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4. Kapitel

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Als Stern am nächsten Morgen im Landeskriminalamt in Linz in der Nietzschestraße eintraf, waren die Kollegen bereits versammelt und hefteten Notizen über den aktuellen Fall an eine Magnetwand.

»Na, auch schon da?«, begrüßte Kolanski ihn mit breitem Grinsen.

Stern ignorierte den Gruppeninspektor und brummte ein »Guten Morgen« in die Runde. Danach wollte er wissen, was es Neues gab.

»Dieser Oliver Koch ist anscheinend öfter am Golfplatz in St. Oswald gewesen als im Gemeindeamt«, erklärte Mirscher herablassend.

»Und wenn er nicht Golf gespielt hat, hat er sich in Linz bei seinen Parteifreunden herumgetrieben und dort genetzwerkt. Offenbar wollte er tatsächlich groß rauskommen, aber nicht als Bürgermeister von St. Oswald, sondern als Landes-Nummer-eins seiner Partei.« Kolanski betonte das Wort »Landes-Nummer-eins«, als gäbe es nichts Wichtigeres. Zumindest wenn man Politiker war.

»Ein aufstrebender Fisch im Haifischbecken also«, resümierte Stern. »Checkt sein politisches Umfeld, wer ihn unterstützt hat und wer etwas gegen ihn hatte. Wenn es in der Politik nach oben geht, hat man nicht nur Freunde.«

»Ja, Chef.«

»Ich habe bei der Gemeinde in St. Oswald angerufen und nach den Bändern der Überwachungskamera gefragt, die bei dem Bründl angebracht ist. Die haben mir gesagt, dass darauf niemand zu sehen sei, da die Kamera in den Wald hineingerichtet war. Irgend so ein Scherzkeks hat sie wohl verstellt, haben die gemeint. Manchmal treiben sich dort Jugendliche herum, die knutschen und fummeln und dabei ungestört sein wollen. Vielleicht waren die es«, berichtete Grünbrecht.

»Kommt das denn öfter vor?«, wollte Stern wissen.

»Dass Jugendliche knutschen? Davon gehe ich …«

»Blödsinn! Ich meine, dass die Kamera verstellt wird?«

»Das passiert hin und wieder, laut den Gemeindemitarbeitern. Wenn’s keine Jugendlichen waren, dann vielleicht jemand, der sich geniert hat, weil er Wasser gezapft hat und nicht wollte, dass er dabei gefilmt wird. Dieser ganze Heilwasser-Hokuspokus mutet ja doch ein wenig abergläubisch an, und nicht jeder will als abergläubisch gelten, gell?«, erwiderte Grünbrecht und sah Stern dabei amüsiert an. Denn natürlich war ebenso er mit dieser Anspielung gemeint.

»Wenn es eh schon mehrmals vorgekommen ist, dass die Kamera vom Bründl weggedreht wurde, ist das weniger verdächtig, als wenn es nur dieses eine Mal so gewesen ist. Denn dann wäre es ein Indiz dafür, dass jemand die Geschehnisse bei der Wasserentnahmestelle vertuschen wollte«, erklärte Stern, insgeheim froh darüber, dass durch das Verstellen der Kamera seine Gesichtswäsche nicht aufgenommen worden war. Das hätte ihm noch gefehlt, dass man ausgerechnet ihn vor dem Bründl sah, wie er sich mit dem radonhaltigen Wasser die Augen benetzte. Ihm reichte es schon, als gekürter Langsamfahrer von den Kollegen durch den Kakao gezogen zu werden.

