haut- und Atemwegserkrankungen.« Stern beendete die Internetrecherche und steckte das Handy in die Brusttasche seiner Jacke. »Und wie wir mit eignen Augen feststellen können, glauben ganz viele Menschen an die Heilkraft dieses Radonwassers.« Stern und Grünbrecht beobachteten vom Wagen aus, wie mehrere Personen ganze Kisten voller Wasserflaschen aus dem Wald herauskarrten.

»Irgendwo dort drinnen ist wohl die Quelle«, schlussfolgerte Grünbrecht.

»Ich schlage vor, wir sehen uns das mal an.« Stern stieg aus dem BMW und folgte den Pilgern hinein in den Wald. Nur einen Steinwurf von der Kapelle entfernt befand sich am Beginn eines Hangs eine Abfüllstation, zu der das Wasser der Quelle geleitet wurde, damit die Menschen beim Abfüllen ihrer Flaschen die Andacht in der Kapelle nicht störten. Mindestens acht Personen belagerten die Entnahmestelle, und Stern überlegte, wie viele weitere seit dem Mord an dem Politiker hier gewesen sein mochten. Sie alle hatten dazu beigetragen, dass alle Kampfspuren – wenn es welche gegeben hatte – vernichtet worden waren.

»Hier werden wir nichts finden, Chef«, kam Grünbrecht zu dem gleichen Ergebnis.

»An einem derart stark frequentierten Ort ist es immer schwer, Spuren zu sichten, Grünbrecht. Schauen wir uns den steinernen Brunnen mal genauer an, ob es überhaupt möglich wäre, dass darin jemand ertrinkt.«

»Oder ersäuft wird.«

»Auch das ist natürlich denkbar.«

Die Kriminalbeamten warteten darauf, bis die Menschen mit ihrem abgezapften Heilwasser von dannen gezogen waren, und besahen sich anschließend die Abfüllstation.

»Wir haben Glück, Chef. Dort oben ist eine Kamera. Sie zeigt auf den Platz vor der Entnahmestelle.«

»Der Winkel ist nicht gerade vielversprechend«, warf Stern ein. »Alles, was sich direkt vor der Quelle abspielt, wird nicht gefilmt. Und wenn man seitwärts den Hang runterkommt, erfasst einen die Kamera auch nicht.«

»Trotzdem sollten wir den Betreiber um die Aufnahmen bitten.«

»Übernehmen Sie das, Grünbrecht.«

Die Gruppeninspektorin notierte sich die Anweisung, und Stern stellte sich vor, wie der Mord an diesem Platz abgelaufen sein könnte.

»Wenn die Brunnen zur Gänze mit Wasser gefüllt sind, kann man darin jemanden ertränken. Und an diesem Hahn«, Stern deutete auf den Zapfhahn, der aus der Steinmauer ragte, »kann man sich leicht stoßen, wenn einem der Kopf unter Wasser gedrückt wird.«

»Das würde die Verletzung am Hinterkopf des Opfers erklären. Demnach müssten wir Spuren an dem Hahn finden«, resümierte Grünbrecht.

»Wenn inzwischen nicht zu viel Wasser durch Heilsuchende heruntergelaufen ist«, warf Stern ein.

»Die Spurensicherung soll trotzdem herkommen und alles absuchen«, erwiderte Grünbrecht, während sie das Handy entsperrte und nach der gewünschten Nummer scrollte.

»Wenn es Kampfspuren gegeben hat, sind die vernichtet«, sagte Stern zu Grünbrecht, was er sich vorhin bereits gedacht hatte, und deutete auf den Boden. »In den letzten Stunden sind hier bestimmt Dutzende Füße darüber getrampelt.«

»An der Entnahmestelle werden wir wahrscheinlich unzählige Spuren von genauso vielen Leuten finden«, zeigte Grünbrecht sich ebenfalls nicht gerade hoffnungsvoll, einen Treffer zu landen und somit zu einem schnellen Ergebnis im Mordfall Oliver Koch zu kommen. Anschließend wählte sie die Nummer der Spurensicherung.

