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Vorwort
Sizilien und seine Bedeutung

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Die Faszination, die von einem alten Baum ausgeht, lässt so manchen in Ehrfurcht erschauern. Das über hunderte bis tausende von Jahren sich hinziehende Leben einer Pflanze, die durch Menschenhand ausgesät, als Protagonist die Stürme der komplizierten Menschheitsgeschichte überlebt, ist beachtlich.

Im Botanischen Garten von Palermo sind es alte Ficusbäume, unter denen Goethe saß. In Agrigent ein etwa 2.500 Jahre alter Ölbaum, der dabei war, wie sich die Griechen und Karthager die Köpfe einschlugen. Ein Baum, der mit ansehen musste, wie die Dachkonstruktionen der über allem geheiligten dorischen Tempel in Flammen aufgingen. Eine zweitausendfünfhundert Jahre zurückliegende Menschheitsgeschichte und der Baum lebt heute noch und trägt seine Früchte Da darf man sich wundern. Paradox bei der ganzen Geschichte ist, dass Sizilien zu den waldärmsten Ländern Europas zählt und auf dem Ätna, einem der aktivsten Vulkane der Erde, eine etwa 3.000 Jahre alte Kastanie steht. Diese Tatsache dürfte den Höhepunkt aller paradoxen Möglichkeiten überschreiten.

Das ist Sizilien: Ein Land, eine Insel großer Gegensätze – heute noch. Wie uns bereits der sizilianische Dichter Lampedusa in seinem Roman „Der Leopard“ berichtet.

Initiative in einem Land entwickeln, in dem das Thermometer Monate über 40 Grad im Schatten anzeigt, der Mensch allzu rasch Opfer dieser klimatischen Bizarrerien wird, da gibt es nur ein Rezept: aktive Gleichgesinnte suchen und den Skeptikern beweisen, dass es trotzdem weitergehen kann.

Die alte Geschichte der sich schon sehr lange hinziehenden Unterdrückung von fremden Völkern scheint heute noch auf den Schultern der Menschen zu lasten, wie sich die sizilianischen Dichter der Gegenwart immer noch äußern. Ihr größtes Problem ist für viele eine verloren empfundene Identität. Mit viel Stolz und Leidenschaft sind die jungen Generationen bemüht, das zurückzuerobern, was Sizilien einmal war: nicht weniger als „die Wiege der europäischen Kultur“. Sie wollen der Welt beweisen, dass es wieder aufwärts geht. Ein steiniger Weg mit großen Hindernissen liegt vor ihnen. Ihre Toleranzbereitschaft Fremden gegenüber haben sie durch den ständigen Völkerwechsel gelernt. Doch sehen sie es nicht gern, wenn Fremde sich in ihre Angelegenheiten mischen, sie wollen endlich selbst entscheiden.

Wir, die Emigranten, die fern unserer Heimat leben, haben ähnliche Probleme, was die Identität betrifft. Die Frage tritt auf: komplette Integration oder der Kampf um die Erhaltung der mitgebrachten Identität? Der dritte Weg der uns dabei offen bleibt ist die Akzeptanz beider Linien, die wir je nach Bedarf anwenden können. So haben wir emigrierten Dichter die Möglichkeit Neues zu schaffen. Dabei verfolgen wir nur einen Wunsch: Botschaften zu senden und anerkannt zu werden. Glücklicherweise sind wir heute in der Mehrheit in unserer Entwicklung so weit, dass wir auch Mischkulturen anerkennen.

Allein der Gedanke zwischen zwei Stühlen zu sitzen und weder zu dem einen noch zu dem anderen Kulturkreis gerechnet zu werden, könnte als Mangelerscheinung interpretiert werden. Heute hat sich das Problem einer ethnischen Trennung zwischen den Völkern vielfach gelöst. Den nicht aufzuhaltenden Prozess einer der größten Völkerwanderungen aller Zeiten, können wir nicht stoppen.

