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DER BREITE UND DER SCHMALE WEG

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Neunzehnhundertneunundvierzig. Hennigsdorf, ein kleiner Ort im Nordwesten von Berlin. Die AEG und ein Stahlwerk sind der Arbeitgeber für viele Einwohner. Aber die meisten fahren nach Berlin zum Geldverdienen. Einfamilienhäuser und zweigeschossige Mehrfamilienhäuser prägen das Straßenbild. Am Ende der Karl-Liebknecht-Straße stehen Hochspannungsmasten, die den Ort mit Strom versorgen. Die Sirenen der beiden Fabriken teilen den Tag in Arbeits- und Freizeit.

Durch die geschlossenen Klappläden dringt das Quietschen eines Handleiterwagens, entfernt sich langsam vom Haus. Das Kind hält die Augen geschlossen, wühlt sich tiefer ins Kissen. Weiß, wie Mutter jetzt den Wagen hinter sich herzieht, auf dem Weg zum Bahnhof. Durch die Siedlung, über den schwarzen Schotterweg, und dann trägt sie die S-Bahn nach Berlin. Für eine ganze Woche.

Es steht auf, zieht die Schublade mit Mutters Wäsche raus, drückt ihr Gesicht in die weichen Pullover - rot und gelb. Sie duften nach ihrer Mutter. Ihre schöne Mama - mit rabenschwarzen Locken, klein und zierlich und in weiten, schwingenden Röcken! "Püppi!" ruft Oma, "komm frühstücken!" Das Frühstück schmeckt nicht. Es gibt Mehlsuppe mit Zucker. Der Zucker reicht nur für Püppi und den großen Bruder Hänschen. Oma isst die Suppe ohne Zucker.

"Iß ordentlich, damit du nächstes Jahr zur Schule gehen kannst!" Das Essen schmeckt überhaupt nie. Immer sind Mehlklumpen im Spinat, der Rosenkohl in Mehlschwitze und dann die ewige Mehlsuppe. "Wenn wir das Mehl nicht hätten, wären wir im Krieg verhungert" erklärt Oma und schiebt den Teller vor Püppis Nase.

Püppis großer Traum ist die Schule. Ein ganzes Jahr noch, und die Zeit vergeht so langsam. Mamas Schultertasche hat lange Riemen. Püppi wickelt sie sich um die Schultern - wie ein richtiger Tornister sieht es aus. ‚Alle werden glauben, dass ich zur Schule gehe’ denkt sie und marschiert singend die Straße runter zu Marlies. "Schia, schia, schia scho! Schrippen jibt’t im HO!"

"Meine Oma pellt Knochen" hat Marlies Püppi neulich erklärt und diese so Ekliges über Marlies Eßgewohnheiten vermuten lassen. Pelle von Knochen konnte auch nicht besser sein als Mehlsuppe.

Marlies schwingt auf dem Gartentor hin und her. "Wollen wir spielen?" ruft sie. Püppi folgt ihr in den Garten. "Wir spielen Friseur" schlägt Marlies vor. "Ich schneide dir die Haare ab und du jibst mir’n Groschen dafür." Püppi betrachtet ihre langen, blonden Haare sorgfältig. "Nee, lieber nicht." "Du hast doch nur dünne Ziepen. Mutti sagt, man muss oft schneiden, und dann werden sie dicker." Püppi ist immer noch nicht überzeugt. Hinter ihnen, im Treppenhaus, schlägt eine Tür zu und Getrappel nähert sich schnell.

"Das ist bestimmt die Hanna" sagt Marlies. " Ihre Mutter ist eine Schlampe".

"Was ist eine Schlampe?" fragt Püppi.

"Na, wenn man mit Russen schläft is’ man ne Schlampe!"

"Meine Mama schläft mit mir, aber nicht mit Russen" erläutert Püppi die häusliche Lage.

Hanna kommt zu ihnen rüber. Sie hat ein verheultes Gesicht und wischt sich mit der Hand unter der Nase lang.

"Na, hat’se dich wieder verdroschen?" fragt Marlies hämisch. Hanna kann nur schlucken und schniefen. Marlies greift nach ihren Zöpfen. "Wir spielen Friseur und du jibst mir ’n Groschen, wenn ich dir die Haare schneide".