Währenddessen begutachtete Stern das Granitbecken der Entnahmestelle und fragte sich, ob es tatsächlich möglich war, dass dieses Wasser, das irgendwo nahe der Kapelle aus der Erde kam, Heilkräfte besaß. Wenn ja, konnte es nicht schaden, sich damit das Gesicht zu waschen und die Augen zu reiben, entschied er kurzerhand, bevor Grünbrecht ihr Telefonat beendete. Dann musste er ihr auch nichts erklären. Er warf rasch einen Blick zu ihr hinüber, und als er sie mit dem Rücken zu sich stehend der Spurensicherung Anweisungen geben sah, bückte er sich und benetzte das Gesicht mit dem kühlen Nass. Mehrmals wusch er sich die Augen und hoffte, dass dadurch eine Brille nicht mehr nötig wäre.

»Chef, was machen Sie da?«, fragte Grünbrecht plötzlich hinter ihm.

»Äh …« Stern fiel es schwer, auf die Schnelle eine passende Antwort zu finden. Sein Gesicht war nass, das Wasser tropfte von seinem Kinn auf Brust und Bauch und hinterließ auf dem blauen Hemd dunkle Flecken. Es war zwecklos, ihm fiel keine Ausrede ein, also blieb er bei der Wahrheit. Oder der Beinahe-Wahrheit. »Mir war heiß, und da habe ich mich ein wenig abgekühlt.« Mit der Hand wischte er das überschüssige Wasser ab, um zu verhindern, dass es weiter seine Kleidung durchnässte.

»Sie könnten einen Tatort verunreinigt haben«, wies Grünbrecht ihn auf diese Möglichkeit hin.

»Ich bin mir sicher, dass der Mord nicht hier stattgefunden hat. Außerdem habe ich aufgepasst, dass ich nichts berührt habe bis auf den Hahn. Und den haben Unzählige vor mir angefasst.«

»Ihnen war gar nicht heiß. Sie haben das Wasser ausprobiert, weil Sie wissen wollen, ob es tatsächlich Heilkräfte besitzt. Wegen Ihrer Augen. Und ich dachte, Sie halten nichts von diesem Hokuspokus. Sie sollten sich eine Brille zulegen, Chef.« Grünbrecht sah ihren Vorgesetzten herausfordernd an. Stets wetterte er gegen Gefühle und Glauben. Immer verlangte er Fakten. Doch wo waren die Beweise für die Heilkraft dieses Wassers?

»Ich halte auch nichts davon. Aber wenn wir schon mal da sind, kann es nicht schaden, es zu testen«, rechtfertigte Stern sein Handeln.

Grünbrecht schüttelte den Kopf. »Wenn ich das Mirscher und Kolanski erzähle …«

»Nichts werden Sie, Grünbrecht! Das bleibt unser kleines Geheimnis!« Stern hob drohend den Zeigefinger.

»Sie können mich nicht zum Schweigen zwingen, Chef. Wenn ich es für mich behalte, dann mache ich das aus freien Stücken«, stellte die Gruppeninspektorin klar.

Stern seufzte. Natürlich hatte Grünbrecht recht, auch was sein ansonsten so penibel auf Fakten getrimmtes Bewusstsein anbelangte. Für einen Augenblick hatte er sich hinreißen lassen und an die Kraft des Wassers glauben wollen. Nun, schaden würde es ihm bestimmt nicht, hoffte er, auch wenn darin in einer höheren Konzentration als üblich Radon zu sein schien. Er würde dadurch schon nicht erblinden. Obwohl sich jetzt ein ungutes Gefühl bei ihm einstellte.

»Wir sollten für Weber eine Probe mitnehmen. Die kann er mit den Rückständen in der Kleidung des Opfers abgleichen. Wegen dem hohen Radongehalt müsste leicht herauszufinden sein, ob das Opfer hier getötet wurde«, wechselte er rasch das Thema.

»Haben Sie etwas dabei, in das wir das Wasser füllen können? Oder wollen Sie Ihr Hemd zur Verfügung stellen?«, stichelte Grünbrecht und deutete auf die dunklen feuchten Flecken auf Sterns Brust.