»Die Tote in dem Grab, auf dem wir das Opfer gefunden haben, heißt Paula Eckinger, was wir ja schon wissen«, wechselte Grünbrecht das Thema, da sie diese Kamerasache nicht weiterbrachte. »Paula Eckinger ist vor einem Jahr im Alter von 29 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hat sie und ihren Mann von der Straße abgedrängt, woraufhin ihr Auto gegen einen Baum prallte. Danach hat der Lenker des anderen Wagens Fahrerflucht begangen. Paula Eckinger ist am Unfallort verstorben, ihr Mann, der am Steuer gesessen hat, ist seither an den Rollstuhl gefesselt.«

»Hat man den Fahrer des anderen Wagens erwischt?«

»Nein.«

»Scheiße!«

Grünbrecht ging zur Magnetwand und befestigte darauf einen mehrere Jahre alten, ausgedruckten Zeitungsartikel. »Paula Eckinger wurde einmal zur Miss Mühlviertel gekürt. Sie war schön, ehrgeizig und fromm. Zumindest, wenn man diesem Artikel einer regionalen Wochenzeitung Glauben schenkt.« Auf dem abgedruckten Foto strahlte die damals 20-Jährige in das Objektiv des Fotografen. Über die rechte Schulter und die Brust hing eine Schärpe mit dem Aufdruck »Miss Mühlviertel« neben den Logos der Sponsoren der Misswahl. Darunter trug Paula ein knappes schwarzes Kleid, das ihre Figur vollends zur Geltung brachte. Stern musste zugeben, dass sie eine echte Schönheit gewesen war.

Kolanski stieß einen leisen Pfiff aus und Mirscher sagte: »Ja, das tue ich.« Dabei schien sich sein Blick für Grünbrechts Geschmack zu lange auf Eckingers Foto zu heften. Die Gruppeninspektorin verdrehte die Augen und hieb ihren Verlobten mit dem Ellbogen in die Seite. Mirscher war ein Typ, der einem nicht beim ersten Mal auffiel, und Grünbrecht hatte sich erst langsam in ihn verliebt, in seine blauen Augen und die kurzen brünetten Haare, die manchmal kreuz und quer standen. Vor allem schätze sie an ihm, dass er Gesprächen über Gefühle nicht aus dem Weg ging, was für einen Mann ziemlich untypisch war. Zumindest gemessen an den Männern, die Grünbrecht bisher kennengelernt hatte.

»Ich meinte nicht, ob sie schön gewesen ist, das steht zweifelsohne außer Frage«, sagte Grünbrecht leicht schnippisch. »Sondern ob sie tatsächlich derart fromm war, wie in dem Zeitungsbericht behauptet wird. Ein junges Mädel, das so blendend aussieht, hat doch bestimmt viele Verehrer.«

»Gibt es eine Verbindung zwischen ihr und diesem Oliver Koch?«, hakte Stern nach.

»Diese Frage kann ich noch nicht beantworten«, gab Grünbrecht zu. »Dazu muss ich erst die Eltern befragen oder die Nachbarn oder wen auch immer.«

»Vielleicht sollten wir mit dem Ehemann reden. Weiß der überhaupt schon Bescheid, was am Grab seiner Frau passiert ist?«

»Also von mir nicht«, sagte Mirscher, und auch Kolanski hob abwehrend die Hände.

»Dann übernehmen wir das, Grünbrecht.« Stern stand auf und wandte sich zur Tür.

»Wer fährt?«, wollte die Kollegin wissen.

»Ich«, brummte Stern. Doch als er den gelangweilten Gesichtsausdruck von Grünbrecht sah und sich an seinen Titel als langsamster Autofahrer des Landeskriminalamtes, den ihm die angeheiterten Kollegen bei der letzten Weihnachtsfeier feierlich verliehen hatten, erinnerte, streckte er den Arm aus und ließ den Schlüssel seines Audi A6 in Grünbrechts offene Hand fallen. Er wusste, dass sie lieber mit seinem luxuriösen Schlitten fuhr als mit ihrem Dienstwagen.

»Danke, Chef!«, sagte sie kokett und marschierte Po wackelnd an Mirscher und Kolanski vorbei in Richtung Ausgang. Die erstaunten Blicke der Kollegen folgten ihr, ebenso blöde Kommentare, wie dass Mirscher eine Gehaltserhöhung wolle und Kolanski acht aufeinanderfolgende Wochen Urlaub, um mit dem Fahrrad Australien zu durchqueren. Denn wenn Stern Grünbrecht seinen Wagen steuern ließ, musste er in Top-Laune sein, schlussfolgerten sie. Vielleicht würde er ihnen dann ebenso diese kleinen Annehmlichkeiten zugestehen. Einen Versuch, so schienen sie zu denken, war es zumindest wert.