Und schwupps zieht sie eine Schere aus ihrer Kittelschürze und säbelt an Hannas Zöpfen rum. Aus dem Schniefen wird Gebrüll. Hanna und Marlies liegen kreischend auf dem Boden. Hanna mit nur noch anderthalb Zöpfen, der eine ausgefranst wie ein kaputtes Elektrokabel. "Meinen Groschen her!" brüllt Marlies der wieder ins Haus flüchtenden Hanna hinterher.

"Jetzt wird die wieder verdroschen. Aber det ist die ja jewohnt!" Sie klopft sich den Sand vom Kleid und lauscht angestrengt zum Treppenhaus hin. Hanna schlägt in der oberen Etage die Tür zu, und es dauert keine zwei Minuten, bis man ihre Mutter kreischen hört.

"Sie ist eine Schlampe" beendet Marlies das Friseurspiel.

****

In Püppis Garten in Hennigsdorf gibt es eine große, alte Scheune, voll gestopft mit spannendem Gerümpel und alten Möbeln. Auch Papas Selbstfahrer steht dort, wenn er ihn nicht braucht. Er ist aus Holz, wie ein Bett auf Rädern. Papa kann darin seine Beine ganz ausstrecken und ihn nur mit den Armen lenken und fahren. Mama hatte ihr erzählt, dass Papa als kleiner Junge an Kinderlähmung erkrankte, aber darunter konnte sich Püppi nichts vorstellen. Sie steigt in den Selbstfahrer und wickelt sich gemütlich in eine Decke. Papa kann nur schlecht laufen. Wenn er sich setzt, dann knackt immer etwas in seinem linken Bein, und beim Laufen stützt er sich auf einen Gehstock. Neulich Abend hatte sie heimlich beobachtet, wie er seinen Gehapparat auszog, und da sah sie, dass das linke Bein dünn und kurz war. Es hing schlaff unter seinem Nachthemd raus.

Auch Papa ist die ganze Woche zum arbeiten in Berlin, und wenn er am Wochenende nachhause kommt, küsst er seine Tochter und sagt "Na, wie geht’s meiner kleinen Püppi?" und sein Schnurrbart kitzelt sie auf der Wange. Für Papa ist sie Püppi, für die anderen meistens Luischen. Hans-Peter ist Mamas Prinz, ansonsten immer Hänschen oder Hans-Peter. Die Großen haben alles geregelt.

Mama hat so ihre Geheimnisse: Unter ihrem Nachthemd wölben sich oben zwei große Rundungen, und dazwischen ist so ein Spalt, der wie ein Gang aussieht. Wo der wohl hinführt, und ob die Rundungen die Pappeier sind, die sie zu Ostern bekommen hatten, mit Zuckereiern drin? Wenn sie sich an die Rundungen schmiegt, ist es aber schön weich. Leider lässt Mama sie nicht in die Öffnung des Nachthemdes gucken, um mehr zu erfahren. Auch wird Püppi nur sehr selten in den Arm genommen.

In dieser Scheunentür hängt eine Schaukel, und so lange der Hahn nicht frei herumläuft, ist sie ihr Lieblingsplatz. Kommt der Hahn und hat es mal wieder auf ihren Kopf abgesehen, heißt es ins Haus flüchten. Aber heute ist er im Hühnergehege mit dem gesamten Federvieh eingesperrt. Sie beäugt ihn widerwillig durch den Maschendraht - die weichen Kücken kann sie nun auch nicht streicheln. Steigt auf ihre Schaukel und denkt an das kuschelige Federkleid. „Das Jesuskind lag auch auf Stroh, so wie ihr“ erzählt sie ihnen. Die Schaukel schwingt höher und höher. „Und weil es immer lieb und artig war, wohnte es im Himmel, beim lieben Gott. Aber der Hahn natürlich nicht.“

Das Jesuskind ist in Püppis frühen Jahren häufig anzutreffen. Im Wohnzimmer hängt ein großes Bild über dem Sofa, da steht das Jesuskind - schon groß und stark und mit langen, braunen Locken - mitten im Kornfeld und hält einen gebogenen Stab in der Hand. Hinter ihm die untergehende Sonne, und da, wo die Wolken sind, ist der Himmel. Wenn Oma doch einmal Zucker in der Mehlsuppe hat, sagt sie "Himmlisch!"

Ihr Haus ist nie fertig gebaut worden, es fehlt noch die obere Etage. Über dem Erdgeschoß ist ein Flachdach mit Dachpappe. Dort regnet es öfter mal durch, und dann bilden sich große Wasserflecken an der Decke. Aber im Treppenhaus führt schon eine Treppe nach oben und hört direkt unter der Decke mit einem Absatz auf. Ein schöner Platz zum Spielen. Und weil im Erdgeschoß nur die Küche, das Wohnzimmer, Mama und Papas Schlafzimmer und das Bad sind, muss auch im Keller gewohnt werden.