Stern ignorierte seine Kollegin und bat eine der Frauen, die eben mit mehreren leeren Flaschen in den Wald gepilgert kamen, um ein Behältnis. Und weil er es gar so charmant anstellte, füllte ihm die dralle Endvierzigerin auch noch selbiges, was Stern ein überhebliches Grinsen ins Gesicht zauberte. Dann aber musste er die Damen enttäuschen und ihnen mitteilen, dass sie heute kein Heilwasser mehr würden zapfen können, da die Spurensicherung alles untersuchen musste. Nur für die falsche Blondine, die ihm eines ihrer Gefäße überlassen hatte, machte er eine Ausnahme. Sekunden später war die Spurensicherung bereits im Anmarsch und sperrte das Gebiet rund um die Heilquelle ab. Stern übergab ihnen die Flasche mit dem Quellwasser, welches später im Labor analysiert und mit den Proben von der Kleidung des Opfers abgeglichen werden würde. Sollte sich ebenso Wasser in der Lunge des Toten befinden, würde das natürlich ebenfalls auf eine eventuelle Übereinstimmung überprüft werden.

»Kommen Sie! Wir fahren nach St. Oswald zurück. Ich bin gespannt, was Kolanski und Mirscher indessen über das Opfer herausgefunden haben«, sagte Stern, als sie wieder oben am Parkplatz standen. Anschließend ließ er sich auf den Beifahrersitz von Grünbrechts BMW fallen.

*

Zurück auf dem St. Oswalder Friedhof sahen Stern und Grünbrecht, dass die Autos der Kollegen immer noch am Eingang des Friedhofs parkten. Grünbrecht stellte ihren Wagen auf der Straßenseite gegenüber ab. Da fiel Sterns Blick auf eine ihm bekannte Gestalt. Eleonore Winkler, Reporterin bei den OÖ. News, kam den Friedhofsweg herunter und geradewegs auf ihn zugestöckelt.

»Chefinspektor Stern!«, rief sie und wedelte mit einem Aufnahmegerät in der Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.

Stern fragte sich, warum die Journalistin bereits Kenntnis von dem Mordfall hatte, gab sich aber sofort selbst die Antwort. Die junge ehrgeizige Frau hatte bestimmt mal wieder den Polizeifunk abgehört.

»Frau Winkler«, grüßte Stern zurückhaltend und wollte sich an der zarten Reporterin vorbeidrücken, doch die stellte sich ihm selbstbewusst mit ihren Stöckelschuhen in den Weg. Sie trug ein hellblaues Kostüm, um den Hals hatte sie einen azurblauen Seidenschal gewickelt. In diesem Outfit hätte die Journalistin über einen Catwalk flanieren können, hier vor dem Friedhof wirkte sie eindeutig overdressed.

»Stern, darf ich Sie zu dem Mord interviewen?«, fragte sie mit einem Augenaufschlag wie einst Marilyn Monroe.

»Sie wissen, dass ich Ihnen über laufende Ermittlungen keine Auskunft geben darf. Dafür ist die Pressestelle in der Nietzschestraße am Landeskriminalamt zuständig«, erwiderte Stern gelassen.

»Sie bestätigen also, dass es sich um Mord handelt?«, redete Winkler in ihr Aufnahmegerät hinein und hielt es anschließend Stern hin.

»Das hab ich nicht gesagt«, brummte Stern grimmig. Die Journalistin verstand es jedes Mal, ihn aus der Reserve zu locken.

»Ausgeschlossen haben Sie es allerdings auch nicht.«

Stern blieb stehen. Seine Gelassenheit war wie weggepustet. Eindringlich betrachtete er die Frau. »Wir wissen doch noch gar nicht, ob es Mord war. Wir haben eben erst mit den Ermittlungen angefangen.«

»Können Sie mir zumindest sagen, wer der Tote ist?«, fragte Winkler.

»Solange seine Identität nicht bestätigt ist, kann ich das nicht«, sagte Stern und ging weiter.

»Stern?«, rief Winkler ihm hinterher.

Der Chefinspektor blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um. Er hatte mittlerweile das Friedhofstor erreicht und zog es hinter sich zu. Erleichtert, wie er feststellte, denn dieses Tor bot ihm vor der neugierigen und gleichzeitig scharfsinnigen Frau ein wenig Schutz. Wenngleich er dieses Gefühl als lächerlich abtat. Immerhin war er eine stattliche Erscheinung, vielleicht ein bisschen zu stattlich, wenn er an die paar Kilo zu viel dachte, die er auf die Waage brachte, und die Frau wog gut ein Drittel weniger als er. Was sollte sie ihm da schon entgegensetzen? Dennoch strahlte sie etwas aus, was ihm Respekt einflößte. Es war ihr Verstand, der dieses Gefühl bei ihm auslöste.