Doch Stern schüttelte nur den Kopf, murmelte: »Kindsköpfe«, und verließ mit seiner Kollegin das Landeskriminalamt.

Grünbrecht jagte mit Sterns Audi die A7 in Richtung Freistadt hinauf, dass Stern Angst bekam, sie könnten in eine Radarfalle der Autobahnpolizei geraten. Seine junge Kollegin liebte das schnelle Fahren, das wusste er, aber dass sie ausgerechnet mit seinem Wagen sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen übertreten musste, empfand er dann doch als provokant. Er entschied sich, ein Wort des Tadels auszusprechen.

»Können Sie den Fuß ein wenig vom Gaspedal nehmen? Der Mann im Rollstuhl läuft uns schon nicht weg.«

»Sie haben doch nicht etwa Angst, Chef?«, wollte Grünbrecht mit einem Seitenblick auf seine verkrampften Hände, die sich links am Sitz und rechts am Griff über dem Fenster festklammerten, wissen.

»Ich? Angst? So ein Schmarrn!«, blaffte Stern. »Ich will halt nicht die Strafe zahlen, die wir zweifelsohne kassieren, wenn Sie weiterhin so rasen.«

»Das ist ein Polizeiwagen, Chef«, erklärte Grünbrecht in knappen Worten, während sie konzentriert nach vorn durch die Windschutzscheibe sah, um links an einer Schlange langsam fahrender Wagen vorbeizuschießen. Wenn Stern nicht irrte, hatte sie vorhin sogar mit Lichtsignalen auf sich aufmerksam gemacht und dadurch die anderen Fahrer zur Seite gescheucht.

»Wir sind zivil unterwegs. Wir haben kein Blaulicht und keine Sirene.«

»Wenn die Kollegen von der Autobahnpolizei die Autonummer kontrollieren, werden sie ganz rasch feststellen, dass sie …«

»Grünbrecht, runter vom Gas!«, fiel Stern ihr ins Wort.

»Aber …«

»Kein Aber!«, fügte er mit einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete. Nur selten ließ er den Vorgesetzten auf diese Weise raushängen, und das auch nur dann, wenn es unbedingt sein musste. Und jetzt musste es sein! Seine Finger, die Sitz und Haltegriff umklammerten, begannen sich schon zu verkrampfen.

Murrend drosselte Grünbrecht das Tempo auf eine für Stern angenehme Geschwindigkeit. Seine Hände lösten sich langsam von den Festhaltemöglichkeiten, und er atmete erleichtert auf. Warum diese jungen Dinger immer so rasen mussten, war ihm ein Rätsel. Selbst bei Mordfällen war es nicht notwendig, dass man derart halsbrecherisch unterwegs war. Leichen liefen nicht weg.

In Sterns Brusttasche vibrierte das Handy. Stern zog es heraus und sah auf das Display: Dominik Weber, der Gerichtsmediziner.

»Grüß dich, Weber. Was gibt’s?«

»Grüß dich, Stern. Euer Opfer ist tatsächlich ertrunken. Ich hab in seiner Lunge Wasser gefunden«, verkündete der Gerichtsmediziner etwas zu gut gelaunt, fand Stern.

»Das erklärt dann auch seine nasse Kleidung. Wahrscheinlich wurde der Kopf gewaltsam unter Wasser gedrückt, da seine Sachen nur bis zur Brust feucht waren«, schlussfolgerte Stern. »Haben die Kollegen im Labor das Wasser aus der Lunge mit der Probe, die ich dir geschickt habe, schon verglichen?«

»Äh …?« Anscheinend hatte Weber keinen blassen Schimmer, wovon Stern redete.

»Weber?«, bellte Stern ins Telefon.