Hier gibt es einen großen Raum, in dem Püppi, Oma, Hans-Peter und Dackel Strolchi schlafen. Strolchi hat eine Kiste mit Decken direkt am Ofen. Wenn niemand guckt, springt Strolchi in Püppis Bett. "Schmeiß das Vieh aus dem Bett!" schreit Oma dann. Tiere darf man also nur klammheimlich, hinter dem Rücken der Erwachsenen kuscheln und lieben. Im Bett, im Stroh, wo immer man ein warmes Plätzchen findet. Vor dem Schlafengehen wird gebetet: "Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm." Aber Püppi denkt dabei schon an ihre Flusen, die sie von der Wolldecke rupfen wird: die Flusen werden zu kleinen Bällchen oder Sträußen geformt. In der Dunkelheit wiegt das leise Rupfgeräusch sie in den Schlaf.

Über Omas Bett hängt ein Gemälde, so groß wie das Bett selbst. Es zeigt den schmalen und beschwerlichen Weg in den Himmel und die breite und bequeme Straße in die Hölle. Auf der rechten Seite windet sich der schmale Weg über Stock und Stein und endet an einem Tor, hinter dem sonnenbestrahlte Wolken die Pforte zum Himmel zeigen. Auf der linken Seite sieht man am Ende der breiten Straße ein Feuer lodern und darüber Menschen in großen Kübeln, die gekocht und von kleinen Teufeln mit Gabeln gestochen werden. Das Jesuskind ist nirgends zu sehen. Aber die Sache ist klar: Rechts müssen die Menschen mühsam entlang wandern, immer steil bergauf, gebeugt von Lasten auf den Schultern, bis sie Erlösung an der Himmelspforte finden. Die Straße auf der linken Seite ist bequem und breit und die Menschen tanzen und trinken, bis sie in der Hölle landen.

Im Keller gibt es auch noch eine Waschküche, in der in einem großen Zuber aus Zuckerrüben dunkler Sirup gekocht wird. Püppi hasst den Geruch, der dann durch den Keller zieht: moderige Erde und Schweinefutter. Sie hält den Atem an, wenn sie an der Waschküche vorbei ins Schlafzimmer läuft.

****

"Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast" betet Papa inbrünstig hinter gefalteten Händen. Püppi blinzelt durch die Lider und sieht die gesenkten Köpfe von Mama, Papa, Oma und Hans-Peter. Es muss Sonntag sein, sonst wären Mama und Papa nicht da. Sie sitzen um den großen Tisch herum, die Petroleumlaterne wirft warmes Licht auf ihre Teller. Es ist wieder einmal Stromsperre.

Am Fenster steht ein dickbauchiges Weinfass. Durch seine geschwungenen Glasröhrchen blubbert Kürbiswein. Während der Woche zapft Oma sich immer ein Gläschen ab, damit sie gut schlafen kann. Papa weiß davon nichts. Hans-Peter bekommt auch ein Gläschen: „Mit neun Jahren bist du ja schon ein großer Junge.“ Püppi ist noch zu klein für so etwas. Aber auf die Kürbisse im Garten kratzt sie die Anfangsbuchstaben ihres Namens: ML. Marie-Luise kann sie noch nicht schreiben. ML wächst dann mit den Kürbissen, bis sie groß und dick sind und geerntet werden.

Während alle ihre Kohlsuppe löffeln und Papa vom Geschäft in Berlin erzählt, hofft Püppi, dass sie nun, am Wochenende, nicht im Keller schlafen muss, sondern bei Mama im Schlafzimmer. Manchmal holt Mama sie erst spät in der Nacht aus dem Keller und legt sie zwischen sich und Papa. Papa zieht dann immer ins Wohnzimmer, weil er so laut schnarcht. "Er sägt schon wieder dicke Bäume" sagt Mama, und so hat Püppi mit ihrer geliebten Mama das große Bett ganz allein.

In ein paar Tagen hat Marlies Geburtstag, und Mama hat Püppi als Geschenk eine kleine Tafel Schokolade und ein mit Schokolade überzogenes Lebkuchenherz mitgebracht. Sie soll beides bis zum Geburtstag aufbewahren. So liegt das süße Geschenk eingewickelt in Püppis Puppenwagen, neben ihrer Zelluloidpuppe Greta.