»Geben Sie mir ein Exklusiv-Interview, so wie damals, als der Liebenauer Priester ermordet wurde?« Eleonore Winkler klimperte mit ihren stark getuschten Wimpern. Sie wusste ihre weiblichen Reize einzusetzen, das musste Stern zugeben.

»Damals haben Sie mir einen Tipp gegeben, erinnern Sie sich?« Stern hatte hinter dem Tor aus Gitterstäben angehalten.

»Ja, ich erinnere mich«, flötete Winkler durch die Stäbe hindurch. »Wenn ich Ihnen wieder einen Tipp gebe, steht das Interview dann? Die Menschen interessieren sich viel mehr für eine Story, die aus dem Mund eines Chefinspektors stammt«, sagte sie, griff durch die Gitterstäbe, fasste nach dem Revers von Sterns Jacke und zupfte ihn zurecht, »als für die langweiligen Fakten einer Pressestelle.«

Stern, dem Winklers Verhalten langsam unangenehm wurde, überlegte, was schon schiefgehen sollte, wenn er in diesen Deal einwilligte? Eigentlich nichts. »Ich bin gespannt, welchen Tipp ich von Ihnen kriege, der uns hilft, den Mord rascher aufzuklären«, sagte er und wandte sich ab.

»Ich sagte doch, dass es sich um einen Mord handelt«, lachte Eleonore Winkler und klatschte einmal in die Hand. Auch wenn sie draußen vor den Toren des Friedhofs bei den anderen Schaulustigen warten musste, freute sie sich über diesen kleinen Erfolg.

Stern biss sich auf die Lippen. Dass ihm dieser blöde Kommentar entfleucht war, ärgerte ihn. Er hoffte, dass die Reporterin mit dieser Information sorgfältig umging, da sie sich schließlich ein Exklusiv-Interview von ihm erhoffte. Beeinflussen konnte er es nun allerdings nicht mehr.

Mirscher und Kolanski hatten sich indessen in der Leichenhalle einquartiert und befragten dort die auskunftswilligen St. Oswalder.

»Habt ihr etwas herausgefunden, das uns weiterhilft?«, wollte Stern von Gruppeninspektor Hermann Kolanski wissen.

»Nur das Übliche. Einen wirklich Verdächtigen haben wir nicht, aber wir stehen ja erst am Anfang der Ermittlungen«, vernichtete Kolanski Sterns Hoffnung, den Fall rasch zu lösen.

»Okay. Grünbrecht und ich fahren zur Witwe und überbringen ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes«, sagte Stern.

»Ich möchte auf gar keinen Fall mit euch tauschen«, gab Kolanski ehrlich zu. »Da höre ich mir viel lieber an, was die St. Oswalder zu sagen haben, auch wenn vieles davon nur Klatsch und Tratsch ist. Wusstest du, dass die hier das erste oberösterreichische Schnapsmuseum haben?«

»Nein, wusste ich nicht«, brummte Stern und blickte auf die Uhr. Es war längst nach Mittag, sein Magen knurrte. Das trug nicht gerade dazu bei, ihn bei Laune zu halten.

»Das sollten wir uns mal ansehen«, redete Kolanski weiter von dem Schnapsmuseum.

»Ach, sollten wir?« Sterns Stimmung verbesserte sich dadurch nicht wirklich.

»Anscheinend kann man die Schnäpse dort verköstigen«, fügte Kolanski hinzu.

»Ich hab Hunger, Kolanski. Ich brauch etwas zum Beißen und nicht zum Saufen!«, fuhr Stern den Kollegen an. »Außerdem sollst du mit den Leuten nicht über das Schnapsmuseum reden, sondern über das Opfer!«

»Dann sollten wir unbedingt bald etwas essen«, lenkte Kolanski sofort ein, um seinen Chef nicht noch mehr zu reizen.