»Ich bin hier, Oskar«, meldete sich der Angesprochene nun nicht mehr ganz so gut gelaunt. »Ich dachte, das Bründl-Wasser, das du mir geschickt hast, wäre für mich … ich meine, für mich persönlich, da ich ja auf solche Dinge stehe, du weißt schon …«

»Was hast du damit gemacht?«, fragte Stern nichts Gutes ahnend.

»Ich … ich hab’s getrunken«, verkündete Weber.

»Du hast was?« Stern schnaubte. »Das war ein Beweismittel, Weber!«

»Da stand nur ›Bründl-Wasser für Weber‹ oben«, erklärte der Gerichtsmediziner. Er hatte wohl angenommen, es wäre ein Geschenk für ihn, eine kleine Aufmerksamkeit unter Kollegen quasi. Was ihm, wenn er eine Sekunde darüber nachgedacht hätte, seltsam hätte vorkommen müssen.

»Ja, weil du es untersuchen solltest, du …!« Stern brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen. Anschließend sagte er, dass sie jetzt seinetwegen noch einmal zum Maria Bründl fahren müssten, um eine Vergleichsprobe zu holen, die Weber dann – zum Teufel noch mal – mit dem Wasser in der Lunge des Opfers abgleichen solle. Und zwar unverzüglich und auf der Stelle, sobald die Probe bei ihm eintreffe. Es dürfe keine Verzögerung mehr geben, denn sonst …

»Alles klar. Kein Problem! Danke, Oskar!« Dem Gerichtsmediziner war die Erleichterung selbst durch das Handy anzuhören, und Stern beendete das Telefonat mit einem aufgebrachten Tippen auf den roten Hörer auf dem Display.

»Was ist passiert?«, wollte Grünbrecht wissen.

Stern schnaubte noch immer, entschied sich aber für eine halbwegs disziplinierte Antwort: »Weber hat das Bründl-Wasser ausgesoffen.«

»Nicht wahr?«

»Doch!«

Die Gruppeninspektorin lachte.

»Was ist daran witzig?«, fragte Stern echauffiert.

Grünbrecht bemühte sich, die Sache etwas ernster zu nehmen. »Nichts, Chef«, sagte sie, obwohl ihre Mundwinkel verräterisch zuckten. Dass Weber Beweismaterial trank, weil er es als Geschenk von Stern ansah, empfand sie mehr als unterhaltsam. Wenn das die Runde im LKA machte …

»Wir müssen noch mal zur Quelle und eine weitere Probe holen«, spuckte der Chefinspektor aus, als hätte er etwas Giftiges im Mund.

»Ja, Chef«, gluckste Grünbrecht, und Stern rollte genervt mit den Augen.

Gott sei Dank hielten sie in diesem Augenblick vor dem Haus des Witwers an. Der Chefinspektor stieß die Tür des Audis auf und stieg aus. Ihm fiel sofort die Rollstuhlrampe beim Eingang auf, die nachträglich angebracht worden zu sein schien. Ein Zeichen, dass sie hier richtig waren.

Nach mehrmaligem Läuten wurde ihnen die Tür geöffnet. »Herr Eckinger?«, fragte Stern den Mann im Rollstuhl vor sich, obwohl er sich sicher war, dass er der Ehemann des Unfallopfers von vor einem Jahr sein musste. So viele querschnittsgelähmte Menschen gab es in St. Oswald bestimmt nicht.

»Richtig, Manuel Eckinger. Und wer sind Sie?« Eckinger kam bis ganz nach vorn an die Haustürkante gerollt, die mit Holzkeilen entschärft worden war, damit er bequem darüberfahren konnte.

»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt Oberösterreich in Linz und untersuchen den Mord an Oliver Koch. Dürfen wir reinkommen?«

»Oliver Koch? Der Politiker? Darf ich frag’n, was Sie von mir woll’n?« Eckinger machte keinerlei Anstalten, den Weg ins Haus freizugeben.

»Das würden wir lieber drinnen mit Ihnen besprechen«, antwortete Stern.