Sie riecht an der Puppe, zieht ihr eine Socke aus und nagt und lutscht an den Zehen. Der Puppenfuß ist schon tief verdellt. Wenn etwas gut riecht muss sie es unbedingt in den Mund nehmen. Neulich erst hat sie einen Löffel Sand geschluckt. "Du traust Dich nicht!" hatte Marlies gesagt. "Doch, ich trau mich!" entschied Püppi und gab dann nach einigem Überlegen dem weißen Sand den Vorzug gegenüber Schwarzem. Auch an den Blättern der Hainbuchenhecke am Zaun hat sie sich versucht: schmeckte wie Spinat ohne Mehlklumpen. "Ich bin schon satt" verkündete sie, als Oma zum Essen rief und ohne Zweifel wieder Spinat mit Klumpen gekocht hatte.

Die Schokolade liegt also neben der Zelluloidpuppe. Das erste Stück schmeckt nicht, Schokolade ist nicht so vertraut wie das Puppenbein, aber beim zweiten Happen ist es schon viel besser: klebrig und süß! Die Tage sind lang, Mama weit weg, und täglich bricht Püppi ein Stückchen Schokolade von der kleinen Tafel. Der Geburtstag kommt, und Püppi trägt nur das Lebkuchenherz zu Marlies. Die dreht es in ihren Händen. "Ist das alles?" sagt sie. "Natürlich", sagt Püppi und übt sich im schlechten Gewissen.

Nach der Feier trifft Püppi auf Hanna, die auf dem Gartentor hin und herschwingt. Marlies hatte sie nicht eingeladen. Püppi knufft Hanna ein bisschen. Die landet schräg auf dem Zaunpfosten und wird vom Gartentor eingeklemmt. Püppi schiebt das Tor noch ein wenig mehr Richtung Torpfosten und guckt dabei in Hannas Gesicht.

"Hör auf, du tust mir weh!" klagt Hanna. Es tut ihr weh? Wo sie doch immer so viel Dresche bekommt!? Püppi schaut sich grübelnd die eingeklemmte Hanna an und entschließt sich, nicht weiter zu drücken.

****

Der Winter kommt. Im Kellerschlafzimmer macht die Braunkohle im Ofen dicke Luft und diese legt sich auf die weißen Laken. Morgens ist das Waschen im Bad ein Gräuel. Wenn der Badeofen nicht geheizt ist, gibt es nur kaltes Wasser. Und das Anziehen erst: zuerst das Leibchen mit vielen, kleinen Knöpfen die Brust runter, hinten ein Klappladen, an den Püppi nur mühsam rankommt, wenn sie dringend mal auf die Toilette muss. Vom Leibchen hängen Strumpfhalter, an denen sie lange Wollstrümpfe mit Wäscheknöpfen befestigt. Die Knopflöcher in den Strümpfen hat Mama mit der Hand umsäumt. Selbst ihr großer Bruder trägt noch ein Knopfleibchen und schimpft immer weil es so kratzt!

Beide Kinder haben zu Weihnachten Wollfäustlinge bekommen und Hans-Peter seine ersten Schlittschuhe. Die Kufen werden an den Schuhsohlen festgeschraubt. Am Ende der Siedlung ist ein Weiher, gleich neben dem Friedhof. Püppi geht mit und schaut zu, wie Hans-Peter dort übt. Seine Knöchel kippen immer wieder um, weil er keine Stiefel, sondern nur feste Halbschuhe trägt. Damit er weich landet, hat er sich ein Sofakissen vor den Bauch und eines hinter den Po gebunden. Aber er schafft es und zieht schon seine Kreise.

Die Dunkelheit kommt, und es sind immer weniger Kinder auf dem Eis. Auch Hans-Peter ist irgendwann fort, und Püppi steht plötzlich ganz allein auf der Eisfläche. Vom Weiher führt ein Weg durch den Wald in die Siedlung, mitten durch die Dunkelheit. Sie könnte auch an der großen Eiche vorbei nach Hause gehen, wo eine Straßenlaterne steht. Aber es ist die "Russeneiche". Oma hat ihnen erzählt, dass dort ein Kind von einem russischen Soldaten ermordet wurde. Der Mond scheint auf die Eisfläche, und am Rande des Weihers ist tiefste Dunkelheit.

Steht dort nicht jemand hinter der Eiche?