»Wir treffen uns nachher im Gasthaus im Ort. Ich hab da eines gesehen, als ich hergefahren bin. Liegt direkt an der Straße«, sagte Stern, der selber wusste, dass er im Begriff war, unleidig zu werden. Hunger brachte diese Eigenschaft bei ihm zum Vorschein. Er hielt nach Grünbrecht Ausschau, und als er sie bei Mirscher entdeckte, deutete er ihr, dass sie mit ihm mitkommen solle. Das war auch so eine Sache, die seine Laune regelmäßig in den Keller sinken ließ. Mirscher und Grünbrecht hatten vor zu heiraten, und Bormann, der Dienststellenleiter, lag ihm seit Wochen in den Ohren, dass er die Angelegenheit regeln solle, was bedeutete, dass einer von den beiden die Abteilung verlassen musste. Doch Stern wollte sich nicht für oder gegen einen aus seinem Team entscheiden. Er wollte, dass alles blieb wie es war. Denn so war es gut. Alles lief, wie es laufen sollte.

Wenn er sich für Grünbrecht entschied, dauerte es bestimmt nicht lange, bis sie ein Kind bekam. Dann würde er auch sie verlieren, zumindest für eine gewisse Zeit, die allerdings lange genug war, dass er sich derweilen in den Ruhestand verabschiedete. Das passte nicht zu seinen Plänen, da er sie eigentlich als seine Nachfolgerin vorschlagen wollte. Mara Grünbrecht war die geborene Ermittlerin, hatte ein Gespür für Menschen und einen todsicheren Riecher, was die Motive der Täter anbelangte. Sie war die perfekte Ergänzung zu ihm. Er war der reife, auf Fakten getrimmte Kriminalbeamte und sie eine junge Inspektorin, die auch Bauchgefühle zuließ. Außerdem wäre sie in der Lage, Mirscher und Kolanski eine gute Vorgesetzte zu sein. Wahrscheinlich besser, als er es jemals gewesen war. Und wenn er sich für Mirscher entschied, brauchte er sich zwar über eine lange Babypause keine Gedanken zu machen, so wie er die beiden einschätzte, dennoch war der Kollege nicht so mit dem Herzen ein Ermittler wie Grünbrecht, auch wenn er ein guter Polizist war. Grünbrecht ging mit einer Leidenschaft an die Sache ran, die Mirscher fehlte. Außerdem …

»Wohin fahren wir?«, unterbrach Grünbrecht seine Gedanken.

»Zur Witwe nach Brunngassen in St. Oswald«, antwortete Stern und vertagte die längst überfällige Entscheidung, wer denn nun in eine andere Abteilung wechseln sollte, zum wiederholten Mal auf später.

»Ich hab die Adresse«, sagte Grünbrecht und hielt ihr Handy hoch.

»Natürlich haben Sie die«, antwortete Stern nicht überrascht. Er wusste, wie zuverlässig seine Kollegin war. Erneut schmerzte es ihn, sie vielleicht gehen lassen zu müssen.

Schweigend fuhren sie nach Brunngassen zu Silvia Koch, um ihr vom Tod ihres Mannes zu berichten. Das Überbringen von Todesnachrichten war etwas, an das sich Stern nie hatte gewöhnen können und auf das er sich geistig vorbereiten musste. Als sie vor dem schmucken Einfamilienhaus anhielten, fiel ihnen vor der Tür ein Kinderwagen auf. Stern erinnerte sich, dass Grünbrecht gesagt hatte, dass die Kochs ein Kind hatten.

»Ich hasse diesen Teil unseres Jobs«, sprach Grünbrecht aus, was Stern dachte.

»Bringen wir es hinter uns«, sagte er und stieg aus dem Wagen.

Das Haus der Kochs lag am Rande von Brunngassen mit Blick auf den nahegelegenen 18-Loch-Golfplatz, der an diesem Tag, dank des schönen Wetters, gut besucht war, vorwiegend von Rentnern. Wenn Stern erst einmal im Ruhestand war, würde er sich ebenso eine Beschäftigung suchen müssen, überlegte er. So eine gemütliche Wanderung über einen Golfplatz, und hie und da einen Ball in ein Loch katapultieren, wäre vielleicht das Richtige. Doch jetzt galt es, eine Frau über den Tod ihres Mannes zu informieren. Er zog die Hose hoch und schritt vor Grünbrecht die Einfahrt her zu dem Haus der Kochs. Dort angekommen warf er einen Blick in den Kinderwagen, ein Kleinkind schlummerte darin. Die Haustür stand halb offen. Es hatte den Anschein, als wären Mutter und Kind eben von einem Spaziergang zurückgekehrt.