Eckinger wendete den Rollstuhl und fuhr den Beamten voraus ins Wohnzimmer. Das gesamte Haus war behindertengerecht umgebaut und die Einrichtung entsprechend angepasst worden. Die obersten Regale waren leer, sodass Eckinger alles bequem von seiner Position im Rollstuhl erreichen konnte. Die Teppiche hatte man entfernt, das erkannte Stern anhand von hellen Umrissen am Boden. An der Treppe ins Obergeschoss war ein Lift montiert, und Stern fiel auf, dass alle Türen im Erdgeschoss fehlten.

»Kaffee?«, fragte Eckinger.

»Gerne«, antwortete Stern.

»Milch? Zucker?«

»Schwarz.«

»Und für Sie?« Eckinger blickte Grünbrecht aus seinen blauen Augen an, die einst bestimmt jedes Mädchenherz zum Schmelzen gebracht hatten. Er fixierte die Gruppeninspektorin wie eine Schlange ein Kaninchen. Dass sie ihm gefiel, war unschwer zu übersehen.

»Für mich bitte mit Milch«, antwortete Grünbrecht, die sich ihrer Wirkung auf Manuel Eckinger durchaus bewusst zu sein schien.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Eckinger deutete auf eine Essgruppe. An der Frontseite des Tisches fehlte ein Stuhl, damit er dort mit dem Rollstuhl ranfahren konnte.

»Ich helfe Ihnen …«

»Des schaff’ ich schon!«, unterbrach Eckinger die Gruppeninspektorin mit einem Lächeln, das nicht über seinen Unmut hinwegtäuschen konnte. Immerhin lebte er nun schon seit einem Jahr in dieser Situation. Er kam gut allein zurecht.

»Natürlich.« Grünbrecht war ihr Verhalten sofort unangenehm.

»Ich nehme an, dass Sie mit mir reden woll’n, weil dieser Koch auf dem Grab meiner Frau gefund’n word’n ist«, sagte Eckinger, während er den Kriminalbeamten den Rücken zuwandte und in der Küche hantierte. »Die Spatzen pfeifen’s bereits von den St. Oswalder Dächern.«

»Genau deswegen sind wir hier«, bestätigte Stern Eckingers Vermutung.

»Wissen S’ schon, wer ihn ermordet hat?«, fragte Eckinger und holte Zucker aus einem Regal und Milch aus dem Kühlschrank.

»Nein, dafür ist es noch zu früh«, beantwortete Stern Eckingers Frage.

»Dann wissen S’ wahrscheinlich auch net, warum man ihn auf dem Grab meiner Frau abg’legt, abg’stellt, zurückg’lassen hat – oder wie immer man das bezeichnen will?«

»Sie sind erstaunlich gut informiert.« Stern wusste, dass sich der Tratsch und Klatsch auf dem Land schneller verbreitete als eine wichtige Info am Landeskriminalamt.

»In einem kleinen Ort wie St. Oswald spricht sich so etwas rasch herum«, bestätigte Eckinger Sterns Vermutung.

»Ich hatte zuvor den Eindruck, dass Sie überrascht waren.«

»Nur wesweg’n S’ deshalb zu mir kommen.«

»Wir hatten gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können.« Stern nahm einen Schluck Kaffee, der mittlerweile vor ihm auf dem Tisch stand. »Haben Koch und Ihre Frau einander gekannt?«

Eckinger schien zu überlegen. »Natürlich haben die sich g’kannt. St. Oswald ist ein kleines Kaff, da kennt jeder jeden. Wenn auch net gut, dann zumindest flüchtig.«

»Wie gut haben die beiden sich gekannt?«, hakte Grünbrecht nach.

»Ich würd’ sagen, net so gut. Man hat sich halt auf der Straß’ g’grüßt. Mehr war da net«, erklärte Eckinger und gesellte sich zu ihnen an den Tisch.

»Glauben Sie, dass das Grab Ihrer Frau vom Täter zufällig gewählt wurde?«

»Kann sein. Vielleicht aber auch net. Ist das net Ihre Aufgabe, das herausz’finden?«

»Wie war das damals mit dem Autounfall?«, wechselte Stern das Thema, da Eckinger anscheinend nichts zum ungewöhnlichen Auffindungsort des Opfers beitragen konnte.