Goethes Betrachtungen, als er 1787 Sizilien bereiste und nach Unterschieden zwischen den Tempeln von Großgriechenland und den klassischen Tempeln des griechischen Mutterlandes suchte, warf damals schon Fragen auf. Fragen, die besonders über Winkelmann aufgeklärt werden konnten.

Die in Deutschland lebende türkische Autorin Iris Alanyali sagte sehr treffend: „Heutige Autoren nutzen ihren bi-kulturellen Hintergrund als eine Art Katalysator, um die allgemein gültigen Geschichten von Liebe und Hass neu zu erzählen.“

Besser hätte es Iris Alanyali nicht sagen können. Sie spricht mir aus dem Herzen, da es auch mir allein darum geht, den Menschen in allen seinen Lebenssituationen, wahrheitsgetreu darzustellen. So, dass sich der Leser selbst wiedererkennen kann, denn: Menschen gibt es überall, und allein darum geht es mir.

Glauben Sie an Schicksalsfügung? Wenn ich mein Leben betrachte, muss ich die Frage mit „ja“ beantworten. Das Vorspiel meines großen Lebensabenteuers weist auf meinen Vater hin.

In jungen Jahren, als ich noch nicht geboren war, hatte er bereits Kontakte mit Neapel und Sizilien. Er, der Musiker und angehende Dozent der Musikhochschule in Leipzig, reiste 1924 nach Palermo. Seine Aufgabe war es, die damals aufkommenden, neuen Unterrichtsmethoden am Konservatorium von Palermo zu untersuchen und darüber zu berichten. Und auf dieser Reise erlebte er seine große, platonische Liebe, wie er in seinem Tagebuch selbst berichtet.

Der Hang, die Gewohnheit und die Mode der reisenden Nordeuropäer dem rauen Winter zu entfliehen, zeigte sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Brahms wünschte sich von seinen Freunden zu seinem 60. Geburtstag eine Reise nach Sizilien wie uns J.V. Widmann 1908 berichtet. R. Wagner trieben seine Sehnsüchte ein Jahr vor seinem Tode nach Sizilien, wo er in der Geburtsstadt von Scarlatti, in Palermo, seine letzte Oper „Parsival“ zu Ende komponierte. Auch Andre Gide, der Achtzigjährige verliebte sich Hals über Kopf in Sizilien. Die Geschichte, wenn er in den frühen Morgenstunden auf einer Bank vor dem Hotel seines Angebeteten, den jungen Capote, wartete, ist anrührend.

1787, etwa 75 Jahre vor dieser Reisewelle, war es Goethe, der sich nach Erholung sehnte. Er, damals im besten Mannesalter und inmitten einer ganz privaten Lebenskrise, hatte Sizilien für seine Rekonvaleszenz auserwählt. Und so ist es vielen anderen ergangen.

Zweifellos gehörte unter anderen auch Admiral Nelson zu den Wegbereitern des „goldenen, englischen Zeitalters“ in Sizilien. Durch seinen Seesieg 1798 bei Abukir über die französische Flotte behauptete er nicht nur die englische Seeherrschaft im Mittelmeer. Als Retter Europas feierte man den Held, als er von König Ferdinand in Neapel persönlich empfangen wurde. Europa begann sich nach Sizilien zu orientieren, dorthin, wo sich die Künstler und der Adel trafen. Durch die neu entdeckten Kulturen der Griechen und Römer, den edlen Vorfahren, folgten geisteswissenschaftliche Denker, die damals noch ihren Studien ungehindert nachgehen konnten. Aufgrund der unterentwickelten Zustände auf der Insel siedelten sich Familien an, die landwirtschaftliche und industrielle Aufstiegsmöglichkeiten sahen.

Seit 1946 ist Sizilien autonom. Heute regieren Sizilianer, auf ihre Art. Fremde sind herzlich willkommen, besonders als Feriengäste. Der Glanz des ehemaligen Adels ist kaum noch zu spüren. Der Prozentsatz des unbestechlichen Volkes plädiert für Uguaglianza – Gleichheit. Ein frommer Wunsch, der jedoch leider immer noch einen heftigen Anstrich von Utopie zeigt.

Die Autorin

Auf den Spuren eines neuen Lebens

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