Als die Russen damals auf ihren Hof in Brieselang kamen, haben sie die Kühe mitgenommen, und Mama musste sich jede Nacht vor ihnen verstecken. Püppi nahm sie manchmal mit: hinter den Bretterverschlag auf dem Heuboden oder in die kleine Kammer unter dem Dach. Es hieß, dass die Russen Kleinkindern nichts antun würden und so bot Püppi ihrer Mutter einen gewissen Schutz. Aber wenn sie nicht still war, gefährdete sie beide. Mutters Hand lag deshalb fest auf ihrem Mund.

Eines Tages gruben Papa und Herr Sparvin eine tiefe Grube hinter der Scheune. Die Sparvins waren eine russische Zwangsarbeiterfamilie, die auf ihrem Hof lebte. Die beiden Männer stützten die Grube mit Brettern an den Wänden ab und ließen Mutter, Oma, Hans-Peter und Püppi hineinsteigen. Hier sollten sie sich vor den Russen verstecken. Sie deckten Bretter über die Öffnung und häufte Erde darüber. Tief in der Erde. Püppi schrie Stunde um Stunde und ließ sich nicht beruhigen. Die Luft war knapp, kein Licht drang zu ihnen, wohl aber Püppis Schreien nach draußen. Dann endlich rief die Mutter durch das Ofenrohr, das der Lüftung diente: „Wir sind hier in unserem eigenen Grab, Otto! Wenn Püppi weiter schreit, finden sie uns doch gleich.“ So schaufelte der Vater sie wieder aus. Die Mutter reichte ihm die weinende Tochter als erste hoch und Hans-Peter, Oma und sie folgten hinterher.

Als es Nacht wurde bahnte sich das Licht der suchenden Scheinwerfer der Militärjeeps ihren Weg durch den Wald zu ihrem Haus. Im Volksempfänger in der Küche wurde Dvoraks "Humoreske" gespielt und der Klang vermischte sich mit den Geräuschen der Stiefel auf dem Hof, den Lauten der angstbesetzten fremden Sprache. Die russischen Soldaten stürmten in die Küche, trieben sie unter vorgehaltenen Gewehren aus dem Haus, stellten sie an die Hauswand und ließen den Motor laufen, damit man die Schüsse und die Schreie nicht hören würde. Hans-Peter hielt seinen Teddy im Arm und Mama trug Püppi.

Herr Sparvin kam aus dem Haus gelaufen und stellte sich vor die Gewehrläufe seiner Landsleute. Er bat um das Leben dieser Deutschen: "Sie sind keine Nazis und sie waren immer gut zu uns.“ So rettete er Püppis Familie.

Durch den Wald kommen Lichter. Aus Brieselang wird wieder Hennigsdorf. Man sucht Püppi: "Luischen, wo steckst du?" Oma aber droht: "Warte, bis du zuhause bist!" Die neuen Handschuhe sind auch weg. Püppi landet auf dem Küchentisch, von Oma festgehalten und mit dem Kochlöffel immer auf den blanken Po! "Nimm die Hand weg! Wirst du dich wohl nicht wehren!

****

Mama und Papa haben Regeln aufgestellt. So gehen Hans-Peter und Püppi immer abends Punkt acht Uhr schlafen.

"Aber ich bin vier Jahre älter!" protestiert Hans-Peter dann. "Der Puhtz kann ja schon mal schlafen gehen!"

Aber die goldene Regel wird nicht durchbrochen. Beide Kinder sollen gleich behandelt werden. Nur zu Silvester dürfen sie beide um Mitternacht wieder aufstehen, und jeder hält eine Wunderkerze aus dem Fenster.

Es gibt noch mehr Regeln: ein Knicks beim Begrüßen und Verabschieden und beim Gratulieren, wenn jemand Geburtstag hat, danken, wenn einem etwas geschenkt wird, und "entschuldige bitte" sagen, wenn die Lage ohnehin schon schlimm ist!

Hans-Peter ist bis mittags in der Schule, und Püppi geht allein ihren Angelegenheiten im Hühnerstall, auf der Schaukel und bei Marlies nach. Und sie beseitigt Hakenkreuze. "Du machst aus jedem Hakenkreuz ein Fenster" hatten ihr Mama und Papa gesagt. Mit

einem Stück Kreide zieht sie ihre Striche, manchmal wird ein Nikolaushaus daraus. Mit Oma geht sie zum Bahnhof, um dort Kohlen einzusammeln, die von den Zügen gefallen sind und die sie in einer Schubkarre nach Hause fahren. Blumenpflücken zählt auch zu ihren Aufgaben. Dabei macht sie auch vor Nachbars Gärten nicht halt. Bis sich einer beschwert und Mama ihre Tochter an der Hand zum Nachbarn zerrt: "Du entschuldigst dich jetzt sofort und sagst, dass du es nie wieder tun wirst!"