Der Angesprochene seufzte tief. Es fiel ihm offensichtlich schwer, über die Vergangenheit zu reden. Er wandte sich ab und fuhr mit seinem Rollstuhl zu der mindestens zwei Meter breiten Terrassentür, die einen großzügigen Blick hinaus in den Garten gewährte.

»Paula hat Rosen geliebt. Seit sie net mehr lebt, verwildert unser Garten«, sagte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens. Seine Gedanken schienen irgendwo in der Vergangenheit festzuhängen. Weit weg von diesem Raum und weit weg von den Büschen und Sträuchern, deren Blätter aufgrund des Herbstes bunt gefärbt waren. Wahrscheinlich hatte er das Bild seiner Frau vor sich, wie sie dort draußen arbeitete und alles zum Blühen brachte. Wie sie lachte und sich der Schönheit der Natur erfreute. Jetzt trugen die Blätter kräftige Braun- und Rottöne und fielen bereits zu Boden. Die Herbstzeitlosen wuchsen üppig an allen Ecken, als gäbe es nichts Wichtigeres, als noch einmal zu erblühen, bevor die kalte Jahreszeit hereinbrach. Gelbe und rosa Rosen säumten den gekiesten Weg, der in jeden Winkel der Anlage führte. Es war klar zu erkennen, dass den Garten jemand mit viel Liebe gestaltet hatte. Doch dieser Jemand fehlte jetzt. Eckinger senkte den Kopf, atmete tief durch und kam zurück an den Tisch.

»Wir sind von einer Party nach Haus’ g’fahren«, begann er zu berichten. »Es war kurz nach Mitternacht, als uns ein Auto entgegen’kommen ist, mit auf’blendeten Scheinwerfern. Ich hab nichts g’sehen und den Fahrer als einen Trottel beschimpft, weil ich g’dacht hab, dass er bloß vergess’n hat, das Abblendlicht einz’schalten. Ich hab g’dacht, das passt schon irgendwie, das geht sich aus, wie so oft, wenn so was passiert. Ich hab noch zur Paula hinüberg’schaut … Sie hat die Augen zusammen’kniffen. Auch sie hat bestimmt g’glaubt, dass alles gut werden würd’. Wer denkt denn schon, dass …« Eckinger brach ab und bekämpfte die Tränen, die an die Oberfläche drängten. Es musste für ihn äußerst schmerzhaft sein, sich an die Ereignisse von damals zu erinnern, die seiner Frau das Leben gekostet hatten. Nach einer Weile redete Eckinger weiter. Seine Stimme war brüchig und kaum zu hören. Es war, als erlebte er alles noch einmal. »Die Lichter sind immer weiter auf unsere Fahrbahn rüberg’kommen. Ich hab g’schrien, er soll auf seine Seite zurückfahr’n, obwohl ich natürlich g’wusst hab, dass des Null bringt. Trotzdem hab ich g’schrien! Immer wieder! Was hätt’ ich denn sonst tun soll’n?« Eckinger sah die Kriminalbeamten hilflos an. Tränen rannten ihm über die Wangen, und der Schmerz wirkte in seinem Gesicht wie eingemeißelt. Wahrscheinlich hatte er diesen Augenblick schon zu oft durchleben müssen.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Grünbrecht sanft.

»Als ich g’wusst hab, dass es keinen Ausweg mehr gibt und wir jede Sekunde aufeinanderprallen, hab ich das Lenkrad verrissen. Bei einem Frontalzusammenstoß hätt’ niemand überlebt. So aber hatten wir wenigstens eine kleine Chance … Das hab ich zumindest g’dacht.« Manuel Eckinger blickte die Polizisten an, als suchte er in ihren Gesichtern nach einem Funken Verständnis für sein Handeln. Wahrscheinlich fühlte er sich schuldig für den Tod seiner Frau, auch wenn ihn keine Schuld traf, wenn sich der Unfall so zugetragen hatte, wie er ihn schilderte. Dann räusperte er sich und starrte für eine Weile in seinen Schoß, als fände er dort die Vergebung, die er so dringend brauchte.