»Na toll«, seufzte Grünbrecht, der es offensichtlich besonders naheging, einer jungen Mutter sagen zu müssen, dass sie Witwe war. Stern überlegte, ob das etwas damit zu tun hatte, dass sie vielleicht selber schwanger war, verscheuchte diesen Gedanken jedoch sofort. Noch gab es keine Anzeichen dafür.

Der Chefinspektor spähte durch den Türspalt und drückte auf die Türglocke. Eine helle Tonabfolge ertönte. Im Inneren des Hauses waren Geräusche zu hören, jemand näherte sich der Tür. Als diese zur Gänze geöffnet wurde, stand eine Frau um die 30 vor den Kriminalbeamten, die langen blonden Haare zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und auf ihrem Shirt Reste von Nahrung. Anscheinend hatte sie nach der Fütterung des Kindes bislang keine Zeit gefunden, sich umzuziehen. Sie wirkte gestresst. Wahrscheinlich nutzte sie die wenigen Stunden, in der das Kind schlief, um ein paar Dinge im Haushalt zu erledigen.

»Frau Silvia Koch?«, fragte Stern, damit er Gewissheit hatte, nicht einer falschen Person die Todesnachricht zu überbringen.

»Ja?« Die Frau warf einen Blick in den Kinderwagen, und als sie feststellte, dass das Kind weiterhin seelenruhig schlief, wanderten ihre Augen zurück zu den fremden Leuten vor ihrer Haustür.

»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt Oberösterreich und müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Ihr Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden«, sagte Stern und beobachtete die Frau genau, damit er jede ihrer Regungen registrierte.

»Oliver? Das kann nicht sein.« Die Ehefrau des Opfers blickte die Inspektoren ungläubig an.

»Es tut uns sehr leid, Frau Koch«, sagte Grünbrecht. »Wir haben Ihren Mann tot aufgefunden.«

»Sind Sie sicher, dass es Oliver ist?« Die Unterlippe der Frau zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Verstand schien sich zu weigern, den Tod ihres Mannes auch nur in Erwägung zu ziehen.

»Wir sind sicher«, bestätigte Stern.

»Nein!« Die Frau sank zu Boden und hielt sich wie eine Ertrinkende am Türstock fest. Sie weinte, schrie, bis nur noch seltsame Geräusche ihrer Kehle entschlüpften. Von Grünbrecht ließ sie sich hochziehen und ins Wohnzimmer führen. Die Gruppeninspektorin geleitete sie zur Couch, wo die Witwe niedersank und sich wie ein verletztes Tier wand.

»Wir brauchen einen Arzt! Der soll ihr ein Beruhigungsmittel geben«, bemerkte Grünbrecht. Stern griff umgehend zu seinem Mobiltelefon und wählte den Notruf.

»Ich sehe nach dem Kind«, sagte er, als er das Gespräch beendet hatte und sie auf das Eintreffen des Mediziners warten mussten. Indessen brachte Grünbrecht in Erfahrung, wer sich um die Familie kümmern konnte, und rief die Schwester von Silvia Koch an. Die versprach, umgehend herzukommen.

Eine halbe Stunde später standen die Kriminalbeamten erneut vor dem Haus in Brunngassen, herausgefunden hatten sie jedoch nichts. Der Arzt und das Kriseninterventionsteam umsorgten die junge Witwe, die Tante das mittlerweile wache Kind.

»Ich schlage vor, wir kommen später noch mal. Lassen wir der Frau ein wenig Zeit, diesen schweren Schlag zu verkraften. In ihrem Zustand bekommen wir ohnehin nicht viel aus ihr heraus. Ich frage mich aber, warum sie ihren Mann nicht als vermisst gemeldet hat? Schließlich hat er die Nacht nicht zu Hause verbracht«, spekulierte Stern.