"Ich kann nicht, ich kann nicht!" jammert Püppi und fängt sich eine Ohrfeige ein.

Eines Nachmittags sitzen beide auf dem Absatz im Treppenhaus und Hans-Peter sagt "Komm, wir gehen Papa in Berlin besuchen!"

„Wie kommt man da hin?“

„Papa ist in einem Geschäft nahe einer S-Bahnstation. Da steht eine Reiterfigur davor. Das können wir leicht finden.“

Mama ist ausnahmsweise zu Hause, und sie bitten sie um Geld: "Wir wollen Zug fahren spielen." Mama denkt bei diesem Spiel an Stühle, die im Wohnzimmer hintereinander gestellt werden. So bekommen sie ein paar Groschen, blechleicht liegt das Geld in ihren Händen. Dann den schwarzen Schotterweg entlang zum Bahnhof, zwei Fahrscheine werden gelöst. Und den Rest des Tages verbringen sie auf Bahnhöfen und in Zügen. Nirgendwo ist eine Reiterstatue. Das Geld ist schon lange ausgegeben, Püppi weint und hat Hunger. "Willst du von meiner Stulle abbeißen?" fragt jemand. Lieber nicht von einem Fremden.

Irgendwann gegen Abend sind sie wieder in Hennigsdorf. Oma und Mama warten schon seit Stunden am Bahnhof. Ihre Angst entlädt sich in Wut. Hans-Peter wird mit Ohrfeigen den Schotterweg entlang getrieben. "Aber du bist doch vier Jahre älter! Du bist schon groß!" Sofort ab ins Bett! Püppi begleitet sein Schluchzen mit sanftem Rupfen. Auf dem Himmel-und-Hölle-Bild schleppen sich die Guten wie immer mühsam in den Himmel.

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In der Schule wird dazu aufgerufen, den Jungen Pionieren beizutreten. Hans-Peter ist Feuer und Flamme.

"Ich will auch so ein blaues Halstuch!" erklärt er beim Essen.

"Jetzt ist es so weit", sagt Papa. "Das wird wie bei der Hitlerjugend. Erst die Nazis und nun die Kommunisten!“

Die Eltern reden darüber, dass Hans-Peter auf die Oberschule kommt, und Püppi soll im nächsten Jahr eingeschult werden.

Im Herbst 1949 finden große Demonstrationen statt; der neue deutsche Staat wird gefeiert. Der ganze Ort muss sich auf dem Platz vor dem Bahnhof versammeln. Um sie herum brennen und blaken dicke Pechfackeln, und Fahnen flattern im Wind. Das ist schöner als die Wunderkerze zu Silvester. Nur Mama und Papa freuen sich nicht: "Dass man zu so etwas auch noch gezwungen wird!" Dann steht eines Tages der Möbelwagen vor ihrer Tür. Püppi passt auf die Möbel auf. "Was macht ihr denn mit all euren Möbeln?" fragt sie ein Nachbar.

"Sie sollen lackiert werden" erklärt sie spitzmäulig.

"Was denn, auch die Palme?" sagt der Nachbar.

Zum Abendbrot bekommt Püppi einen kleinen, weißen Bonbon, der bitter schmeckt. Sie schläft schnell danach ein. Mitten in der Nacht wird sie wach. Sie liegt in einem Boot auf dem Boden. Über ihr der Sternenhimmel. "Schlaf weiter" beruhigt ihre Mutter sie. „Wir fahren jetzt zu Onkel Rudolf und Onkel Karl nach Berlin.“

Das ist gut. Onkel Rudolf ist Cousine Angelikas Papa und Onkel Karl Cousine Ilschens Vater. Sie schläft wieder ein, hört nicht, wie nach einiger Zeit das leise Paddeln stoppt und der Motor angeworfen wird.

Vom Havelkanal nach Westen, auf die westliche Seite des Niederneuendorfer Sees. Sie sind im Westen und können bis nach Spandau, an die Scharfe Lanke in West-Berlin fahren. Sie sind in ihrem neuen Zuhause angekommen.

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Taube in der Tanne

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