Stern empfand die Stimmung als sehr bedrückend, und auch Grünbrecht war hin- und hergerissen, wie weit sie sich in die Geschichte dieses Mannes hineinziehen lassen sollte. Denn natürlich empfand sie großes Mitleid mit ihm, doch näher an sich heranlassen als üblich durfte sie sein Schicksal dennoch nicht. Sonst lief sie Gefahr, selbst auszubrennen, und davon hatte keiner etwas.

Als Eckinger die Augen wieder auf die Inspektoren richtete, hatte sich etwas an ihm verändert. Er schien in die Gegenwart zurückgekehrt zu sein. »Paula ist sofort tot g’wesen, und ich bin seither ein Krüppel«, sagte er verbittert.

»Das alles tut uns sehr leid«, erwiderte Stern. Und das war keinesfalls eine dieser Floskeln, die man von sich gab, weil es der Umstand verlangte. Er meinte es ernst. Der Mann hatte sein tiefstes Mitgefühl. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn ihn dessen Schicksal getroffen hätte.

»Ich bin damals mehrere Wochen im Krankenhaus g’legen und hab anschließend eine Reha g’macht, aber g’holfen hat das alles nix. Die Ärzte sagten, dass es ein Wunder ist, dass ich überlebt hab. Seltsam, wie ein Wunder kommt mir das gar net vor.« Eckinger rollte vom Tisch weg zurück zum Fenster. Er starrte hinaus und wandte den Kriminalbeamten den Rücken zu. Eine tiefe Traurigkeit ging von ihm aus, die Stern und Grünbrecht betroffen machte.

»Sagen Sie das nicht«, warf die Gruppeninspektorin ein.

»Es ist die Hölle, glauben S’ mir! Es wär’ besser g’wesen, ich wär’ statt Paula g’storben.« Verstohlen wischte Eckinger mit dem Handrücken über seine Wangen. »Ich hab sogar das Bründl-Wasser ausprobiert«, erzählte er dann, als er sich wieder gefasst hatte und zu ihnen an den Tisch zurückkehrte.

»Sie meinen, das Heilwasser aus der Quelle im Wald?«, fragte Grünbrecht.

Auf Eckingers Gesicht zeichnete sich ein verstohlenes Lächeln ab. »Sie halten mich jetzt bestimmt für abergläubisch, stimmt’s?«

»Nein, das tun wir nicht«, antwortete Grünbrecht rasch, bevor Stern sagen konnte, dass er schlichtweg gar nichts von diesem Hokuspokus hielt – obwohl das so nun ja nicht mehr stimmte. Aber vielleicht wurde Stern im Alter ja etwas offener für diese Dinge und gab alternativen Möglichkeiten eine Chance.

»Gut. Das ist gut.« Eckinger wirkte erleichtert und lächelte Grünbrecht an. »Sie müssen nämlich wissen, dass die Leute busweise nach St. Oswald kommen und das Wasser in Flaschen füllen. Ich hab keine Ahnung, was die damit anstellen.«

»Manche trinken es«, raunte Stern und dachte dabei ein Weber.

»Andere waschen ihr Gesicht damit«, ergänzte Grünbrecht spitz und sah zu Stern hinüber. Als der nichts erwiderte, sondern ihr lediglich einen warnenden Blick zuwarf, fügte sie hinzu: »Es ist doch gut, wenn man an etwas glauben kann, das einem Hoffnung schenkt.«

»Vielleicht haben S’ recht. Mir hat es allerdings net g’holfen, dieses Bründl-Wasser«, sagte Eckinger.

»Das tut uns leid. Das tut es doch, gell, Chef?«

Stern brummte, was Zustimmung bedeuten konnte oder auch Verneinung.

»Versprechen S’ mir, dass S’ denjenigen finden, der das Grab meiner Frau g’schändet hat?« Eckinger blickte die Inspektoren eindringlich an.

»Wir tun unser Bestes«, antwortete Stern.