»Dafür kann es mehrere Gründe geben«, warf Grünbrecht ein. »Vielleicht ist sie mit dem Baby überfordert und hat nicht einmal gewusst, ob ihr Mann zu Hause gewesen ist oder nicht. Viele Paare schlafen, wenn sie kleine Kinder haben, in getrennten Zimmern.«

»Ach ja?« Stern war hellhörig geworden. Hatte er eben so etwas Ähnliches herausgehört, wie dass Grünbrecht doch keine Kinder haben wollte?

»So etwas gibt es, klar«, bekräftigte Grünbrecht.

»Soll das heißen, dass Sie …?« Stern stammelte umständlich herum.

»Dass ich was?« Grünbrecht verstand nicht, was ihr Chef meinte.

»Na, wollen Sie einmal …?« Erneut beendete Stern den Satz nicht, sondern hoffte, dass auch so klar wurde, was er meinte.

Doch dem war nicht so. »Was will ich?«, fragte Grünbrecht.

»Na, ein Kind!«, platzte Stern heraus.

»Was hat der Fall damit zu tun, ob ich ein Kind will?« Grünbrecht zog verständnislos die Stirn in Falten.

»Nichts. Ich wollte nur wissen, ob Sie mal Kinder haben wollen«, erklärte Stern gereizt. Über so etwas zu reden fiel ihm nicht leicht, schon gar nicht mit Grünbrecht. Dennoch fühlte er sich jetzt, wo die Sache ausgesprochen war, irgendwie erleichtert.

Grünbrecht schmunzelte. Endlich hatte sie verstanden, auf was ihr Chef hinauswollte. »Natürlich will ich mal Kinder haben, ich finde diesen Wunsch ganz normal. Aber zuerst werden Edwin und ich heiraten.«

Stern wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder nicht. Die Entscheidung, wer von den beiden nach der Hochzeit das Team verlassen musste, nahm ihm Grünbrechts Antwort jedenfalls nicht ab. Er wollte nicht weiter nachhaken, da ihm das Gespräch unangenehm war und er jetzt sowieso nichts ändern konnte. Außerdem machte sich sein Magen wieder bemerkbar und schickte Geräusche die Speiseröhre empor, die dem Brummen eines Bären ähnelten. Er entschied, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um Kolanski und Mirscher im ortsansässigen Gasthaus zu treffen und seiner schlechten Laune mit einem saftigen Schweinsbraten samt Kraut und Semmelknödel ein Ende zu bereiten.

Eine Viertelstunde später betraten er und Grünbrecht die Gaststube. Gemütliches Flair empfing sie, ebenso wie aufgeregte Wirtsleute, die natürlich alles über den Mord wissen wollten.

Mit den Worten »Laufende Ermittlungen« erklärte Stern ihnen, warum sie nichts erzählen durften, und setzte sich an einen freien Tisch. Dort wurden sie von der hiesigen Stammtischrunde misstrauisch beäugt.

»Mirscher und Kolanski kommen gleich«, informierte ihn Grünbrecht nach einem Blick auf ihr Handy und blätterte anschließend in der Speisekarte. Stern hielt seine Karte eine Armlänge von sich gestreckt, um sie besser studieren zu können. Diese verdammte Altersweitsichtigkeit war in den letzten Wochen rapide fortgeschritten. Wenn er nicht irrte und er die verschwommene Aneinanderreihung von Buchstaben richtig interpretierte, war das erste Gericht auf der Speisekarte ein Schweinsbraten mit Semmelknödel. Seine Lieblingsspeise. Die würde er nehmen. Also brauchte er gar nicht weiterzulesen.

»Die Ehefrau als Täterin können wir wohl ausschließen«, ließ er die Begegnung mit Silvia Koch Revue passieren und klappte die Speisekarte zu. Mit der Bestellung wollten sie bis zum Eintreffen der Kollegen warten. Vorausgesetzt, das dauerte nicht mehr allzu lange.

»Das denke ich auch«, schloss sich Grünbrecht seiner Meinung an. »Trotzdem sollten wir nachher noch einmal zu ihr fahren und mit ihr reden. Vielleicht hat sie ja einen Verdacht, wer ihrem Mann das angetan haben könnte, und vor allem warum.«

»Das machen wir«, brummte Stern und rieb sich die Hände. In dem Gasthaus duftete es verführerisch, und Sterns Verlangen, seinen Hunger zu stillen, wuchs von Sekunde zu Sekunde weiter an. »Wo bleiben bloß Mirscher und Kolanski? Ich verhungere …«

Im selben Augenblick schwang die Tür der Gaststube auf und die Kollegen traten ein.