»Das hab’n die damals auch g’sagt«, entgegnete Eckinger enttäuscht. In seinen Augen lag nun wieder ein trauriger Ausdruck, während er auf einen imaginären Punkt zwischen Stern und Grünbrecht starrte.

»Wer sind die?«, hakte Stern nach.

»Die Polizisten, die nach dem anderen Lenker g’sucht hab’n, der Fahrerflucht b’gangen hat.«

»Sie haben ihn nie gefunden?«

»Nein.«

»Das tut uns leid.« Stern konnte verstehen, was in dem Mann vorging. Vor nicht allzu langer Zeit war seine Ex-Frau Franziska von einem Lastwagen überrollt und getötet worden. Dem Fahrer hatte man noch an der Unfallstelle Blut abgenommen, um herauszufinden, ob er Alkohol getrunken hatte. Der Test war positiv ausgefallen. Aber dadurch, dass Stern wusste, wer der Kerl war, der seine Ex-Frau überfahren hatte, hatte er damit abschließen können. Das war Manuel Eckinger bisher leider nicht vergönnt gewesen. Außerdem machte es emotional einen großen Unterschied, ob die Ehefrau oder die Ex-Frau starb.

»Vielleicht ist es Schicksal, dass dieser Koch ausg’rechnet auf dem Grab meiner Frau g’funden worden ist.«

Die Kriminalbeamten ließ die Aussage aufhorchen. »Wie meinen Sie das?«, wollte Stern erklärt haben.

»Vielleicht wird der Unfalltod von Paula jetzt noch einmal aufg’rollt, weil sie nach einer Verbindung zwischen ihr und diesem Koch suchen.«

»Und weiter?«

»Es wär’ doch möglich, dass Sie dadurch auf den Fahrer von damals stoßen, oder etwa nicht?«

»Möglich wäre es.«

»Finden Sie ihn!«, sagte Eckinger und beugte sich nach vorn. »Damit ich endlich mit all dem abschließen kann!« Die Augen des Mannes flehten die Inspektoren regelrecht an.

»Wir können Ihnen nichts versprechen, Herr Eckinger. Aber wir werden sehen, was sich machen lässt«, sagte Stern. Der gewaltsame Tod eines geliebten Menschen war immer schwer zu verkraften. Doch es war besser, wenn man dem Täter ins Gesicht blicken konnte, als wenn man nie erfuhr, wer die Schuld am Tod der Ehefrau, des Ehemannes oder des geliebten Kindes trug.

Die Kriminalbeamten verließen, nachdem sie sich verabschiedet hatten, Eckingers Haus.

»Armes Schwein«, sagte Stern, als sie im Wagen saßen.

»Er hat viel durchgemacht«, schloss sich Grünbrecht ihm an.

»Und er steht auf Sie«, konnte Stern sich nicht verkneifen zu sagen.

»Echt jetzt?« Grünbrecht musterte ihren Chef von der Seite.

»Ich hab’s genau gesehen! Er hat Sie regelrecht angeschmachtet.«

»Wie können Sie darüber jetzt scherzen?«, fuhr Grünbrecht ihren Vorgesetzten an.

»Aber …«

»Was machen wir nun?«, schnitt sie ihm das Wort ab.

Stern war vor den Kopf gestoßen. Es war ihm ein Rätsel, wie das weibliche Geschlecht oftmals auf seine Aussagen reagierte. Dieses Unverständnis war wohl einer der Gründe gewesen, warum sich Franziska vor Jahren von ihm hatte scheiden lassen.

»Wir müssen herausfinden, wo Oliver Koch zum Zeitpunkt des Unfalls der Eckingers gewesen ist«, wechselte er das Thema. Über Grünbrechts Verhalten nachzugrübeln hatte ohnehin keinen Sinn. Er hoffte, dass sie sich von allein wieder einkriegen würde. »Vielleicht ist er derjenige, der Fahrerflucht begangen hat. Dann hätten wir ein Motiv, warum der Täter seine Leiche auf Paula Eckingers Grab zurückgelassen hat, als würde er für ihre Erlösung beten.«

»Oder für seine.«

Mühlviertler Grab

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