Stern war erleichtert. »Wenn man vom Teufel spricht.«

Grünbrecht lächelte den Eintretenden entgegen. Ein angedeuteter Kuss flog durch die Luft, was Stern einen Seufzer entriss. Mirscher setzte sich neben seine Verlobte, Kolanski nahm neben dem Chefinspektor Platz. Der bestellte nun endlich seinen geliebten Schweinsbraten, Grünbrecht wie üblich einen Salat und Mirscher ein Kotelett nach Mühlviertler Art mit Speck und Champignons. Kolanski begnügte sich mit einer Suppe und begründete seine Zurückhaltung mit dem durch den Mordfall einhergehenden Zeitmangel, genügend Sport treiben zu können, weshalb er bei gleichbleibendem Verzehr von Speisen an Gewicht zulegen würde. Das wolle er auf gar keinen Fall. Stern, dem Kolanskis Sportleidenschaft schon immer schleierhaft gewesen war, ließ sich den Appetit deswegen nicht verderben und orderte noch einen Semmelknödel extra zu seinem Schweinsbraten.

»Was habt ihr über das Opfer herausgefunden?«, begann er mit der Besprechung des Falls.

»Oliver Koch war so etwas wie eine jüngere Ausgabe von Donald Trump. Jähzornig, hat jeden Furz getwittert. Unberechenbar soll er gewesen sein und frauenverachtend«, kam Kolanski ebenfalls gleich zur Sache.

»Muss man heutzutage so sein, um gewählt zu werden?«, stieß Grünbrecht verächtlich aus.

»Er hat gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in dem ehemaligen Gasthaus Maria Bründl gewettert, das zuvor leer gestanden hat. Das hat ihm nicht nur Freunde beschert, haben mir die St. Oswalder erzählt. Der Großteil der Bevölkerung steht der Aufnahme von Flüchtlingen nämlich positiv gegenüber«, redete Mirscher weiter.

Schon wieder dieses Maria Bründl, dachte Stern, und seine Gedanken schweiften kurz zu seinem Selbstversuch mit dem radonhaltigen, angebliche Heilkräfte besitzenden Wasser ab. Er schaute aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus, an dem ein Reklameschild befestigt war, um zu testen, ob seine Sehkraft sich inzwischen verbessert hatte. Als er keine Veränderung bemerkte, versuchte er erneut, den Text auf der Speisekarte zu entziffern, was ihm jedoch ebenso schwerfiel. Also hatte sich weder an seiner Kurzsichtigkeit noch an seiner Altersweitsichtigkeit etwas geändert.

»Bei einem Teil der Österreicher hätte ihm das große Sympathie eingebracht«, spuckte Grünbrecht angewidert aus. Es war ihr anzusehen, was sie davon hielt. »Ich verstehe nicht, was in unserem Land los ist. Uns geht’s doch gut, so gut wie schon lange nicht mehr. Wir haben ein funktionierendes Sozialsystem, sodass kaum jemand unter den Rost fällt, und dennoch verlangen viele Österreicher nach dem rechten Lager, einem ›starken Mann‹.«

»Eine seltsame Entwicklung, wie auch die Art des Todes von unserem Opfer seltsam ist«, lenkte Stern das Gespräch wieder auf ihren Fall.

»Ertrunken auf einem Grab«, brachte Kolanski es auf den Punkt.

»Das steht noch nicht fest«, warf Stern ein.

»Aber wie die Dinge liegen, ist es wahrscheinlich.«

Dem wusste Stern nichts entgegenzusetzen. Dennoch würde erst Webers Obduktion der Leiche Gewissheit bringen.

»Der Fundort ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Tatort«, sagte Mirscher. »Wir wissen noch immer nicht, wo das Opfer getötet wurde.«

Die Unterhaltung verstummte, weil das Essen serviert wurde. Ein saftiger Schweinsbraten samt drei Semmelknödel wanderte vor Stern auf den Tisch, und ihm lief der Speichel im Mund zusammen. Dass diese Mahlzeit die letzte für lange Zeit sein würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.

Mühlviertler Grab

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